Anno 1703
§ 50

[119] Diese Sache hinderte mich in diesem 1702. Jahre gar sehr, daß ich nicht recht fleißig und attent [aufmerksam] in meinem Cursu Philosophico [Philosophievorlesung] sein konnte, den ich jetzt erst, da ich schon ein Jahr Magister gewesen war, bei dem Herrn Oleario hörte, obwohl meine Aufmerksamkeit noch zulänglich war. Denn weil ich schon die Aristotelische Philosophie gelernet, auch über solche bei Lic. Friderici, und D. Schmidt disputiret hatte, so war ich jetzt desto geschickter, die Philosophiam recentiorem [moderne Philosophie] mit Nutzen zu hören, und leichter zu fassen, als wenn ich solche nach Gewohnheit der Studiosorum gleich das erste Jahr gehöret hätte. Bei allen[119] den Verdrüßlichkeiten, so mein Gemüte beunruhiget, so hatte ich mich in derselben dermaßen feste gesetzet, daß ich auch fähig war, dieselbe wiederum andere zu lehren. Ich tat solches das folgende 1703te Jahr, und machte darinnen mit denjenigen einen Versuch, welche ich bisher in Humanioribus [philologischen Fächern] und in der Theologia Thetico-Polemica informiret [Dogmatik und Kontroverstheologie unterrichtet] hatte. Ich bekam auch in eben diesem Jahr einen Discipel [Schüler], mit dem ich die aristotelische Philosophie durchgehen sollte; und das war der vor etlichen Jahren verstorbene Diaconus an der Thomas-Kirchen, M. Rabner, der damals ein Jüngling von 16 Jahren war. Sein Vater, bei welchem man mich sehr recommandiret hatte, war besorgt, sein Sohn möchte sich einst bei den Professoribus Philosophiæ verhaßt machen, daferne er die Philosophiam recentiorem studiren, und darnach im Disputiren derselben Lehr-Sätze vortragen sollte. Ich suchte ihm dieses zwar auszureden, und sagte, daß die Zeiten sich geändert, und die Welt das Aristotelische Joch schon guten Teils abgeworfen hätte: daß auch Herr Olearius ohne Widerspruch vom Aristotele abgienge; allein er führte mir einige Exempel an, derer, welche sich durch die neue Philosophie an ihrer Beförderung gehindert hätten. Und so ließ ich mirs denn gefallen. Ich war zugleich mit ihm eines worden, ein wöchentliches Exercitium disputatorium [Diputationsübung] mit dem Cursu [Vorlesung] zu verknüpfen, und auch außer dem im Hebräischen seinen Sohn zu informiren. Ich kam allem auf das genaueste nach. In der Philosophie zeigte ich dem ohngeachtet öfters, worinnen die Philosophi recentiores [modernen Philosophen] besser wären, und von den Aristotelicis [aristotelischen Schulphilosophen] abgiengen. Zum Disputiren war er ungemein geschickt, und übte sich darinnen in so kurzer Zeit, daß, ob er gleich noch kein Studiosus, er doch tüchtig gewesen wäre, die philosophische Katheder zu besteigen. Noch mehr nahm er zu in der Erlernung der hebräischen Sprache. Ich hatte vom alten M. Starcken gelernet die Sprachen, und insonderheit die hebräische, mehr durch die Praxin [Praxis], als durch viele Præcepta grammaticalia [grammatikalische Regeln] einem beizubringen. Ich ahmte ihm glücklich nach; und es währte nicht ein Viertel-Jahr, so konnte mein Auditor [Hörer] die Libros Historicos [Geschichtsbücher des AT] schon ziemlich fertig exponiren [erklären]. Wir würden auch in der Sprache noch größere Progressus [Fortschritte] gemacht, und weiter gekommen sein, wenn er nicht so viel Dubia [Zweifel] wider die Historien[120] und historischen Umstände, die wir lasen, gemacht hätte. Unzählige, und unsägliche Dubia erfand er, so daß sie kein Atheus oder Deiste [Atheist oder Deist] ärger hätte ersinnen, und machen können. So viel ich auch darauf studirte, und Harmoniam Waltheri, auch gute Commentarios [Kommentatoren] dabei las, so war ich nicht fähig, ihm alle seine Einwürfe und Skrupel aufzulösen; oder er glaubte doch, daß sie ihm nicht benommen, und aufgelöset wären. Seine Erben haben bei seinem Lebens-Laufe, den sie aufgesetzet, mir die Ehre nicht angetan, daß sie mich unter seine Præceptores gesetzet hätten; vielleicht, weil sie mich unter seinen Præceptoribus nicht gefunden haben; es würde auch vor den Verstorbenen eben keine große Ehre gewesen sein. Ungeachtet er mein Schüler gewesen, so war er doch nach der Zeit heimlich mein bitterster Feind, welches ich eher nicht, als vor 10 Jahren bei der Melodianischen Affaire erfahren. In seinem gewissen Conventu, da über mich beratschlaget wurde, haranguirte [sprach] er die ganze Zeit allein, und redete auf das heftigste wider mich, wollte auch von allem gelinden Verfahren wider mich nicht das geringste hören. Das hat ihm aber nach seinem Tode viel geschadet. Denn weil ein gewisser gelehrter Mann, der stets viel Liebe und Hochachtung vor mich gehabt, dadurch erschrecklich erbittert, und aufgebracht wurde, daß niemand so sehr, als er, in Gesellschaften die bittersten Reden wider mich ausgestoßen; so war er hernach die erste Ursache des Prozesses, der seinethalben nach seinem Tode geführet wurde, da sonst die ganze Sache wohl würde sein liegen blieben. Drum soll man keinen Menschen, der auch hassens-würdig, ohne Maß hassen, und verfolgen, so schwach derselbe ist; nam nihil tam firmum est, cui non metus sit ab invalido.

Quelle:
Bernd, Adam: Eigene Lebens-Beschreibung. München 1973, S. 119-121.
Lizenz: