[119] In dieses Reich der Feldmütze trat ich an dem Tage ein, wo ich dem Feldwebel der 12. Kompanie als unsicherer Heerespflichtiger ausgeliefert ward.
Nach meiner Einkleidung mußte ich dem Vorgesetzten meine sämtlichen Papiere und Briefschaften unterbreiten. Ich wurde sofort, bei Androhung von Schemelstrecken, gezwungen, die Adressen meiner Freunde, Arbeitgeber, Verwandten und Hauswirte anzugeben. Da ich befürchtete, den Leuten Unannehmlichkeiten zu verursachen, beschränkte ich mich auf die Namen meines Hauswirtes, zweier Gastwirte und des letzten Arbeitgebers.[119]
Ein Gefreiter ward zu den Leuten geschickt, um Erkundigungen einzuziehen. Etwas Besonderes wird dabei kaum herausgekommen sein, denn man ließ mich über den Punkt ruhig. Einige Tage nachher lief ein Brief für mich ein; er wurde ohne weiteres von dem Feldwebel erbrochen und gelesen. Spätere Briefe mußte ich in seiner Gegenwart öffnen und ihm zur Durchsicht aushändigen.
Das mir angewiesene Spind hatte bis dahin der Kompanie als Petroleumschrank gedient. Bei der ersten Kasernen- und Spindrevision durch den Hauptmann bezeichnete mich dieser als einen liederlich verkommenen Menschen; sogar mein Spind stinke. Auf diese Bemerkung fand ich den Mut, zu erwidern, das Stinken sei nicht meine Schuld und der Petroleumdunst mache sogar mein Brot ungenießbar. Da fuhr er mich an: »Halten Sie den Mund. Sie haben hier gar nichts zu sagen. Ich werde Sie bis in die Erde beugen. Sie sollen mir aus der Hand fressen lernen.«
Diese Worte des Hauptmanns verursachten mir tiefes Weh. Ich hatte mein Spind am ersten Sonntagnachmittag mit Seife und Sand verzweifelt gescheuert. Vergebens. Die ungerechten Drohungen nagelten mich an den Unglücksschrank fest; ich wagte mich kaum zu rühren, als bereits der Hauptmann mit seinem Gefolge das Zimmer verlassen hatte.
Mein Stubenältester machte mir keinen Vorwurf; aber ein Mensch, der nicht das Glück hat, bei seinem Hauptmann in Gunst zu stehen, wird besser gemieden.
Nach einer Woche ward ich auf den Degen des Adjutanten vereidigt. Ich mußte dabei eine lange Formel mit mehreren Kriegsartikeln fließend hersprechen. Ein solcher Treueid war unter solchen Umständen kaum etwas anderes als eine Vergewaltigung. Auch hat er heute bei der durch Gesetz geregelten allgemeinen Wehrpflicht seinen ursprünglichen Charakter eingebüßt und legt einen unnützen Gewissenszwang auf. Daneben wird er zur Quelle vieler ungerechten, manchmal schweren Strafen und ein gefährliches Werkzeug in den Händen der Bosheit.[120]
Meine Vereidigung machte mich regelrecht zum preußischen Rekruten. Für drei Jahre mindestens ward ich damit meinen Vorgesetzten ausgeliefert, die bereits die ersten Tage dazu benutzt hatten, mir anzudeuten, was ich von ihnen zu erwarten hätte. Mit diesen für mein Schicksal so gewichtigen Persönlichkeiten will ich nun bekannt machen und dabei die Erfahrungen nutzen, die ich während meiner ganzen Dienstzeit an ihnen gewann.
Ehre, wem Ehre gebührt! Guten Morgen, Herr Hauptmann!
Hauptmann Syher, ein bürgerlicher Offizier, hatte den Krieg von 1870–1871 als Fähnrich mitgemacht und zählte mit seinen 40 Jahren zu den ältesten Offizieren des Regiments, seinem Strebeeifer war die Befähigung bei weitem nicht gewachsen. Im Dienst gab er sich unnahbar, launisch, ungerecht, ja tyrannisch; dabei hatte er Anwandlungen von Empfindsamkeit, die unnatürlich und widerlich anmuteten. Er lag fast immer in der Kaserne und legte trotzdem einen großen Teil der Gewalt ausschließlich in die Hände des Feldwebels. Was ihm gemeldet wurde, ward ohne jede weitere Untersuchung blindlings bestraft. Ein schön gewachsener Soldat mit entsprechendem Gesicht blieb leichter verschont. Die »Krummen« wurden dafür doppelt mißhandelt und mußten sich besonders an der Leiter einem nachdrücklichen Strafverfahren unterwerfen.
Über dem Exerzieren in größeren Verbänden, bei Paraden und Truppenvorstellungen, verlor Syher leicht die Ruhe und verrannte sich in den verschiedenen Teilen der »Evolutionen«. Dabei machte er die Soldaten von Anfang an durch Strafandrohungen unsicher, statt sie durch Inaussichtstellung kleiner Vergünstigungen mit Schneid zu rüsten.
Ein schlechter Reiter, fiel er oft vom Pferd; er konnte mit seinen Zwergbeinen den Gaul eben nicht recht umklammern.
Auf sein Äußeres achtete er nicht allzu sehr. Er kam oft mit zerzaustem, zerzotteltem Backenbart zur Kaserne geritten.[121] Sein Gruß: »Guten Morgen, 12. Kompanie« ward als schlimmes Vorzeichen entgegengenommen. Höchstens die Hälfte erwiderte den Gruß. Um sich einen volleren Gegengruß zu erzwingen, grüßte er dann wohl zum zweitenmal und sah auf die Mäuler. Die Mäuler klappten, wie auf Kommando, weit auf, die entsprechenden Muskelbewegungen wurden ausgeführt, aber kein Laut ward hörbar. Wütend über solche Schindluderei, sprang er vom Pferd, lief, um die »miserablen Heuchler« zu fassen, die Front entlang und schrie wenigstens ein dutzendmal rasch hintereinander sein »Guten Morgen, 12. Kompanie!«, ohne aber erst die Wirkung des einzelnen Grußes abzuwarten.
Er verspürte sogar höhere Anwandlungen. Zu Hause spazierte er gerne, nach den Aussagen seines Burschen, vor dem Spiegel in Majors uniform und liebäugelte sich an. Auch ein Gedicht hatte er gemacht. So schön wie der Sang an Ägir war es freilich nicht, aber es sollte in unserer Kompanie als Soldatenlied eingeübt werden, um dann seinen Siegeszug durch sämtliche Kasernen des Reiches anzutreten. In seinem Feldwebel Reiber fand der Dichterhauptmann den kongenialen Vertoner. Beide schwelgten schon in Unsterblichkeitsvorgefühlen, als das Lied, wenn auch noch nicht in den Musikalienhandlungen erhältlich, im bescheidenen Kreis von den Sängern der Kompanie geprobt ward. Über zwölf Jahre verfolgte mich der Duft dieser Sangesblüte, und ich will wenigstens die Anfangsverse hierher setzen, damit ein beseligendes Ahnen auch das Herz meines Lesers durchzittere.
Herr Syher, Hauptmann und Dichter, singt:
»Nach Beaumont hin marschierten wir,
und mußten tüchtig laufen;
zu fressen hatten wir gar nichts mehr,
noch weniger zu saufen.
Der Dreck war bis an die Kniee hoch,
die Franzosen waren beim Kochen;
wir Preußen kamen an ein Loch
und schossen auf ihre Knochen.«
[122]
Komponist Feldwebel Reiber hatte Pech. Sein Tongedicht gefiel dem Hauptmann nicht auf die Dauer. Beide suchten nun eine bekannte Melodie ausfindig zu machen als passende Unterlage. Endlich gelang es ihnen, den hauptmännischen Musenbankert in ein Stück Windel von »Lott ist tot« und in einen zweiten Fetzen aus »Du bist verrückt mein Kind« fein sorgsam einzuwickeln.
Diesem dichtenden Gemütsmenschen machte es großen Spaß, wenn sich seine Soldaten im Takte die Augen bleuten und rhythmisch die Nasen zerschlugen. In seiner Kompanie vor allem tagten die verruchten Femgerichte. Da wurde häufig die ganze Korporalschaft gestraft, mit dem Hinweis, sie hätten es dem und dem Soldaten zu verdanken. Nachts überfielen dann die Unmenschen den ihrer Wut Ausgelieferten und hieben auf ihn ein, daß er mehr als einmal unter den Schlägen zusammenbrach. Ich habe gesehen, wie so ein zerprügeltes Opfer halbnackt durch den Korridor hinunter durch das Haupttor auf die Straße lief, wo der Mann vor Erschöpfung aufs Pflaster stürzte.
Natürlich war auch keine Kompanie schäbiger gekleidet und schlechter genährt als die 12. Wir machten Reime auf diese Schweinerei und sangen sie nach der Weise: »Unser Hauptmann, der ist gut!« dem Syher ins Ohr, wenn er auf Märschen neben uns her ritt. Vor Wut lief dann das Gesicht blau an, und er spornte sein Pferd, daß er nur das fatale Lied nicht immer in den Ohren hätte.
Während eines Manövers stürzte er vom Gaul und blieb besinnungslos liegen. Er hatte eben den Mund aufgerissen, um so und soviel Tage Arrest zu diktieren. Noch hatte er das letzte Wort nicht ausgesprochen, plumps, lag er da und war stumm. Die Kompanie begrüßte seinen Fall mit Befriedigung. Ich hörte Worte wie: »Dem geschieht sein Recht! So einer soll krepieren!«
Da ist unser Oberleutnant, Graf Ostorf, ein anderer Mann gewesen. In ihm einte sich Geist mit Umsicht und[123] Ruhe, Würde mit Gerechtigkeit und Menschenliebe. Er lehrte den Dienst lieb gewinnen.
Des Grafen Erscheinung allein schon war für die Soldaten eine ermutigende Wohltat. Es blieb uns ein Bedürfnis, diesem Offizier im Dienst die ganze Kraft, das volle Können entgegenzubringen.
Ihm waren Schimpfwörter unbekannt. Milder Tadel genügte. Mußte er rügen, so merkte man an der flüchtigen Röte in seinem Antlitz, wie es seinem Gefühl widerstrebte, daß sich seine Milde zum Tadel zwingen mußte. Mit Vorliebe gab er dem Tadel sogar eine allgemeine, unpersönliche Form, so daß sich die Rüge wie eine Belehrung, vom höheren Gesichtspunkte aus, anhörte. Er hielt gar nichts von Titel und Würden, verbat sich das »Herr Graf« und hätte am liebsten auch auf das »Herr Leutnant« verzichtet.
In seiner Hand war die Kompanie wie eine Zaubermaschine, die von selbst ging. Kam es einmal auf eine außergewöhnliche Leistung an, so genügte des Grafen: »Na, Kinder, zeigt, was ihr könnt!«, um Wunder zu verrichten.
Als der Hauptmann vom Pferde gestürzt war, führte der Oberleutnant mehrere Monate lang die Kompanie. Wo er konnte, erleichterte er das Los der Kompanie sowohl wie das des einzelnen.
Auch für mich fand er wohlwollende Blicke. Als er mich näher kennen gelernt hatte, beklagte er mein Geschick und bedauerte, nicht mehr für mich tun zu können. Er flößte mir unter vier Augen Mut ein und Standhaftigkeit in den Verfolgungen.
Meine Antworten während der Instruktionsstunden gefielen ihm. Ich gab sie mehr selbständig, ohne wörtliches Herplappern des Buches. Besonders freute ihn die Antwort, die ich in der Prüfungsinstruktion vor dem Brigadegeneral gefunden hatte. Die Frage lautete: »Sobald die Kugel den Lauf verlassen, welche Kräfte wirken auf dieselbe ein?« Nach dem Instruktionsbuch sind es die sich entwickelnden Pulvergase, die dem Geschosse Bewegung und[124] Richtung anweisen. Graf Ostorf hatte das gelegentlich für falsch erklärt und ausgeführt, für das Geschoß kämen, nach Verlassen des Laufes, nicht mehr die Pulvergase, sondern das Beharrungsvermögen als wirkende Kraft in Betracht; dieses Gesetz erreiche, daß ein einmal in Bewegung gesetzter Gegenstand in der ihm angewiesenen Richtung verharrte, so lange er darin nicht durch andere Einflüsse behindert werde; das treffe auch bei der Flugkraft des Geschosses zu.
Ich hatte mir diese Erklärung gemerkt und beantwortete die Frage im Sinne des Leutnants.
Das machte dem Grafen wirklichen Spaß. Einige Tage später war große Felddienstübung. Auf das Kommando: Halt! sank die Mannschaft erschöpft zur Erde. Da rief er mich zu sich, schenkte mir von seinem Wein in meinen Becher und nötigte mich, mir es neben ihm bequem zu machen. Das befremdete Erstaunen der Offiziere und Mannschaften kümmerte ihn nicht. Er wollte mich auf diese Weise belohnen für die Freude, die ihm meine aufmerksame Antwort gemacht hatte.
Leider kam Graf Ostorf schon nach anderthalb Jahren als Hauptmann nach Königsberg. Sein Fortgang wurde allgemein aufs schmerzlichste bedauert. Und kurz nachher traf die Schreckenskunde ein, der edle Mann sei vom Pferde gestürzt und zur Stelle tot geblieben.
Ich saß wieder im Arrest, als mir diese Nachricht zu Ohren kam. Ich war anfangs erstarrt. Dann kam das Grübeln: Ein Hauptmann Syher schlägt sich den Schädel ein, wird wieder heil und munter und stümpert weiter am Ebenbild Gottes herum! Und ich Unglückswurm, ich Brennessel im Menschengarten, wuchere ebenfalls fort! Er aber, der Edelmann im lautersten Sinne des Wortes, die Edelpalme geknickt! ausgelöscht! vernichtet!
Endlich löste sich mein Schmerz in Tränen und in Versen. Mit dem Dorn meiner losgelösten Hosenschnalle ritzte ich in den Kalk der schmutzigen Arrestwand folgende Trauerklage:
[125]
»O laß mich weinen, edler Graf!
Das Herz, es stürzt in Tränen.
Welch grausam Schicksal, das dich traf!
Darf ich den Schmerz erwähnen?
Du warst ein Licht in meiner Nacht,
Ein Mensch, ein edler Ritter!
Mein elend Sein – ich hätt's gebracht
Für dich im Schlachtgewitter.
Was fragtest du nach deinem Graf?
Der Mensch in dir war gräflich.
Der Mensch in mir war für dich brav
Und Menschlichkeit unsträflich.
Du Edler fielst! Brutaler Tod,
Grausam, wie mir das Leben,
Wie ungerecht dein Machtgebot!
Die Schlechten bleiben leben.
Du mähst mit deiner Sense wild
Die beste Frucht darnieder.
O Graf, mein Herzblut drängt und quillt,
Ich weine Trauerlieder .....
Doch bleibst du mir ein Heiligtum:
Im Herzen ich dich hehle –
O Graf, verachtend Grafenruhm,
Schlaf sanft, du Menschenseele!«
Es kostet mich Überwindung, aus diesen heiligsten Empfindungen meiner Seele heraus an einen Jämmerling zu erinnern, wie er sich darstellt in der Gestalt unseres zweiten Leutnants, Hugo von Zangenfeld.
Er war im Grunde seiner Seele nicht schlecht, aber ohne sittlichen Halt. Schimpfworte teilte er nicht aus, um so mehr Ohrfeigen. Erschien er zur Instruktion, so schlug er, gleich beim Eintritt, drei, vier Mann nur so an den Kopf, ohne zu wissen warum, oder vielmehr, um sich Ruhe zu verschaffen, denn nun herrschte natürlich lautloseste Stille. Dann lehrte er unter Schrecken.[126]
Ich glaube, ich ward schon am ersten Tage geohrfeigt. Auf der Stelle verbat ich mir die Ungebühr und berief mich auf den Erlaß Seiner Majestät. Er stutzte, sah mich verwirrt an und schlug mich nie wieder.
Achtung flößte er keinem ein; er war von einer unglaublichen Unwissenheit, die durch seinen Hang zum Großtun und zum Gigerltum nur um so komischer wirkte. Er war tatsächlich so dumm, wie er lang war. Er verstand es nicht, mit einer einfachen Feldwache zu »operieren«, fand sich im Gelände nie zurecht und verlief sich im Manöver mit seinem Zug. Liederlich und verkommen, erschien er oft halbtrunken zum Dienst. Jeden Augenblick kam ein anderes Frauenzimmer nach ihm fragen.
Er wurde von den übrigen Offizieren als Schimpf und Last betrachtet. Beim Bataillonsexerzieren in Kompaniekolonnen rief ihn der Major einmal vor die Front und sagte wörtlich: »Ich suche nach einem Ausdruck und finde kein Wort, um ein Benehmen zu kennzeichnen, das eines Offiziers unwürdig ist.«
Und jetzt zur »verehrten« Mutter der Kompanie, Feldwebel Reiber!
Feldwebel Reiber ließ seine Roheit tagtäglich an einem Soldaten namens Reisen aus. »Keinen Funken Ehrgefühl hat der Kerl im Leibe! Wir werden ihn dahin bringen, wohin er gehört.« Mit solchen und ähnlichen Trostsprüchen verfolgte er den Armen minutenlang. Reisen mußte auf dem Flügel stets mit mehreren Schritten Abstand stehen. Auf der Stube ward er auf Anstiften Reibers unmenschlich durchgeprügelt. Klopfpeitschen, Feuerhaken, Besenstiele sausten auf ihn nieder. Ein Besenstiel zerbrach einmal auf seinem Rücken. Das geschah in meiner Gegenwart. Ich trat dazwischen. Da wurde mir bedeutet, ich möge das Maul halten oder die Reihe käme nächstens an mich.
Wie sehr diese Schandszenen an der Tagesordnung waren, verrät der Umstand, daß während dieser Mißhandlung andere Soldaten ruhig ihr Brot weiter aßen oder an[127] ihren Gewehren fortputzten; ja, in der einen Ecke zog damals ein Soldat in aller Gemütsheiterkeit die Harmonika weiter. Die Töne des Instrumentes mischten sich mit dem Wehklagen des armen Reisen.
Ein anderes Opfer Reibers war der Soldat Schink. Schink litt an Blasenschwäche. Die Mannschaften prügelten ihn deswegen oft durch. Der Feldwebel verbot ihm, am gemeinsamen Tisch zu essen und hieß ihn in einem Winkel stehen.
Ich hatte ein um so größeres Mitleid mit ihm, weil ich selbst bis in mein 8. Jahr an diesem Übel krankte, zu meiner heimlichen Qual und großen Beschämung. Aber meine Eltern waren vernünftig und ertrugen meine Schwäche in Geduld.
Ein Knecht, der bei meiner Tante in Dienst stand, litt an derselben Schwäche. Er war brav und arbeitete für drei. Meine Tante versprach ihm einst einen neuen Anzug, wenn er sich eine Woche bezwinge. Fünf Nächte lang schien ihm das zu gelingen. Der sechste Morgen zeigte wieder den alten Jammer. Die Tante fragte, wie er sich doch fünf Nächte habe halten können. Nun erklärte der Bursche, er habe, um ja nur den Anzug zu erhalten, die fünf Nächte auf dem Stuhl zugebracht; die sechste Nacht habe er aber dem Bette nicht widerstehen können. Dabei liefen ihm die Tränen die Wangen herunter.
Meine Tante stand gerührt und schenkte dem Peter doch den Anzug. Kein Knecht aber hat gearbeitet wie der.
Und kein Soldat versah den Dienst gewissenhafter als Schink. Das hinderte den Reiber nicht, ihn auf alle erdenkliche Weise zu beschimpfen und zu martern. Endlich strafte ihn der Hauptmann mit Arrest wegen »Verunreinigung königlicher Utensilien«.
Sprang Reiber mit den gemeinen Soldaten um wie mit Stallvieh, so machte er sich lieb Kind mit den Einjährig-Freiwilligen, vor allem, wenn sie zahlten.
Am Tage, wo auch den Kompaniefeldwebeln der Offizierssäbel[128] verliehen wurde, konnte er sich nicht genug im Pfeilerspiegel bewundern. Gewiß hat er sich in dieser Weihestunde selbst mit »Sie, Herr Feldwebel« angeredet. Wo er ging: auf den Korridoren, in der Treppe, im Hof, auf der Straße, überall ließ er den Säbel nachschleppen. Erst nach einem Monat trug er ihn aufgehakt. Ich glaube, die ersten Nächte hat er sogar mit der langen Stahlrippe geschlafen.
Sergeant Roth schimpfte und schlug ebenfalls. Da neben war er ein großer Schürzenjäger. Er benutzte mich nicht selten als Liebesboten. Mir war es ganz angenehm, einige Bummelnachmittage recht auszunutzen. Jedesmal aber schickte er mich zu einer andern Geliebten. Mich betraute er zu diesen Vertrauensgängen, weil ich in Hamburg gut Bescheid wußte und nicht dumm schien. Ich entledigte mich meines Vertrauensamtes denn auch auf »intelligente Weise«. Ich wußte, daß der gewissenlose Kerl manches anständige Mädchen betrogen hatte, und suchte ihm mehr als ein Opfer zu entreißen.
Einmal stellte er einem Mädchen nach, das ihn floh und seinetwegen die Stellung wechselte. Er gab mir einen Brief an des Mädchens Mutter, daß ich die Adresse der Tochter erlisten könnte. Die Mutter empfing mich mit dem Angstruf: »Sie kommen vom Sergeanten Roth! Welches Unglück bringt dieser Mann über meine Tochter und unser Haus!« »Über mich auch,« entgegnete ich. »Er ist ein infamer Schuft. Hüten Sie sich vor dem Menschen!« Ich nannte der Frau darauf die Geliebten des Sergeanten und gab ihr die Adressen, daß sie sämtliche Mädchen vor dem Scheusal warne. Natürlich verriet ich dem Sergeanten nichts von meiner »Tücke«.
Kurz nachher schickte er mich zu einer Verkaufsmamsell in einem Fischräuchereigeschäft. Ich sollte auf Antwort warten. Mamsell wickelte zwei Päckchen ein. Das eine kleinere mit geräuchertem Lachs, Stör und Aal für den Sergeanten, das zweite, größere mit Heringen, Bücklingen, Sprotten, Flunder für mich, denn es war einige Tage vor[129] Weihnachten. Ich händigte dem Sergeanten das größere Paket aus, das kleinere barg ich in meinem Spind und aß den Inhalt in zwei Tagen ganz auf.
Wie wird Roth gestaunt haben, als beim nächsten Stelldichein Mamsell sich teilnehmend nach dem Geschmack von Lachs und Stör erkundigte und sein Gaumen sich nur an Heringe und Flunder erinnerte! Am zweiten Weihnachtsfeiertag wurde ich zu ihm befohlen. Ich ging ohne weiteres Bangen hin. Erst stand er eine Weile sprachlos vor mir; sein Schnurrbart zuckte, seine Augen funkelten. Dann verzerrte sich sein Gesicht. »Kanaille!« zischte er und hob die Hand. Ich trat zurück und fragte unschuldig, womit ich den Zorn des Herrn Sergeanten auf mich gelenkt hätte. Da brach er los und kramte aus. Ich erklärte, meiner Ansicht nach habe dem Herrn Sergeanten doch das größere Paket von Rechts wegen gebührt, und so hätte ich das kleinere behalten Er ließ damit die Sache auf sich beruhen. Zum Liebesboten aber hat er mich nicht mehr mißbraucht.
Sergeant Heinrichs war ein pfiffiger Unteroffizier mit klarem Verstand, halber Gerechtigkeit und gutem Kommando. Seine Sittlichkeit war äußerst wurmstichig. Er war beständig krank und salbte, unter den Augen seiner Soldaten, an sich herum. Schließlich mußte er ins Lazarett, weil er kaum noch stehen konnte.
Eine Bestie in Menschengestalt war der Unteroffizier Hubarth. Wie wahnsinnig schlug der auf die Leute ein. Gab er Maulschellen, so streckte sich seine Zunge ein klein wenig zwischen den Lippen vor. Er hatte wirklich seine Lust am mutwilligen Zerstören von Menschen und Menschenglück. Dabei war der Kerl auch häufig krank und stets mit Einspritzungen oder Verbänden beschäftigt.
Die Schwächsten und Wehrlosen, also vor allem die Polacken, waren die Zielscheibe seiner Wut. Um sicherzugehen, beschied er seine Opfer auf die Unteroffiziersstube. Hier mußte sich der Soldat selbst auf den Schemel legen, wo er dann verhauen wurde.[130]
Hubarth ließ manchen Mann niederknien und, die Hände faltend, beten: »O Gott, ich bin ein Dusseltier, mach' du einen gescheiten Mensch aus mir.« Es schmeichelte seinem Größenwahn, daß Soldaten wie kleine Kinder ihn anflehten, sie doch nicht zu melden, wenn er irgend etwas gegen sie unternehmen konnte.
Ihm schloß sich würdig an der Unteroffizier Krumm. Welche Verworfenheit! Der Pole Pogatschek ward minutenlang von ihm mißhandelt. Er mußte stramm stehen. Krumm schlug ihn überdem in gemessenen Zwischenpausen mit den Faustknöcheln aufs Kinn. Einmal sah ich, wie er ihm befahl, den Mund zu öffnen. Pogatschek riß die Lippen klaffend auseinander; Krumm spuckte ihm dazwischen.
Tierische Brutalität grinste aus der Fratze des Unteroffizieranwärters Hercke. Er wurde schon in der Unteroffiziersschule in Bieberich wegen Ausschreitungen bestraft. Als ich zur Kompanie kam, war er gerade wegen eines schweren Disziplinarvergehens aus 28tägigem strengem Arrest entlassen worden, und zwar mit Verlust der Gefreitenknöpfe.
Zu seiner natürlichen Roheit gesellte sich nun die Verbitterung. Hercke hatte den Winter über die Rekruten mit ausbilden helfen. Die Leute zitterten, sobald er vor sie trat. In ihrer Furcht redeten sie ihn, den gemeinen Soldaten, mit »Herr Hercke« an, er aber duzte sie. Ich duzte ihn auch von Anfang an. Das kränkte ihn. Aber schließlich sagte er »Sie« zu mir und ich erwiderte mit gleicher Höflichkeit.
Trotz allem war der Schurke ein Soldat von hervorragenden Fähigkeiten. Es war ein Vergnügen, ihn marschieren oder turnen zu sehen. Er war auf allen Gebieten gewandt.
Ich könnte diese erhebende Gemäldegalerie noch um weitere Bilder bereichern, aber der stete Anblick der Bosheit und Unmenschlichkeit ermüdet. So will ich denn, unter all den Fratzen von Affen, Hunden und Schweinen, noch[131] ein letztes Bild mit wirklichen Menschenzügen aufhängen, dem Adelskopf des Grafen Ostorf gegenüber.
Denn was Graf Ostorf unter den Offizieren, das war unter den Sergeanten Unteroffizier Ockert: ein goldener Mensch.
Er war in jungen Jahren auf Wanderschaft gewesen und trat, aus idealen Gründen, vielleicht auch durch die Not gezwungen, in die Unteroffiziersschule ein. Vor der nüchternen Wirklichkeit zerstoben die idealen Träume bald. Seinem natürlich heiteren Gesicht grub sich seither ein Zug enttäuschter Wehmut ein.
Ockert litt lieber selbst, als die Leiden der Soldaten zu vermehren. Allerdings mußte auch er der allgemeinen Gefühlsverrohung in Unteroffizierskreisen seinen kleinen Zoll entrichten. Aber er beschränkte sich auf einige derbe Worte, die in ihrer eigenartigen Zusammensetzung mehr komisch als verletzend wirkten, weil ja auch jede Absicht, zu verletzen, fern lag. Seine Lieblingsrüge lautete: »Sie stehen ja da wie ein vollge .... flöteter Strumpf.« Äußerst befähigt, setzte er keinen übertriebenen Stolz darein, zu den Vorgesetzten zu zählen. Dafür konnte ihn der Hauptmann nicht recht leiden. Er schnauzte ihn oft an, bestrafte ihn sogar mit Arrest.
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