unendlich

[661] unendlich (infinitus) nennt man dasjenige, was nach Zahl, Raum, Zeit, Bewegung oder Masse ohne Schranken ist. Es ist, wie Kant (1724-1804) sagt, ein Quantum, dessen Größe sich durch keine vollendete Synthesis seiner Teile messen läßt, oder eine Größe, deren Verhältnis zu einer jeden beliebig anzunehmenden Einheit sich durch keine Zahl adäquat bestimmen und ausdrücken läßt. Unendlich sind Dinge nicht an sich, sondern nur dem Begriffe nach, sofern sie in einer abgeschlossenen und fertigen Konstruktion nicht zusammengefaßt werden können. Kann zu einer Größe immer noch etwas hinzugedacht werden, so entsteht das unendlich Große (das Zeichen ¥ rührt von dem englischen Mathematiker Wallis [1616-1703] her, der es 1655 einführte), kann stets noch etwas fortgedacht werden, das unendlich Kleine (e). Das Unendliche ist nie in der Anschauung fertig, sondern nur im Begriff als Aufgabe gegeben und besteht in der Idee der Möglichkeit einer unbeschränkten Wiederholung eines Vorganges. Der Begriff des Unendlichen wurzelt zunächst in der Zahlenreihe, bei der ein Abschluß nicht zu finden ist. Es ergibt sich sodann, bei der Entwicklung der Zeitvorstellung. Unsere Phantasie bildet z.B. vor- und rückwärts, in die Zukunft wie in die Vergangenheit eine unendliche Zeitreihe, aus welcher sich die Ewigkeit als ein Schema, welches das Nacheinander in eine Anschauung zu bringen sucht, entwickelt. Auf drei Arten pflegt man sich die Ewigkeit vorzustellen: als stetige Gegenwart (als nunc stans), als leere unendliche Zeitfolge oder als endlich volle, aber unendlich rekurrente Zeitreihe. Die erste Vorstellung finden wir[661] bei den Neuplatonikern und Scholastikern, bei Descartes (1596-1650) und Spinoza (1632-1677), ja selbst Kant (1724-1804) bezeichnet die Ewigkeit als das Ende aller Zeit. Die letzte Art der Vorstellung finden wir bei den meisten alten Völkern, während die zweite z.B. von Leibniz (1646 bis 1716) vertreten wird, der die Ewigkeit als etwas Objektives, die endliche Zeit hingegen als eine subjektive Vorstellung ansieht. An die Vorstellung der unendlichen Zeitreihe schließt sich leicht die des unendlichen Raumes, obgleich diese noch unvollziehbarer ist als jene, weil wir nach drei Dimensionen zu gehen haben und selber dadurch den Eindruck des Grenzenlosen zerstören. Daher greift die Phantasie gern zur unendlichen Zeitreihe zurück und hält denjenigen Raum für unendlich, den auszumessen eine unendliche Zeit nötig sein würde. Schon Hobbes und Locke haben darauf hingewiesen, daß wir eigentlich gar keine Vorstellung des unendlichen Raumes, sondern nur einen Begriff der Unendlichkeit des Raumes besitzen. Vgl. Raum. Übrigens ist ein Regreß ins Unendliche (in infinitum) (s. d.) wohl zu unterscheiden von einem solchen ins Unbestimmte (in indefinitum). In der Philosophie ist oft Unendliches und Absolutes verwechselt worden. So stellt Hegel (1770-1831) der gewöhnlichen »schlechten Unendlichkeit« die wahre gegenüber, wonach der Begriff als das allein Reale in sich selbst seine eigene Negation erzeuge, in sein Gegenteil umschlage und somit seine Endlichkeit aufhebe. Aristoteles (384-322) definiert das Unendliche (Unbegrenzte, apeiron) als dasjenige, was der Größe nach nicht bestimmt werden kann, was nie fertig und ganz ist, was sich nicht, so begrenzen läßt, daß nicht immer ein Teil davon außerhalb läge (Phys. III, 6 p. 207a 1: hou aei ti exô esti, tout' apeiron estin). Das Unbegrenzte ist nach Aristoteles nur ein Mögliches, aber nicht ein Wirkliches; Körper und Zahl sind nicht unendlich; die Welt ist ein Vollendetes und Ganzes. Aber die Zeit und Bewegung ist ohne Anfang und Ende, und die Zahl läßt sich ins Unendliche vermehren; das Unendliche ist also kein Fertiges, sondern nur ein Werdendes, ein Mögliches. – Descartes (1596-1650) unterschied zwischen dem Unbestimmten (indefinitum) und dem Unendlichen (infinitum). Unbestimmt nannte er dasjenige, an dem man in gewisser Beziehung keine Grenze erkennt (in quibus sub aliqua ratione finem non agnosco), unendlich dasjenige, an dem überhaupt keine Grenzen existieren (in quo nulla ex[662] parte limites inveniuntur). Locke (1632-1704) erklärt: Endlich und unendlich werden von der Seele als Besonderungen der Größe genommen und zunächst in ihrer ersten Bedeutung nur den Dingen beigelegt, welche aus Teilen bestehen und durch Abnahme oder Hinzufügung selbst des kleinsten Teiles der Verminderung oder Vergrößerung fähig sind. Wundt (geb. 1832) erklärt, daß der absolute Unendlichkeitsbegriff überhaupt nur in der Form eines von den erzeugenden Operationen völlig abstrahierenden Postulates gedacht werden kann. Vgl. Kurt Geißler, Die Grundzüge und das Wesen des Unendlichen. Leipzig 1902.

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Kirchner, Friedrich / Michaëlis, Carl: Wörterbuch der Philosophischen Grundbegriffe. Leipzig 51907, S. 661-663.
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