Erinnerungen und Bekenntnisse eines zum Tode Verurteilten.
(Von Nr. 12. V.A.1)

Im Jahre 1871. wurde ich – erst zweiundzwanzigjährig – des Mordes überführt, vom Schwurgerichtshofe zum Tode verurteilt, zu lebenslänglichem Zuchthause begnadigt und nachdem ich fünfundzwanzig lange Jahre nur eine Nummer und keinen Namen getragen, fünfundzwanzig Jahre lang mit »Du« angeredet worden, durch die Güte des Landesherren der Freiheit wiedergegeben, weil ich mich in der Strafanstalt vorzüglich geführt und meine unselige, durch wahnsinnige Eifersucht verursachte Tat – ich lauerte meinem Nebenbuhler auf und schoß ihn kalten Blutes nieder – den Geistlichen gegenüber lebhaft bereut hatte.

Daß ich mit allen zum Tode Verurteilten ein gewisses Mitleid empfinde, ist bei einem Manne erklärlich, der vom Tage der Verurteilung an bis zu seiner Begnadigung Tag und Nacht nur die eine Frage ans Schicksal stellte: »Wird dir der Scharfrichter den Kopf abschlagen?« – Mit größtem Interesse habe ich das gelesen, was in letzter Zeit gegen die Todesstrafe geschrieben wurde, und ich gestehe offen, der Staat ist viel grausamer gegen den Mörder, als dieser gegen sein Opfer. Stafforst und Groß, deren Tat himmelweit von der meinen verschieden ist und ihr nur insofern gleicht, als auch sie mit ruhiger Überlegung gehandelt, schlugen den unglücklichen Lichtenstein einfach nieder, sie bereiteten ihm kaum nennenswerte körperliche Qualen, während beide jetzt eine furchtbare seelische Folter erdulden müssen. Können Sie sich einen Begriff davon machen, was das heißt, in der Zwangsjacke stecken, keinerlei geistige oder körperliche Beschäftigung haben, stets das Schaffot vor sich sehen, bei jedem Schließen der Türe zitternd auffahren, und jeden Schlag der Anstaltsuhr wochenlang bei Tag und Nacht einzeln vernehmen?

Bringt man es wirklich fertig, in Schlummer zu verfallen, auf einige Minuten das drohende Schicksal zu vergessen, so fährt man bald in Schweiß gebadet wieder auf. Hat nicht das Schloß geknarrt, ist nicht der Anstaltsdirektor eingetreten, um dir zu verkünden, daß morgen um 6 Uhr deine Hinrichtung stattfinde, da der Landesherr [197] von dem Rechte der Gnade nicht Gebrauch gemacht habe? – – Nein! – Es war nur ein wüster Traum. Du darfst dein Leben noch fristen, der höchste Gerichtshof hat ja noch nicht gesprochen, noch sitzt dein Kopf fest. Aber wie lange noch? Noch acht Tage, und das Appellationsgericht, welches über deine Berufung zu entscheiden hat, fällt sein Urteil. Es ist ja kein Zweifel, daß es zu deinen Ungunsten ausfällt, du hast ja nur appelliert, um die Sonne noch ein paar Wochen länger zu sehen – – und dies Urteil ist sofort rechtskräftig. Aber die Gnade des Landesherrn! Unsicherer Faktor! Damit kann man nicht rechnen! Der Landesherr begnadigt nur, wenn der Staatsanwalt dich seiner Gnade empfiehlt. Wird er das tun?

Wie oft habe ich die Frage an meinen Wärter gerichtet: »Meinen Sie, daß ich auf Gnade zu rechnen habe?« Und wie regelmäßig hat er mir, um mich zu trösten, gegen seine eigene Überzeugung erwidert: »Sicherlich!« Ich fühlte es, daß er selbst nicht daran glaubte. Ich hatte meinem Opfer stundenlang aufgelauert, es niedergeschossen, wie ein Stück Vieh, also, wie der Staatsanwalt in seinem Plaidoyer sagte, »mit geradezu zynischer Überlegung gehandelt!« Und doch hatte ich das Gefühl, daß ich kein Mörder sei, daß ich nicht verdiene, auf den Richtblock geschnallt und mit dem Beile vom Leben zum Tode gebracht zu werden. Mit Überlegung hatte ich gehandelt. Gewiß! Warum hatte ich meinen Nebenbuhler nicht auf Pistolen gefordert, ihn niedergeknallt? Ich wäre dann nicht zum Tode verurteilt, zu einigen Jahren Festung kondemniert und in die Reihe der »Kavaliere« aufgenommen worden. Vielleicht wäre mein Name sogar mit Ehren in jenen Zeitungen genannt worden, die mich einen infamen Mörder schimpften. Auf dem Lande duelliert man sich nicht, dort herrscht das abgekürzte Verfahren: Auge um Auge, Zahn um Zahn.

Dem Appellationsgerichtstermin zitterte und bebte ich entgegen. Es war die letzte Station vor dem Richtplatze. Jede Minute danach konnte der Direktor eintreten und mir mitteilen, daß ich nichts mehr zu hoffen habe, aber einen letzten Wunsch äußern dürfe, der mir – falls es im Bereich der Möglichkeit liege – gewährt würde. Ich war kein Mensch mehr, nur noch ein Stück Angst und Unglück. Das Essen berührte ich nicht, ich war ein Skelett, das sich kaum aufrecht hielt. Wenn mich die Wut über die zugefügten Folterqualen übermannte, erklärte ich meinem Wärter, daß mich der Staat nur speise und tränke und dafür sorge, daß ich mir kein Leid zuzufügen vermöge, damit ich bei der »Vorstellung«, die ohne mich hätte abgesagt[198] werden müssen, nicht fehle. Man füttere mich ganz wie im Altertum für den Zirkus.

Als meine Appellation verworfen worden war, ließ die ungeheure Nervenspannung nach. Ich hatte Tränen. Sie wirkten kalmierend. Es machte sich ein Zustand so ungeheurer »Wurstigkeit« bei mir geltend, daß ich sogar einige Stunden zu schlafen vermochte. Fortgesetzt beschäftigte ich mich jetzt mit dem Jenseits. Mein Wärter, ein Freidenker, erklärte mir, nach dem Tode sei alles, alles aus: »Machen Sie sich darüber keine Sorgen! Hoffentlich sind Sie nicht so dumm, an eine Hölle zu glauben!«

Schlimmer als die körperliche und geistige Hölle, in der ich mich jetzt befand, konnte diese Hölle der Bibel nicht sein. Wie lange sollte sie noch dauern? Wie lange mästete mich der Staat zugunsten der Abschreckungstheorie noch für den Zirkus? Mein Rechtsanwalt kam und sprach mir Trost zu. Es war mir, als glaube auch er nicht an die Wirkung meines Gnadengesuches, und ich schloß – um mit dem Präsidenten des Schwurgerichtshofes, der Stafforst und Groß zum Tode verurteilt, zu reden – meine Rechnung auf Erden ab. Meine Angst und Zaghaftigkeit begannen sich zu verlieren, ich wurde trotzig und ärgerte den Anstaltsgeistlichen durch meinen Hohn über die Humanität des 19. Jahrhunderts, mit meinen Bemerkungen über die Gesellschaft von Dahomey, die mich mäste, um mich zu verspeisen.

Manchmal befiel mich wieder der ganze Schrecken meiner Situation, und ich fluche der Menschheit, die mich tausendfach hinrichtete, während ich mein Opfer durch einen wohlgezielten Schuß von der Erde nahm. Die sechs Wochen nach der ersten Verurteilung hatten – das fühlte ich mit elementarer Gewalt – das Verbrechen gesühnt; wer das erduldet hatte, was ich erduldete, dem mußte selbst der barmherzige Gott der Christen vergeben.

Wieder einmal war es acht Uhr abends geworden. Der fromme Gesang der Sträflinge war verstummt, und ich suchte mein Schmerzenslager auf. Gerade fing ich an, in den Schlaf hinüberzudämmern, als sich der Schlüssel im Schloß drehte, der Gefängnisdirektor eintrat und hinter ihm zwei Beamte. – – Ich fühlte, daß ich aschfahl im Gesichte wurde. Ein Zittern überlief meinen Körper. Endlich! Morgen früh um sechs. – –

»Bleiben Sie nur liegen,« sagte der Direktor, »ich will Sie nicht unnötig lang auf die Folter spannen, Seine Majestät, unser allergnädigster König, hat Ihnen das Leben geschenkt. Sie sind zu lebenslänglichem Zuchthause begnadigt!«

Ich war unfähig ein Wort herauszubringen.

[199] »Versprechen Sie mir,« fuhr der gutmütige Mann fort, »daß Sie sich kein Leid zufügen, dann lasse ich Ihnen die Fesseln abnehmen, und Sie dürfen mit dem Beamten noch eine halbe Stunde im Hofe spazieren gehen. Die Zelle wird Ihnen jetzt zu enge sein.«

Ich gelobte feierlich, daß ich nicht Selbstmord begehen werde, schlüpfte in meine Kleider, küßte dem Direktor die Hand und ging mit dem Beamten ins Freie. Ich sage nicht zu viel, wenn ich behaupte, daß ich mir wie neugeboren vorkam.

Meine Strafe verbüßte ich in verschiedenen Zuchthäusern. 1885 saß ich in Welheiden, just zu der Zeit, als dort Julius Lieske aus Zossen hin gerichtet wurde. Ich hörte das Schaffort zimmern, ich hätte, wenn ich auf den Tisch stieg, die Hinrichtung mit ansehen können, aber ich vermochte es nicht. Meine eigene Leidenszeit haftete mir zu fest und furchtbar im Gedächtnis. Sie mir vergegenwärtigend, fragte ich, was wird von Stafforst und Groß Menschliches noch übrig sein, wenn sie ihre Zellen verlassen und den letzten Gang antreten? Zwei lebendige Leichen, zwei gebrochene Menschen, an denen die Humanität des 20. Jahrhunderts ihren Kulturfortschritt öffentlich dokumentieren will.

Als mir im Jahre .... die Gnade des Enkels jenes Kaisers, der mir das Leben schenkte, die Freiheit wiedergab, machte diese Güte zwar einen tiefen Eindruck auf mich, aber er war doch nicht nachhaltig genug, um der Zivilisation des 19. Jahrhunderts, die mich sechs Wochen zwischen Leben und Tod zittern ließ, zu verzeihen. Die Todesstrafe ist eine Brutalität, eine zwecklose Marter; denn sie wird Verbrechen wider das menschliche Leben nie verhindern können. –[200]

1

12. V.A. von W., ehelich geboren 1864, prot., lediger Kaufmann. Vorstrafen: 2mal Gefängnis (3 und 7 Tage) wegen Unfugs und Beleidigung. Wegen Mords zum Tode verurteilt, durch allerhöchste Gnade zur lebenslänglichen Zuchthausstrafe begnadigt und nach 25jähriger Strafzeit im Gnadenwege entlassen. Führung sehr gut. Nicht tätowiert.

Quelle:
Jaeger, Johannes: Hinter Kerkermauern. Berlin 1906, S. 12-13,197-201.
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