Widmungsschreiben

Hochverehrter Herr Gefängnisdirektor!


Als Ihnen vor beinahe sechs Monaten der p.p. Franz Bergg als schuldig des öffentlichen Skandals und grober Beleidigung der luxemburgischen Polizeigewalt eingeliefert ward, gaben Sie ihm eine Arbeit auf, durch die er sich die lange Einsamkeit der Untersuchungshaft nutzbringend verkürzen könnte, weil sie den ganzen Menschen in Anspruch nehme. Sie rieten, oder vielmehr befahlen mir, meinen Lebenslauf zu Papier zu bringen.

Dieser Auftrag, der mich so ganz unvorbereitet traf, ehrt Sie.

Er bezeugt, daß Sie dem fremden, verdächtigen Mitbruder ein menschenwürdiges Vertrauen entgegenbringen. Zugleich spricht sich darin aus der Glaube an das bessere Streben, das auf dem Grunde meiner Seele stets lebendig blieb und dessen, wenn auch nur schwacher, Atem bei unserer ersten kurzen Unterredung von dem feinen Ohr Ihrer nachsichtigen Liebe verspürt ward. Und also ehrt Ihr Auftrag auch mich.

Aber Sie muten mir Schweres zu. Ich soll mich vor Ihnen ausziehen. Als ich bei meiner Einlieferung im Messungszimmer die Kleider ablegen mußte, um meinen Körper mit allem Einzigartigen, was allein mir gehört als ein Teil meiner Persönlichkeit, den Augen, den Griffen, den Zollstäben polizeilicher Neugier preiszugeben, fühlte ich mich entwürdigt und empört.

Sie, edler Menschenfreund, hießen mich, was härter ist: Von meinem Leben soll ich die Hüllen reißen! Meine Seele[5] soll ich vor fremde Blicke stellen, nackt und bloß! Mein Stolz bäumte.

Mein Stolz? Unter dem Stolze hervor zischelte die falsche Scham. Da fand ich den Mut, die Natter in die Erde zu treten. Ich erklärte mich bereit, Ihrem Wunsch als einem willkommenen Befehl zu entsprechen.

»Du nahst,« so redete ich in meinem Zwiespalt auf mich ein, »du nahst dem Gipfel deiner Erdenbahn. Vieles hast du erfahren, Schlimmes und Gutes; vielleicht mehr Schlimmes als Gutes, vielleicht auch nicht. Manches hast du schlecht getan, durch fremde, mehr durch eigene Schuld. Die weltliche Gerechtigkeit zwang dich öfters zur Buße. Einmal brannte sie deiner Stirne einen Makel ein, den du damals so nicht verdientest; du trägst diesen Makel vor dir her als das Verhängnis deines Manneslebens.

Wieder hat ihr Machtwort deiner Freiheit Grenzen gesteckt. Wie kommt es, daß du diesmal unter der Einschränkung weniger leidest? Daß deine Brust tiefer atmet, Arme und Beine sich wohlig dir strecken? Merk' es doch, mein Freund! Du bist müde, müde vom Irren und Schweifen, müde vom Hadern mit den Menschen und vor allem mit dir selbst. Dir tut Ruhe not und Friede, Friede!

Ruhe und Friede können dir werden an diesem Orte. Diese Wochen ohnmächtiger Haft können sich dir wandeln in Tage der Stärke auf dem Wege zur Befreiung. Verstehst du nun die glückliche Fügung? Empfindest du die höhere Weisheit, die aus dem Auftrag des edeln Anstaltsleiters auf dich einredet? Im Schweigen der Zelle halte Einkehr bei dir selbst. Durchforsche die Tiefen deiner Jahre, nestle auf die Knoten deines Geschicks. Ihr entwirrter Knäuel gleitet dir zwischen den Fingern fort als fehlerloses Leitseil, an dem sich deine Zukunft der Höhe zuhebt, an Abgründen hin, durch Schlünde empor. Finde den Mut, mein Freund, und erkenne dich selbst.«

So redete ich auf meine Zagheit ein. Ich gab Ihnen mein Wort. Sie ermöglichten mir die Ausführung. Ich[6] setzte mich hin und schrieb meine Erinnerungen, die Bekenntnisse eines Staatsgefangenen, das Leben eines Proletariers.

Inzwischen ist aus dem Untersuchungsgefangenen ein Strafgefangener geworden. Ihrer Nachsicht, Herr Direktor, tat diese Wandlung keinen Eintrag, und keinen Abbruch meiner Beichte, die ich jetzt nur noch in den Augenblicken der Muße fortsetzen durfte.

Ich fühlte mich all die Tage über kaum noch als Häftling. Meine Fesseln drückten mich nicht. Die gerichtlichen Verhandlungen, wo über meine Freiheit befunden ward, begleitete ich mit geteilten Wünschen. Meine Einsamkeit ward mir teuer. Meine Schreibtätigkeit zum qualvollen Genuß. Die vier engen Wände meines Stübchens wichen für mich ins Grenzenlose auseinander. Flügel trugen mich hoch über die Felsenmauern, die in mein Fenstergitter herüberstarren, durch Raum und Zeit. Jeden Abend kehrte meine Erinnerung von ihrem Ausflug heim, wie die müde, seimbeladene Biene, um am nächsten Morgen wieder hinauszuschwärmen in Sonne und Duft.

Über dem Mute zum Bekenntnis, kam dann auch die Erkenntnis. Der Niederstieg in meine Vergangenheit offenbart mir mein Leben als ein Stück Erdenschicksal, wie es vielen meinesgleichen beschieden wird. Armut, Sehnsucht, Sünde, Zerknirschung, Hoffnung, Verzweiflung, Not des Leibes und der Seele: warum sollte ich all das Menschliche einem Menschen nicht gestehen dürfen? Ich werde damit sein eigenes Wissen vom Menschen bestätigen, vielleicht bereichern, und es kann mehr als einem Stiefsohn des Glückes daraus Heil erblühen.

Ich selbst durfte von dieser Wunderblume die erste Knospe brechen. Meine schuldbestaubte Seele nahm die heimlich langersehnte Gelegenheit wahr, sich so recht nach Lust auszubaden.

Ganz rein bin ich der wohligen Flut nicht entstiegen. Erinnerungen lassen sich nicht abbürsten; Beulen und Narben[7] halten dem Ansturz der Brause stand. Aber es rieselte mir von Schultern und Lenden das Gefühl der Unsauberkeit. Ich fühle mich gründlich gewaschen und auch geistig erfrischt.

Mein Leben verdarb doch nicht ganz im Zeichen böser Gestirne. Seine Pfade verkreuzen sich nur scheinbar im labyrinthischen Gewirr. Vor meinen Augen laufen sichere Gleise, die – ich schreibe es mit aufrichtigem Selbstgefühl – in festen Linien einem ehrenvollen Ziel entgegenführen. Ich habe mich leider allzu lang in den Niederungen verloren. Ich spreche mir selbst, ich allein, das Urteil; ich lege mir selbst die Buße auf. Ich habe vieles gut zu machen an mir, an den Menschen, an der Menschheit.

Sobald ich dieses Haus verlassen muß, stelle ich mich der neuen Pflicht. Der letzte Aufenthalt, den ich in meiner Gefangenenzelle bei mir selbst genommen habe, in der Geschichte meines Lebens bleibt er verzeichnet als die Zeit meiner geistigen und sittlichen Wiedergeburt.

Diese Begnadung, hochverehrter Herr Direktor, ist Ihr Werk.

Die Blätter, die ich Ihnen mit diesen Zeilen überreiche, künden es mit Flammenzungen. Sie zeugen zu gleich für die Lauterkeit meiner Gesinnung.

Ich habe mich nicht geschont. Nur über die Umstände, die meinen Abfall von jeder geoffenbarten Religion herbeiführten, schweige ich mich absichtlich fast ganz aus. Ich bin überzeugter Sozialdemokrat. Sozialismus und Unglaube haben nichts miteinander gemein. Das beweisen die wirtschaftlichen Kämpfe und gesellschaftlichen Aufstände aller Zeiten. Ich bin wie zufällig zur Sozialdemokratie und zum Unglauben zugleich geführt worden. Je tiefer ich mich in die Forderungen der ersteren versenke, um so weniger fühle ich mich bewogen, mit meinem Unglauben zu prahlen. Einem Menschen den Glauben an Gott oder das religiöse Gefühl zu morden, erscheint mir als das größte Verbrechen. Einmal ungläubig, kehrt man zum Glauben nie mehr zurück. Nur die Naturbetrachtung durchbebt dann die Brust noch[8] mit der unbestimmten, und doch schon beseligenden Kraft gestaltlosen, religiösen Empfindens.

Unendliche Dankbarkeit schulde ich dem Herrn Unterdirektor und dem Herrn Anstaltspfarrer für die bereitwilligst überlassenen Bücher, die mich das Christentum in mir bis dahin unbekannter Größe bewundern lehrten.

Ich hielt darauf, auch diese Erklärung herzusetzen.

Nun, wo ich das Buch meiner Bekenntnisse von mir geben soll, verspüre ich einen wirklich körperlichen Schmerz. Der Band ist mir mehr geworden als ein Vertrauter. Ich scheide von ihm als von einem andern Ich, als von der ersten, wahrscheinlich längern Hälfte meiner Erdendauer, die auf seinen Blättern feste Gestalt angenommen hat, und nun sichtbar, fühlbar von mir fort ins Unbekannte strebt.

Aber ich scheide von dem Zwillingsbruder still und getrost. Ich darf diese Blätter einem edlen Menschenfreund widmen als aufrichtigen Ausdruck meiner Dankbarkeit, die den Tod überdauern möchte1.

Ihr ergebenster

gez. Franz Bergg.[9]

1

Die folgenden Erinnerungen bringen keine getreue Wiedergabe der ursprünglichen Niederschrift. Vieles an dieser ward gestrichen oder gekürzt, manches geändert; alles sprachlich überarbeitet.

Die Abschnitte über Elternhaus, Lehr- und Wanderjahre, Kasernenerlebnisse, Familienschicksale, Parteitätigkeit, gesellschaftlichen Zusammenbruch bieten Tatsächliches; doch wurden aus naheliegenden Gründen die Namen der Personen geändert.

Mich bestimmt zur Hinausgabe dieses Lebensschicksals der Wunsch, einen kleinen Beitrag zu liefern zur langen Leidensgeschichte der Armut auf Erden und einen bescheidenen Baustein zu tragen zum sozialen und politischen Friedenswerke der Zukunft.

Luxemburg, im Juni 1913.

N.W.

Quelle:
Bergg, Franz: Ein Proletarierleben. Zweite Auflage, Frankfurt a. M. 1913.
Lizenz:

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