Anno 1702
§ 49

[115] Allein diese Honig-süße Stunden, so ich einige Wochen gehabt, wurden mir gar bald in bittere Wermut einer nicht geringen Versuchung verkehret. Der vorige Informator [Hauslehrer] Herr Wachtel hatte auf seiner Stube, welche ich zugleich mit der Information auf dem roten Collegio bekommen, einen armen Knaben, ich glaube eines verstorbenen Predigers Sohn, mit Namen Wittich, einige Jahre bei sich gehabt, der gleiches Alters mit meinem Discipel [Schüler] war, und gleiche Studia hatte, und den er auch die Lectiones, die er seinem Untergebenen hielt, umsonst mit besuchen lassen. Ich weiß nicht, was er an diesem Knaben, oder Jünglinge gefunden hatte, daß er ihm mit ganzem[115] Herzen zugetan war. Außer seinem Armut war nichts an ihm, was einen hätte sonderlich bewegen, oder gefallen können, als daß er ein trockener Vogel war, so jung er auch noch war, und manchmal Dinge redete, darüber man sich in die Zunge beißen mußte, wo man nicht laut lachen wollte. Und doch band er mir solchen bei seinem Abzug aus Leipzig auf die Seele, und ließ seinetwegen so viel bewegliche [rührende] Bitten an mich abgehen, wenn er gleich sein Sohn gewesen wäre. Ich, und andere gute Freunde begleiteten diesen Herrn Wachtel bis in Kohl-Garten zu Fuße, allwo er den Kutscher erwarten wollte. Dieser Wittich gieng auch mit, und weinete hinter uns, und seinem Herrn her, wie ein einiger [einziger] Sohn, der hinter dem Sarge seines Vaters einher gehet, und ihn mit viel tausend Tränen zu Grabe begleitet. Sein Weinen verwandelte sich in ein rechtes Heulen, als der Kutscher an, und sein Herr dem Abschiede näher kam. Ich redete ihm zu, er sollte sich zufrieden geben, er würde an mir einen andern [zweiten] Wachtel haben. Auch die andern, so mit uns waren, und die mein Gemüte gar wohl kennten, bemüheten sich ihn zu trösten; aber er wollte sich nicht trösten lassen, sondern tat, als ob alles mit ihm aus, und er nun der unglückseligste Mensch auf Erden werden würde. Wir kamen endlich wieder zurücke nach Hause; und, sobald ich in den folgenden Tagen meine Information [Hauslehrerstelle], und er seine Famulatur [Dienerstelle] angetreten, so meinte ich, ich wollte nun durch meine Gütigkeit sowohl ihn selbst wegen seiner Zaghaftigkeit und großes Mißtrauen, so er auf mich gesetzet, als auch seinen vorigen Herrn zu Schanden machen, von dem ich jetzt erst erfuhr, daß er bei aller der Liebe, so er zu ihm gehabt, ihn doch öfters gut abgeprügelt hätte, so oft er nicht gut tun wollen. Ich erschrak darüber, als ich solches hörete; denn dergleichen war mir nicht gegeben; weil ich solcher Plackerei genug mit den Kindern und Knaben auf dem Gymnasio gehabt hatte, so daß ich froh war, daß ich bei drei Jahren her derselben los worden. Es giengen aber nur etliche Tage hin, so merkte ich freilich, daß bei ihm mit guten Worten nicht viel Gutes würde auszurichten, und der Gehorsam schwerlich bei ihm mit Güte zu erhalten sein, den sein voriger Herr mit Schlägen zuweilen erhalten müssen. Er kam um ein leichtes nicht in die Stunde, ohne mir solches zuvor zu melden: wenn er drinnen war, so schrieb er entweder gar nicht nach, oder alles auf einzele Blättgen, welches mir höchst zuwider, indem ich in meinem Leben keine Leute weniger um mich leiden können, als solche, die nicht punctuel [pünktlich][116] und accurat in ihren Sachen sind, und es auch nicht werden wollen. Zuweilen ließ er sich verleiten den Studiosis, so im roten Collegio wohnten, wenn sie in Gärten, oder zu Hause schmausten, aufzuwarten, und Bier zuzutragen, ohne daß ich etwas davon wußte. Und endlich bei allen meinen gütigen und scharfen Ermahnungen, und Bestrafungen [Tadeln], die ich bei allen solchen ersten Vergehungen an ihn abgehen ließ, so unterstund er sich auch so gar, ein und das andere mal des Nachtes außen zu bleiben, ohne mich wissen zu lassen, wo er wäre. Was auch sein voriger Herr von ihm gehalten, so kunte ich ihn vor nichts anders, als vor einen Menschen halten, an dem Hopfen und Malz verdorben, und war Anfangs zwar gesonnen, ihn bei seinem Ungehorsam so hingehen zu lassen, ob er etwan mit der Zeit anders werden möchte; allein das meiste, was ich besorgte, war, daß er nicht meinen Discipel [Schüler] ansteckte, der sonst keinen andern Umgang, als mit ihm, hatte. Er führte auch mit demselben öfters in der Stunde, wenn sie etwas neben einander in der Stille elaboriren sollten, solche Discurse, dergleichen die Knaben, und Jünglinge in Schulen zu führen pflegen, wenn sie, wie Beverland in seinem Tractat de fornicatione cavenda [Die Verhütung der Unzucht] redet, unter einander die Frage aufwerfen: Auf was vor Art, und Weise die Menschen auf die Welt kommen? Zu welcher Zeit man, wie er spricht, nicht genung Acht auf sie geben könne. Ich will nicht sagen, daß er außer seinem ungestalten Gesichte auch allerhand Marquen der Unreinigkeit, insonderheit auch viel Venus-Blattern in demselben hatte, welche verständige, und erfahrne Leute von Bacchus- und Sauf-Blattern gar wohl zu unterscheiden wissen.

Dieses und dergleichen machte, daß ich einst im Zorn ihn entsetzlich ausrichtete, und mehr als ich sonst zu tun gewohnt war, und ihn, jedoch bedingter Weise, wo er nicht sein Leben ändern wollte, gehen hieß, wo er hergekommen wäre. Was geschieht? Ehe ich michs versehe, so nimmt ihn Mons. Hermann, mein Landsmann, eines Predigers Sohn aus Breslau, der mein guter Freund von der Schule her war, zum Famulo an, indem er demselben weis gemacht, ich hätte ihn weggejaget, und ich wäre auch so wunderlich, daß er unmöglich länger bei mir bleiben könnte. Ich ließ mir sein Wegziehen gefallen, und war froh, daß er einen so guten Herrn wieder bekommen, redete ihm scharf und beweglich [eindringlich] zu, und gab ihm damit seine Dimission. Allein sobald nur dieser Hermann seine Untugenden, und unordentliches Leben bei ihm merkte, was mir schon unerträglich[117] geschienen, so machte er nicht lange Feder-lesens mit ihm, sondern jagte ihn ohne Verzug und Complimenten von sich. Und da wußte kein Mensch, wo er hingekommen wäre. Ich erkundigte mich bei seinen armen Anverwandten, die er zum Teil in Merseburg, zum Teil in Dresden hatte, aber es wollte niemand etwas von ihm wissen. Dies bekümmerte, und ängstigte mich nicht wenig. Denn ich meinte, wenn er auch schon bei einem andern Herrn wäre, so könnte ich doch noch immer vor sein Wohlsein sorgen, und Barmherzigkeit an ihm tun, um die sein erster Herr beinahe mit Tränen bei mir Ansuchung getan hatte, daferne ich nur wüßte, bei wem er sich aufhielte. Ich war weicher Natur, wie die zu sein pflegen, die eine Vermischung vom Temperamento Sanguineo und Melancholico haben. Auch Gottes Zorn, und Güte, so ich An. 1695 bei der damaligen Gewissens-Angst geschmecket, hatte mir ein weiches, und zermalmetes Herze gemacht, daß ich unmöglich des Nächsten Unglück, vielweniger dieses jungen Menschen und Knabens Sterben ohne große Bewegungen ansehen kunte. Ich dachte an sein Weinen und Heulen bei dem Wegzuge seines Herrn, und an die Vorbitte, so sein Herr vor ihn bei mir getan, da er gleichsam gesprochen: Verwahre diesen Mann, denn wo man sein wird missen, so soll deine Seele anstatt seiner Seele sein [1. Kön. 20,39]. Ich dachte auch an die excessive-epanorthotische [übertrieben rügende] Straf-Predigt, die ich ihm zuletzt gehalten, und welche ihn so desperat gemacht hatte, daß er von mir gelaufen, und anderswo Dienste genommen hatte. Ja, was das ärgste, so strafte [tadelte] mich mein eigen Herz, daß ich seiner gerne hätte wollen los werden, und zwar auch unter andern um einer gewissen Absicht willen, die aus weltlichem Interesse herkam.

Dies alles lag mir ohne Unterlaß im Sinne, bis daß am Johannis-Tage [24. Juni] in der Kirchen, da es mir abermal einkam, es wie ein Stein auf mein Herz fiel, so daß ich etliche Tage beinahe so große Angst gespüret, wie diejenige war, so ich An. 1695 schier den ganzen Sommer empfunden. Ich disputirte, und disputirte mit mir: bald verklagten, bald entschuldigten mich meine Gedanken. Bald glaubte ich, meine Unbarmherzigkeit wäre ein Rückfall, bald rechtfertigte ich wieder meine Handlung. Nach der Zeit, wenn ich mit kaltem Geblüte, und ohne Affecten diese Sache überleget, habe ich freilich erkannt, daß ich gegen diesen nichtswürdigen Menschen eher zu gelinde, als zu unbarmherzig gewesen. Doch wie die sind, so ein fleischern Herze [Hes. 11,19], und schüchtern Gewissen haben, und das Übel der Sünde[118] in ihrem Leben einmal haben kennen lernen: sie zittern vor der Sünde so sehr, daß sie auch wohl zuweilen vor Sünde halten, was doch keine Sünde ist. Ob diese Troublen damals bei mir die Milz-Sucht verursachet, oder ob die schon gegenwärtige Milz-Sucht, bei welcher die Menschen fürchten, wo nichts zu fürchten ist, solche Angst erreget, weiß ich nicht; so viel besinne ich mich, daß ich mit diesem Malo [Übel] um dieselbe Zeit schon behaftet gewesen. Ich kunte kaum mein Herze stillen, absonderlich, da mir kurz hernach allerhand Unglück begegnete, das gewiß würde weggeblieben sein, wenn mein Famulus noch bei mir gewesen wäre; so daß es schiene, als ob Gott selbsten mir weisen wollte, daß ich übel getan, daß ich mich so sehr gesehnt hätte, dieses Menschens los zu werden. Und was meinest du wohl, wie mir zu Mute gewesen, und mit was vor Weinen die zukünftigen Weihnachten müssen verknüpft gewesen sein, da um solche Zeit ein Geschrei [Gerücht] kam, daß ein Junge bei Groß-Zschocher sich ersäuft, und kurz zuvor bei dem Hirten auf dem Felde sich beklaget hätte, er wäre von allen Menschen verlassen, und es hätte ihn in Leipzig immer ein Herr nach dem andern weggejaget, und von sich gestoßen, und was der Umstände mehr waren, die sich alle vor meinen Wittich schickten, so daß ich nicht anders denken kunte, als er wäre dieser Junge, so sich ersäuft. Aber er war es doch nicht gewesen, wie ich besser unten an einem andern Ort melden werde. Denn ich fand ihn nach zweien Jahren noch lebend zu einer Zeit, da ich nicht ruhen konnte, bis ich wußte, ob er noch lebendig, oder tot, und da mein Zustand noch bekümmerter, als der damalige, und der gegenwärtige war.

Quelle:
Bernd, Adam: Eigene Lebens-Beschreibung. München 1973, S. 115-119.
Lizenz:

Buchempfehlung

Stifter, Adalbert

Die Narrenburg

Die Narrenburg

Der junge Naturforscher Heinrich stößt beim Sammeln von Steinen und Pflanzen auf eine verlassene Burg, die in der Gegend als Narrenburg bekannt ist, weil das zuletzt dort ansässige Geschlecht derer von Scharnast sich im Zank getrennt und die Burg aufgegeben hat. Heinrich verliebt sich in Anna, die Tochter seines Wirtes und findet Gefallen an der Gegend.

82 Seiten, 6.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.

432 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon