[60] Du wirst oft sagen hören, lieber Wilhelm, daß Menschen, Menschen sind, das heißt: schwache, fehlerhafte, unvollkommne Geschöpfe. Aus diesem sehr wahren Erfahrungssatze mußt Du Dir die in vieler Rücksicht so gute, heilsame Maxime abziehen und festsetzen, welche auch als ein vortrefliches Mittel zur wahren Höflichkeit dienen kann: Nimm die Menschen, wie sie sind.
Du wirst mit vielen und mancherley Personen von allen Ständen zu thun haben. Alle, ohne eine einzige Ausnahme, haben ihr Gutes und ihr Böses. Jeder hat seinen Glauben, seine Ueberzeugungen, [60] Einsichten und Kenntnisse, seinen Theil Wahrheiten und seinen Theil Irrthümer, seine Tugenden und Verdienste, seine Fehler, Schwachheiten und Vorurtheile, Jeder hat seine Vollkommenheiten und Unvollkommenheiten, seine Freuden und Leiden. So sind alle Menschen, so bist auch Du: dieß ist das Bild der Menschheit. Wenn Du nun in Deinem Umgange mit Andern, sie immer aus diesem Gesichtspunkte betrachtest und behandelst, (und das mußt Du, weil Du willst, daß Du so von Andern betrachtet und behandelt werdest), Jeden als ein Geschöpf, in welchem ein Gemische vom Guten und Bösen, vom. Vollkommnen und Unvollkommnen, vom Glück und Unglück ist, mit jenen milden, duldsamen, schonenden, nachsichtsvollen, theilnehmenden Gesinnungen, wenn Du ihr Gutes schätzest, liebst, hervorziehest, ihr Fehlerhaftes nicht mit Strenge tadelst, sondern immer von der besten Seite auslegest, es übersiehest, zudeckst, sie deswegen nicht geringschätzest, nicht vernachlässigest, nicht fliehest, an ihren Leiden Antheil nimmst, Dich mit ihnen in ihrer Freude freust: so führt Dich diese Gedenkungs- und Handlungsweise hin zur wahren Humanität, welche die [61] erste Grundlage der Höflichkeit ist. Diese Humanität findest Du bei allen Personen von wahrer, seiner Lebensart.
Uebst Du dieselbe fleißig, machst Du sie zu Deiner herrschenden Gedenkungsart, so wird es Dir dann nicht schwer werden, ein anderes, sehr nöthiges Mittel, zur Höflichkeit anzuwenden, welches darin bestehet, daß Du lernest, Dir gerne Zwang anthun, ein Wort, welches freylich wohl in den Ohren so mancher jungen Leute hart klingen mag, mit welchem sie sich aber doch ganz vertraut machen müssen, sobald sie in der Welt fortkommen, sich angenehm machen und selbst Zufrieden leben wollen.
So wie das häusliche Leben einer Familie, das bürgerliche an einem Orte, in einem Staate, auf keine Weise bestehen kann, ohne daß ein Mitglied gegen das andere sich Zwang anthue, auf manche Aeußerungen seiner Freyheit, seiner Rechte und Ansprüche Verzicht leiste, und sich einschränke, eben so wenig kann das blos gesellige Leben ohne wechselseitigen Zwang bestehen, sobald es anständig und angenehm seyn soll. Wenn [62] nur wenige Personen sich oft sehen, und in einer Gesellschaft, zu ihrem Vergnügen, zu ihrer Unterhaltung, manche Stunden mit einander leben, so hat ein Jeder seine Rechte und Ansprüche, seine Neigungen und Wünsche, seine Launen und Eigenheiten, seine Absichten und Hoffnungen, welche er mitbringt. Daß alle diese Dinge sehr verschiedenartig, oft einander entgegengesetzt sind, ist sehr natürlich. Wenn nun ein Jeder diese seine Eigenthümlichkeiten, ohne Zwang und Einschränkung, ohne Rücksichten, wirken lassen und geltend machen wollte, was würde daraus entstehen? Ganz unausbleiblich Verdruß, Streit, Gleichgültigkeit, Unzufriedenheit, Beleidigung; alle Mittheilungen würden aufhören, alles Angenehme verscheucht werden, man würde sich entfernen und trennen, wie dieß leider! oft der Fall ist, besonders mit öffentlichen Gesellschaften, die mit vielem Eifer und der möglichsten wechselseitigen Bereitwilligkeit zum allgemeinen Vergnügen beyzutragen, errichtet werden, in der Folge aber, wenn sie den Reiz der Neuheit verloren haben, wenn manche Mitglieder das Lästige des so nöthigen Zwanges anfangen zu fühlen, sich davon immer mehr frey machen, und unbekümmert um [63] Anderer Unterhaltung und Vergnügen, blos für sich sorgen, leer und langweilig werden, und endlich sich ganz auflösen. Das Sonderbarste hierbey ist, daß Jeder bey dieser Erscheinung anfängt zu klagen, und keiner sich die wahre Ursache davon gestehen will.
Ohne wechselseitigen Zwang ist schlechterdings keine gute Gesellschaft möglich.
Gewöhne Dich daher, lieber Wilhelm, frühezeitig an diesen Zwang, gewöhne Dich, Dich nach Andern zu richten und zu bequemen, ihren gunnschen, Neigungen, Forderungen und Gemohnheiten nachzugeben, es verstehet sich, so weit dieses Nachgeben, diese Selbstverläugnung mit den Grundsätzen Deiner Rechtschaffenheit und Deiner Ehre bestehen, kann und nicht in leidende, verächtliche Schwachheit ausartet; thue dieß mit jener Leichtigkeit und Ungezwungenheit, daß man Dir den Zwang nicht anmerke: so wird er verbindlich, so wirst Du angenehm, so hat man desto mehr Rücksichten gegen Dich; wenigstens kannst Du sie erwarten. Bringe Opfer, [64] und man wird Dir Opfer bringen, theile mit und Du wirst empfangen, gib Genuß, und Du wirst genießen.
Das sich Zwang anthun, oder, wie man gemeiniglich sagt, sich geniren, ist ein ganz untrügliches Merkmal, ob Personen eine gute Erziehung gehabt haben oder nicht. Erstern wird es gar nicht schwer, sich in jede Lage leicht zu fügen, ihre Lieblingsneigungen und Gewohnheiten ohne Schwierigkeiten Andern aufzuopfern; letztere hingegen fliehen jede Gesellschaft, jeden Ort, wo sie dergleichen Opfer bringen, wo sie sich geniren müssen; oder wenn sie dieß nicht können oder dürfen, so siehet man ihnen den Verdruß, die Unbehaglichkeit an, wenn sie, zum Beyspiel, sich mit Damen, mit Höhern unterhalten, ein Spiel stille und anständig spielen, eine Stunde stehen sollen u. s. w. Sie suchen lieber die Gesellschaften, wo sie sich nicht geniren dürfen, wo sie sich gehen lassen, sich ihrer Trägheit, Fahrlässigkeit, ihrem ungebildeten Tone, ihren übeln Sitten und geliebten Angewohnheiten, ganz ohne Zwang überlassen können; und diese Gesellschaften schmeicheln zugleich [65] ihrer Eitelkeit, weil sie die ersten darin sind. Solche Gesellschaften sind für junge Leute gefährlicher, als sie glauben; sie kommen in ihrer Bildung nicht nur nicht vorwärts, sondern ganz zurück, und nehmen einen schlechten Ton an, der sie dann nie verläßt.
Echte Gesinnungen der geselligen Tugenden, Liebe zur guten Gesellschaft, erleichtern jenen so nöthigen Zwang ungemein. Damit er Dir aber, lieber Wilhelm, nie schwer werde, so gewöhne Dir ja nichts an, was Du in den guten Gesellschaften unterlassen und gewöhne Dich hingegen frühzeitig zu Dingen, die Du dort beobachten mußt. Es gibt z.B. Leute, die keine Stunde flehen können, die immer etwas genießen müssen. Wie wollen diese in guter Gesellschaft fortkommen, wo sie mehrere Stunden flehen müssen, wo ihnen nicht jeden Augenblick etwas zu essen oder zu trinken dargeboten wird? –
[66] ** den 27. Julii 1802.