12. Kapitel.

Verschiedenes.

[57] »Alle Zeit

Artigkeit!«


»Erst das Geschäft und dann das Vergnügen.«

Lernet beherrschen den heftigen Willen.

Erst müßt ihr eure Pflicht erfüllen,

Dann mögt ihr auf den Spielplatz fliegen.


Was ihr heute könnt besorgen,

Verschiebt nicht auf morgen.

»Morgen, morgen, nur nicht heute,

Sagen alle faulen Leute.«


Eigensinn

Bringt keinen Gewinn.

Eigenwillig, störrisch,

Ist Geschwisterkind mit närrisch.[57]

Ein eigensinniges Kind,

Das nicht auf vernünftige Worte hört,

Gleicht dem halsstarrigen Rind,

Oder dem bockbeinigen Pferd,

Oder dem Esel mit langen Ohren,

Dem Sinnbild alberner Thoren.


Wandelt stets den geraden Pfad,

Seid ehrlich, redlich in Wort und That.

Hütet euch vor Lügen,

Vor Stehlen und Betrügen.


Lüge ist aller Laster Quelle,

Lüge stammt aus der Hölle. –

Die Sonne in wolkenloser Klarheit

Ist das Bild der lautren Wahrheit.


Selbst in verborgenster Heimlichkeit

Sollst du nichts Böses verüben.

»Die Sonne bringt es an den Tag«,

Was man im Dunkel getrieben.


Artig müssen die Kinder sein,

An jedem Ort, zu jeder Frist;

Aber besonders artig und fein,[58]

Wenn ein Besuch anwesend ist.

Da sollt ihr euch doppelt zusammennehmen,

Des größten Anstands euch befleißen.

Wie müßten sich doch die Eltern schämen

Euch vor Fremden zurechtzuweisen!


Kinder, die vorlaut und frech,

Mag niemand leiden;

Seid zurückhaltend,

Seid bescheiden.


Gewöhnt euch, ihr Kinder, an,

Zu atmen mit geschlossnem Mund.

Das ist gesund.

Die Nase ist das Atmungsorgan,

Der Mund thut seine Schuldigkeit

Mit Essen und Reden zur rechten Zeit.


Nie dürft ihr mit den Fingern bohren

In der Nase oder den Ohren.


Laut zu gähnen

Mußt du dir abgewöhnen.

Auch halte beim Gähnen die Hand vor den Mund,

Sonst thust du schlechte Erziehung kund.
[59]

Hand weg, Kind!

Von Dingen, die gefährlich sind.

Schon viele mußten hart es büßen,

Daß sie die Vorsicht unterließen.

Drum spielt nicht mit Waffen oder Feuer

Und andern Dingen, die nicht geheuer.


Mut

Im Feuerblut

Der Jugend:

Ist Tugend.

Schön ist's, für Ziele gut,

Für einen edlen Zweck,

Tapfer und keck

Kämpfen und wagen,

Nicht feige zittern und zagen.

Thöricht hingegen,

Wer tollkühn handelt und verwegen.

Lobenswert ist Courage,

Tollkühnheit aber bringt Leid und Blamage.


Schreibt ihr einen Brief,

Schreibt ihn peinlich

Sauber und reinlich;

Die Zeilen seien nicht schief;

Auch sei er nicht befleckt.

Schreibt ihn in jeder Hinsicht korrekt.
[60]

Vater.


»Warum hast du den Brief nicht zur Post gebracht?


Heinrich.


»Ich habe nicht mehr daran gedacht,

Habe vergessen.«


Vater.


»Vergißt du denn auch das Spielen und Essen?«

Der Vater nahm die Rute vom Spiegel

Und gab dem Heinrich eine Tracht Prügel.


Merke:


»Ich habe vergessen« entschuldigt nicht,

Vergessen darf man nicht seine Pflicht.


Wie widerwärtig ist es, zu sehen,

Wenn Erwachsene müssen stehen,

Und Kinder sitzen bleiben daneben,

Als ob sie an ihrem Sitze kleben,

Wie Mücken an Spinngeweben.

Drum sollst du dich erheben

Schnell wie der Blitz,

Den Erwachsenen anbieten deinen Sitz.


Mädchen und Knaben

Müssen stets ihr Sacktuch im Kleide haben.
[61]

Man dreht sich zur Seite

Wenn man sich schneuzt.

Man hält die Hand vors Angesicht,

Fühlt man zum Niesen sich gereizt.


»Der Horcher an der Wand

Hört seine eigne Schand.«

Nicht schickt sich's, zu lauschen,

Noch Erlauschtes auszuplauschen.


Hat euch jemand etwas geliehen,

Gebt es zurück unversehrt,

Gebt es zurück am bestimmten Tage,

Wartet nicht, bis er's von euch begehrt.


Rachsucht, geboren aus Zank und Zwist,

Ist ein böser, verderblicher Geist.

Bedenke, wie viel edler es ist,

Wenn du deinem Gegner verzeihst.

Drum: will dich der böse Geist versuchen,

Sollst du dich nicht verleiten lassen:

»Segnet, die euch fluchen,

Thut wohl denen, die euch hassen!«

Sprach Jesus. Drum beherrsche den Trieb.

Auch der deutsche Dichter schrieb:

»Vergeben und vergessen
[62]

Ist die Rache des braven Mannes.«

Schwer kommt's dir an; indessen

Wer ernstlich will, der kann es.


Es schickt sich nicht,

Andern zu starren ins Gesicht,

Oder sie anzusehn und zu lachen,

Oder Grimassen dabei zu machen.


Wenn jemand euch anspricht,

Sollt ihr ihm aufmerksam zuhören,

Euer Angesicht

Ihm freundlich zukehren;

Nicht spielen mit einem Gegenstand,

Noch zupfen am Gewand,

Oder scheinen zerstreut,

Oder sonstwie zeigen Unaufmerksamkeit.


Enthaltet euch von zweien,

Vom Flüstern und vom Schreien,

Wenn ihr zu jemand sprecht.

Bleibt stets im Mittelgleise;

Zu laut nicht, nicht zu leise,

Denn beides macht sich schlecht.
[63]

Ist jemand in einer Arbeit vertieft,

Oder im Lesen

Oder im Nachdenken,

Sollt ihr ihn nicht durch geräuschvolles Wesen

Von seinen Gedanken ablenken,

Ihn nicht unterbrechen

Durch müßige Fragen,

Ihn nicht plagen

Mit eurem Sprechen;

Die Maschen seines Geistesgewebes

Nicht zerreißen;

Seine Gedanken

Nicht bringen zum Entgleisen.

»Never interrupt«

Der Engländer spricht;

Das heißt auf deutsch:

»Unterbrechet nicht!«


Tretet ihr ein in fremder Wohnung,

Wär's auch zu Schul- oder Spielkameraden,

Setzet euch so lange nicht,

Bis man zum Sitzen euch eingeladen.


In fremden Häusern

Müßt ihr euch besonders zurückhalten,

Da dürfet ihr weniger noch als daheim[64]

Nach eurer Neigung schalten und walten;

Nicht schreien, lärmen, singen, pfeifen,

Nicht nach den Gegenständen greifen,

Nicht Bücher aufschlagen,

Ohne zuvor um Erlaubnis zu fragen.

Kommt ein Besuch, sollet ihr euch

Zum Abschied erheben allsogleich,

Weil dritter Personen Anwesenheit

Störend ist bei Besuchen zuweilen.

Nur wenn man euch einlädt, da zu bleiben,

Möget ihr nochlänger verweilen.


Ist andern etwas zu Boden gefallen,

Flugs springe bei,

Heb es auf, hilf es suchen.

Auch gegen Fremde gefällig sei.


Anderer Leute Briefe zu öffnen,

Darf niemand sich erfrechen.

Auch Briefe der Angehörigen und Dienstboten

Dürfet ihr nicht erbrechen.


Kommt auf schmalen Wegen und Stegen

Dir ein Erwachsener entgegen,[65]

Geh nicht geradaus auf ihn zu,

Als wolltest du

Nehmen den Lauf

An ihm hinauf,

Oder dich bücken

Und zwischen seinen Beinen dich durchdrücken:

Weich ihm aus und mach ihm Bahn.

Schlecht fürwahr sieht es sich an,

Daß Erwachsene weichen den Kleinen;

In häßlichem Lichte würdest du erscheinen.


Auch Altersgenossen und Spielkameraden

Sollen in Zank nicht darüber geraten,

Wer dem andern hat auszuweichen,

Vor ihm die Segel habe zu streichen.

Enthalte dich vom Streite

Und weiche zur Seite.


Ein hochmütiger, aufgeblasener Geck begegnete einmal auf einem schmalen Trottoir einem schlichten Arbeitsmann. »Ich weiche keinem Esel aus!« sagte der Geck. »Aber ich«, versetzte rasch der andere und wich zur Seite.
[66]

Den geschlossenen Schirm oder Stock

Stoß nicht aufs Pflaster bei jedem Schritt;

Auch sollst du nicht in der Luft herum

Fuchteln damit,

Auch wagrecht ihn nicht trage;

Trag ihn frei,

Daß er zur Plage

Keinem Passanten sei.


Nicht schickt es in Gesellschaft sich,

Daß miteinander kichern die Kinder.

Mürrisch und verdrießlich zu sein

Ist unpassend nicht minder.


Wenn einem Erwachsenen ein Schnitzer passiert,

Wenn er falsch ausspricht ein fremdes Wort,

Gegen die Grammatik verstößt, und so fort:

Nicht paßt es, daß ihn ein Kind korrigiert.

Noch weniger dürfet ihr wagen,

Ein Gelächter anzuschlagen.

Denket daran,

Wenn man euch fühlt' auf den Zahn:

Wie viel Irrtum und Wahn,

Die viel Unwissenheit

Und Finsternis!
[67]

Wie manchen großen und kleinen Riß

Hat selbst der Weisesten Bildungskleid.

Niemals auch das Wort vergeßt:

»Errare humanum est.«

»Irren ist menschlich« auf deutsch dies heißt;

Irren kann auch der feinste Geist.
[68]

Quelle:
Adelfels, Marie von: Des Kindes Anstandsbuch. Stuttgart [1894], S. 57-69.
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