[643] Tragödie (gr. tragôdia = Bockslied, benannt nach den ursprünglich in Böcke verkleideten Sängern des Chorlieds in der griechischen Tragödie,) heißt nach der griechischen Begriffsbestimmung das ernste Drama (s. d.), also das Trauer- und[643] Schauspiel, nach der neueren Definition das ernste Drama mit unglücklichem Ausgang, also nur das Trauerspiel. Die Tragödie stellt die schwersten Kämpfe der Menschheit, die gewaltigsten Leidenschaften und größten Interessen dar, alles, was Liebe und Haß, Zorn und Begeisterung erregt. Sie läßt den Menschen ein schweres Unglück erleiden, das den Zuschauer mit Furcht und Mitleid erfüllt. Aber sie bereitet durch Darstellung des Kampfes zwischen Freiheit und Notwendigkeit einen erhabenen Anblick, welcher unsere Affekte reinigt, wenn der Mensch unterliegt, das sittliche Gesetz aber siegt (Aristoteles). Die Darstellung eines solchen großen Schicksals erhebt den Menschen, wenn es ihn zermalmt (Schiller). Die Griechen ließen in der tragischen Darstellung des Kampfes der Freiheit mit dem Schicksal dem letzteren größere Macht. Vergeblich ringt bei ihnen der sittliche Charakter mit dem Geschick, ja er führt durch sein Handeln oft gerade das Verderben, das er vermeiden möchte, selbst herbei. Beispiele solcher antiker Schicksalstragödien sind Sophokles' König Ödipus und Trachinierinnen, denen vereinzelt neuere Dramen wie Shakespeares Romeo und Julia und Schillers Braut von Messina nicht allzu fernstehen. Aber schon Euripides verlegte das Schicksal mehr in das Innere der Menschenbrust, noch mehr tut dies die moderne Charaktertragödie. Hier wird das Unglück des Helden entweder durch fremde oder durch eigene Schuld herbeigeführt. Durch fremde geschieht dies, indem ihm die Selbstsucht, das Vorurteil oder gar die Bosheit anderer den Untergang bereiten (Shakespeares Othello), und er durch Schwäche dem Angriff unterliegt. Ist der Held selbst der Schuldige, so sind seine Bestrebungen entweder von Anfang an bedenklich, wie bei Shakespeares Macbeth, Goethes Tasso, Schillers Wallenstein, oder seinem berechtigen Streben tritt ein anderes nicht minder berechtigtes entgegen, wie in Shakespeares Julius Caesar.
Das Wesen des Tragischen selbst ist nicht leicht zu bestimmen. Gorgias (um 488-375) sagt: Die Tragödie ist eine Täuschung, in welcher der Tauschende gerechter ist als der, welcher die Täuschung nicht hervorgebracht hat, und der Getäuschte weiser als der, welcher sich nicht hat täuschen lassen. Platon (427-347) bezeichnete (vor Aristoteles) Furcht und Mitleid als die eigentlich tragischen Affekte, Phaedr. 268 C. Aristoteles (384-322) definiert die Tragödie (Poet. c. 6) als Nachahmung einer ernsten und in sich geschlossenen Handlung[644] von ziemlicher Länge, in verschönerter Sprache, wobei in den einzelnen Teilen (Dialog und Chorlied) verschiedene Arten der Verschönerung zur Verwendung kommen, dargestellt durch Handelnde, nicht durch Erzählung, welche durch Mitleid und Furcht die Reinigung solcher Gefühlszustände bewirkt (esti tragôdia mimêsis praxeôs spoudaias kai teleias, megethos echousês, hêdysmenô logô, chôris hekastôtôn eidôn en tois moriois, drôntôn kai ou di' apangelias, di' eleou kai phobou perainousa tên tôn toioutôn pathêmatôn katharsin. Poet. 6 p. 1449, b 24 ff.). Nicht Abtötung, sondern zeitweilige Fortschaffung der Affekte ist hiernach die Aufgabe der Tragödie. Das Tragische stellt das Ringen des Menschen mit dem gewaltigen Verhängnis anschaulich, lebendig und poetisch wahr dar. Liebe, Bewunderung, Abscheu, Haß, Furcht, Mitleid, Resignation, Befriedigung unseres Rechtsgefühls, Erhebung zum Ewigen usw. werden dadurch in uns hervorgerufen. Die Spannung, welche so aus dem Gefühl entspringt, daß wir uns gleichsam auf vulkanischem Boden befinden, hat etwas Anregendes. Von allen diesen Affekten, welche die Tragödie, im Zuschauer erweckt, wird er zugleich gereinigt: er wird vom Einzelschicksal zum Schicksal der Welt, vom Helden zu sich selbst geführt. Indem jener durch seine oder fremde Schuld untergeht, wird die sittliche Weltordnung, indem er siegt, der sittliche Charakter gefeiert. Vgl. Drama. F. Schiller, Über tragische Kunst. Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen. 1790. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung. II, 490f. Rob. Zimmermann, Über das Tragische. Wien 1866. R. v. Gottschall, Poetik. 6. Aufl. Lpz. 1893. F. Lipps, Wesen der Tragödie. 1892. G. Freytag, Technik des Dramas. 6. Aufl. 1890.