Fragment aus dem Leben eines »Rückfälligen«.
(Von Nr. 11. K.G.1)

Begreifen die meisten Menschen nicht, wie Leute, welche das Zuchthaus jahrelang durchgekostet haben, diesen Ort, dessen Namen schon Schauder erregt – wieder rückfällig werden mögen, die goldene Freiheit, dieses köstliche Gut, um schnöden Mammons willen wieder aufs Spiel setzen können, so begriff ich nach meiner erstmaligen Entlassung aus dem Zuchthaus noch viel weniger die Meinung der Leute, nichts sei einfacher und leichter, als wiederum ein ordentlicher Mensch zu werden. Das gerade Gegenteil dieser Ansicht mußte ich schon im Zuchthaus erfahren. Als »Erstmaliger« hatte [195] ich nach § 23 des R. St. G.B. das Recht, bei guter Führung nach erstandener 3/4-Zeit meine vorläufige Entlassung beantragen zu können. Meine Führung war tadellos; es fehlte also nur noch die Erfüllung der Vorbedingung zur Entlassung: ein mich auf die Dauer von sechs Monaten – soviel betrug das Viertel meiner Strafzeit – beschäftigender Arbeitgeber. Die Aufbringung desselben schien mir gewiß, war ich doch noch ein ganz junger Mensch, und mit dessen erstem Fehler wird man doch nicht so strenge »ins Gericht gehen«, kalkulierte ich; meine Vaterstadt hatte Arbeitgeber genug. Der Arbeitgeber sollte aufgebracht werden, ich und meine Anverwandten bemühten uns eifrig – ohne Erfolg! In der ganzen Stadt fand sich keiner, auch nicht unter Leuten, deren Bildungsgrad ihnen unbedingt sagen mußte, was für den jungen Züchtling hierbei auf dem Spiele stand. Die Bitterkeit übermannt mich heute nach vielen Jahren noch, wenn ich an diese Engherzigkeit der Heimatsgemeinde denke, dank welcher ich zum unverbesserlichen Verbrecher wurde. Ich mußte meine ganze Strafzeit verbüßen; – »ein ordentlicher Spitzbub macht seine ganze Zeit«, sagten, bezw. »trösteten« mich die »Alten« damals. In der Heimat wurde mir nicht das geringste Vertrauen entgegengebracht, und so war ich gezwungen, sie mit der Fremde zu vertauschen. Ich kam auf die Landstraße. Was dieser einfache Satz eigentlich für eine Bedeutung hat, wissen nicht viele Menschen. Mit Stromern und Landstreichern in Herbergen und Spelunken in innigste Berührung kommend, war ich bald dasselbe laut Satz, daß jede Umgebung eine Ursache ist, deren Einwirkung auf uns in genauem Verhältnis zu unserer Beziehung mit ihr steht. Ich war entlassener Züchtling, als ich die Landstraße betrat, aber ich war verhältnismäßig noch ein Ehrenmann gegen das physisch und moralisch total verkommene Geschmeiß der Landstraße, diese Schmarotzer am Körper der Allgemeinheit, und die Engherzigkeit der K.-Spießbürger war eigentlich schuld, daß auch ich solch' Schmarotzer wurde.

Das Leben dieser Art ekelte mich schließlich doch an; ich schwang mich aus dem tiefsten Sumpf moralischer Verkommenheit wieder eine Stufe höher, d.h., ich betrat wiederum die Verbrecherlaufbahn. Dieser Wechsel geht nun schon seit einer Reihe von Jahren seinen regelmäßigen Gang: Verbrecher, Strolch, Verbrecher, Strolch – dank jener Engherzigkeit des Spießbürgergeistes. Hätte irgend eine Art Rettungsverein sich damals des reumütigen jungen Burschen angenommen, so wäre jetzt nicht ein ganzes Menschenleben verfehlt!

Warum ich selbst mich nicht gänzlich aus dem Sumpfe heraushebe? [196] Weil ich alles verloren, was den Menschen zum Menschen erhebt, und mir infolge dessen die Art meines Daseins gleichgültig geworden ist. Eine traurige Philosophie – nicht? Ja, aber noch trauriger, wenn ich dieselbe nicht hätte und dann verzweifeln müßte. –[197]

1

11. K.G. aus K., ehelich geboren 1863, kathol., lediger Fabrikarbeiter. Seine Eltern waren arme Eisenbahnarbeiterleute. Er genoß Volksschulbildung und besuchte die erste Lateinklasse seiner Vaterstadt durch einige Monate; sonst erhielt er keinen Unterricht. Er hat Deutschland, England, Holland, Belgien, Frankreich, die Schweiz und einen Teil Nordamerikas bereist, sprach englisch und französisch vollkommen, holländisch etwas. Sein Strafbogen enthält 31 Eintragungen ob Diebstahls, Bettels, Landstreicherei, Betrugs, Legitimationspapierfälschung usw. (zusammen 5 Jahre Zuchthaus, 3 Jahre Gefängnis, 1 Jahr 4 Monate Arbeitshaus). Er verstarb an Tuberkulose im Jahre 1902. Führung gut. –

Quelle:
Jaeger, Johannes: Hinter Kerkermauern. Berlin 1906, S. 12-13,195-198.
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