7. Brief.

[44] Ich fahre fort, lieber Wilhelm, Dir die Mittel anzuzeigen, durch welche Du zur Höflichkeit und zum Anstande gelangen kannst.

Das zweyte, eben so nothwendige als unfehlbare ist: Bilde Dein Herz immer mehr zur Rechtschaffenheit, zum Wohlwolken und zur Achtung gegen Andere, und zur Bescheidenheit, und verwahre es vor Selbstsucht, vor eitelm Stolze. Die Höflichkeit ist der Ausdruck von Gutherzigkeit, von Menschenschätzung und Menschenliebe und besonders von jener, zwischen Hochmuth und Niederträchtigkeit, zwischen Anmaßung und Blödigkeit [44] gleich weit entfernten, edeln Bescheidenheit, dieser liebenswürdigsten, gefälligsten und einnehmendsten aller geselligen Tugenden, diesem untrüglichen Kennzeichen eines richtigen, seinen praktischen Verstandes und des wahren Verdienstes, und diesem sichersten, untrüglichen Mittel unter Menschen zu gefallen, welche alle mehr oder weniger Eigenliebe und Stolz haben, welche alle gerne sich über einander erheben, alles gerne tadeln, auch das, was sie bewundern, zu verkleinern und Fehler und Mängel an dem, was sie hochschätzen, aufzufinden suchen.

Diese Gesinnungen sind die Quelle der wahren aufrichtigen, sich immer gleichbleibenden Höflichkeit, die ganz unfehlbar die Achtung und Zuneigung Anderer hervorbringt. Jene falsche Höflichkeit, die aus dieser Quelle nicht fließt, wird diese Wirkung auf die Länge nie haben, sie wird unnatürlich, ungleich, veränderlich seyn und bald verdächtig werden. So ist die eigennützige, kriechende Höflichkeit des Heuchlers, des Schmeichlers, um Andere zu betrügen und zu benutzen; so die übertriebene Höflichkeit des eingebildeten Stolzen, um Andern destomehr Höflichkeiten und [45] Huldigungen abzunöthigen; so die kalte, demüthigende Höflichkeit mancher Großen, um die Niedern in der weitesten Entfernung von sich zu erhalten.

Glaube daher ja nicht, lieber Wilhelm, daß diese falsche Höflichkeit, mit welcher freylich so Viele zu täuschen suchen, einigen Werth habe und hinreiche, oder gar die Tugenden, deren Ausdruck sie nachahmt, entbehrlich mache, und daß es genug sey, wenn man nur die Regeln dieses Ausdrucks, etwa so wie die Regeln der Tanzkunst, auswendig lerne und beobachte. Nein, die Gesinnungen wahrer Menschenschätzung und wahrer Menschenliebe müssen zum Grunde liegen, sonst hat die ganze Höflichkeit keinen Werth. Sie ist dann ein Meteor, welches einen Augenblick blendet und bald in ein verächtliches Nichts herabfällt. Ist sie aber der Abglanz jener Gesinnungen, so wird sie Dein ganzes geselliges Leben mit dem reinsten, sanftesten Lichte erleuchten und ihm einen wahren, dauernden Reiz geben. Bist Du wirklich gut und wohlwollend, so bedarfst Du keiner Verstellung, keiner Arglist, um zu gefallen; hast Du wahre Achtung gegen die [46] Menschen, so hast Du nicht nöthig, Dich weder mit verborgenem Stolze herabzulassen, noch zu kriechen; bist Du bescheiden und nachsichtig gegen Anderer Fehler, so brauchst Du nie zu schmeicheln.

Ueberhaupt, lieber Wilhelm, erwecke, nähre, verfeinere in Dir die sittlichen Gefühle. Der wahre, einzige Unterschied der Menschen bestehet in der Erziehung, in der moralischen Bildung. Diese allein macht ihren Werth und bestimmt in den verschiedenen Ständen, ohne Rücksicht auf Geburt, Reichthum, Titel, Ehrenstellen, zwey Klassen, die gebildete und die ungebildete. Der Vorzug der erstern ist allgemein anerkannt und wird immer mehr ausgezeichnet, je mehr die Vorurtheile verschwinden, und je mehr der Mensch überhaupt und das Verdienst insbesondere, es finde sich wo es wolle, und dessen wesentlicher Einfluß auf die Erhaltung und das Wohl des Staats geschätzt und hervorgesucht wird. Das vorzüglich Unterscheidende dieser Erziehung und persönlichen moralischen Ausbildung sind jene sittlichen, edeln Gefühle und Empfindungen (sentimens), welche [47] sich bey Personen von jener Klasse, in jeder Lage ihres Lebens, bey kleinen und großen Ereignissen, äußern und sie von den Personen, die diese Gefühle, diesen moralischen Takt nicht haben, im Gegentheil von kleinen, niedrigen Gesinnungen, besonders des eiteln Hochmuths, des verächtlichen Neides und Mistrauens beherrscht werden, sehr merklich unterscheiden. Jene sind überall aufmerksam, theilnehmend und interessant, diese immer nur mit sich beschäftiget, sind gegen Andere nachlässig, kalt und fade; jene wissen jeden Umstand, jede Sache wichtig, unterhaltend und angenehm zu machen, diese übersehen, oder verkehren und verderben die wichtigsten Sachen; jene haben Aufmerksamkeiten und Rücksichten, diese haben für diese so schönen geselligen Tugenden keinen Sinn; jene fühlen schnell in vielen so kleinen Verhältnissen, das Schickliche, Anständige oder Höfliche, was sich in keine Regel bringen, sondern nur empfinden läßt; diese bemerken oft in den wichtigsten Lagen nicht, was Schicklichkeit und Wohlanständigkeit erfordern. Jene, ihren edlern, erhabnen Gesinnungen überall getreu, sich immer gleich und consequent, setzen sich über alles, was Kleinigkeit ist, hinweg, sind unbesorgt, [48] ob Andere sie bemerken, hervorziehen, ihnen den gebührenden Beyfall ertheilen werden, übersehen großmüthig und schonend Anderer Unaufmerksamkeiten und Vernachlässigungen, lassen hingegen Jedem gerne Gerechtigkeit wiederfahren, sind dankbar gegen jede kleine Gefälligkeit, erweisen Dienste auf die beste Art, und erwähnen der erwiesenen nie. Diese hingegen zeigen sich überall klein, launig, veränderlich, unzuverlässig, sind misgünstig und neidisch gegen Anderer Vorzüge, verkleinern sie und alles, was sie nicht selbst haben, schieben ihr kleines Ich überall vor, sprechen immer mit Redseligkeit von sich und ihren Angelegenheiten, machen alles, was sie angehet, zu sehr wichtigen Dingen und bilden sich ein, daß Andere ihnen auch diese Wichtigkeit geben, sie kriechen furchtsam vor Höhern, sind aber höchst empfindlich, so bald Andere gegen sie in den kleinsten Dingen gefehlt haben, und geben ihren Verdruß und ihre Beschwerden zu erkennen, sie halten sich sehr leicht für zurückgesetzt und verachtet, schmollen oder brechen mit Hitze in Vorwürfe über erlittenes Unrecht, über Mangel von Achtung, Unterlassung schuldiger Ehrenbezeigung aus, sie leisten Dienste mit Härte, [49] Stolz und Prahlerey, rechnen sie hoch an und klagen immer über Verkennung ihrer Verdienste und Undankbarkeit anderer Menschen.

Mit dieser Bildung der moralischen Gefühle verbinde noch, lieber Wilhelm, die Sorge, daß Du Herr über Deine Leidenschaften und in Ordnung mit Deinen Angelegenheiten seyst. Zufriedenheit, Ruhe, Gleichheit des Gemüths, froher, heiterer Sinn, immer gute Laune, sind unentbehrliche Eigenschaften des höflichen Mannes, so wie Unzufriedenheit, Mismuth, üble Laune, eine stürmische Seele, ein zerstreuter Sinn, den Mann unfähig machen, die Vorschriften der guten Lebensart gehörig zu beobachten. Der Zufriedene und Gelassene, welcher seine geordneten und geendigten Geschäfte zu Hause gelassen hat, der vor Niemand erröthen noch zittern darf, ist mit ganzer Seele da, wo er ist, auf alles und auf Jedermann aufmerksam, mit Leichtigkeit theilnehmend, und weiß allen seinen Handlungen, Worten und Geberden, weil sie von allem Zwange frey sind, jene Unbefangenheit und Harmlosigkeit zu geben, die so sehr einnimmt und gefällt. Der Unzufriedene hingegen, der von Sorgen und ungeordneten Geschäften geplagte, [50] von Schulden belastete, von ungezügelten Leidenschaften gefolterte Mann, ist immer mit dem Geiste abwesend und nie ganz bey sich und an dem Orte, wo er sich befindet, er ist auch bey aller Gewalt, die er sich so sichtbar anthut, nicht fähig, einem Jedem und an jedem Orte das zu leisten, was er leisten soll.


[51] ** den 20. Julii 1802.


Quelle:
[Anonym]: Briefe über die Höflichkeit und den Anstand oder die feine Lebensart. Leipzig 1804, S. 44-52.
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