§ 72

[184] Wie geht es denn nun zu, daß sie endlich zu solcher Tat schreiten? Es ist eines der merkwürdigsten Dinge und Phænomencov [Erscheinungen], so sich auf Erden bei den Menschen ereignen: daß die, so die größte Furcht haben eine Tat zu begehen, und die ganze Welt drum gäben, daß sie sie nur nicht begiengen, darnach gleichwohl solche tun. Wir Menschen tun das gerne, worzu wir Neigung und Lust, Willen und Vorsatz, nicht aber wovor wir die größte Furcht haben. Und gleichwohl lehrt die Erfahrung, daß ein großer Teil von solchen Menschen, die selbst Hand an sich legen, vorher eine zeitlang mit solcher Furcht, daß sie es tun würden, geplaget worden. Sie entdecken diese Furcht vor der Tat zuweilen ihrem Prediger, oder auch einem andern guten Freunde, so daß man nach geschehener Tat schließen kann, daß sie solche Tat nicht mit Willen, Wissen und Vorsatz, noch mit völligem Verstande müssen getan haben. Der große Theologus Richard Baxter, wenn er an einem Orte in seinen Schriften von dergleichen Leuten handelt, erkennet solches auch. Er spricht, es sei unmöglich, und wider alle menschliche Natur, daß ein Mensch mit Verstande das tue, wovor er die größte Furcht hat, daß ers tun möchte, so daß er sich lieber mit Zangen würde zerreißen lassen, als mit Wissen Hand an sich selbst legen. Da es nun dem ungeachtet gleichwohl zuweilen geschiehet, wie wir oben gesaget; so mögen wir sicher schließen, daß diese Leute, ehe sie zur Tat schreiten, entweder aus Übereilung des lebendigen Bildes, so sie im Gehirne hatten, sich schnelle anfallen, dergleichen mit einem Messer geschehen kann, oder wo nicht allemal ganz, doch in gewissen Stücken, und großen Teils, ihres Verstandes beraubet werden.

Und nicht wunder, daß sie in solchem Zustande um ihren gesunden Verstand kommen. Die große Furcht, die sie plagt, die schlaflosen Nächte, so damit verknüpft sind, und der schwache Kopf, so darauf folget, sind kräftig genug, die Lebens-Geister in Unordnung zu bringen, und einem Menschen seinen Verstand zu benehmen. Wenn dieses geschiehet, so percipirt [nimmt ... wahr] der Mensch nicht mehr recht; er sieht und hört, was nicht mehr gegenwärtig ist; woraus denn auch, wie leicht zu erachten, lauter falsche Urteile, und Schlüsse entstehen. Ich weiß, wie einem Menschen ist, der auf die letzte [zuletzt], wenn er vor allem[184] aus Furcht zittert und bebet, auf die letzte nicht mehr weiß, wo er das Licht hinsetzen soll, und meint, daß es ins Bette müsse gesetzt, und zugedeckt werden, und vielleicht solches tun würde, wenn er nicht wieder zu sich selbst käme. Vor zehen Jahren war das Gedächtnis auf eine kurze Zeit bei mir so schwach, daß, da ich des Morgens erwachte, und es doch lichte in der Kammer war, ich weder mich, noch meine Kammer kannte, und nicht wußte, wer ich wäre, wo ich herkäme, und was ich da machte. Ja, da ich zu einer andern Zeit in tiefen Gedanken einen guten Freund des Abends besuchen wollte, und schon in seinem Hause auf der andern Treppe war, so konnte ich mich auf eine kurze Weile nicht besinnen, wo ich wäre, und in was vor einem Hause ich wäre, und zu wem ich gehen wollte.

Fällt nun der Verstand bei dergleichen Menschen weg, die mit der Furcht des Selbst-Mords, und täglichen Bildern davon gemartert werden, so daß bei ihnen nichts, als die Einbildungs-Kraft übrig bleibet, die, wie wir oben gehöret, den Leib figuriret nach dem Bilde, das der Mensch im Gehirne hat, so müssen sie notwendig den unvernünftigen Tieren ähnlich werden, die auch keinen Verstand noch Vernunft haben, und also gleich denselben nach den Bildern würken, welche sie im Gehirne haben, und nach keinen Bildern eher, als welche am tiefsten eingedruckt worden. Ein Hund, der zum Holen gewöhnet worden, weil er diese Tat oft vollbracht, lauft den Augenblick dem Holze nach, welches ich ihm hinwerfe; und, weil er weder Verstand noch Freiheit hat, seine Tat zu hemmen, so muß er laufen, wenn nicht andere natürliche Ursachen ihn daran hindern. So lange der Mensch Verstand hat, so hat er auch Freiheit, seine Taten zu hemmen, und also nach dem Bilde nicht zu tun, das er von der Tat hat. Wenn auch D. Luther sein Messer nicht weggeschmissen hätte, so lange er Verstand und freien Willen hatte, würde er nach dem schrecklichen und mörderischen Bilde doch nicht getan haben, so sehr er sich auch würde haben zwingen müssen, nach dem Bilde nicht zu agiren. Ist aber der Verstand und Freiheit bei einem Menschen weg, so sollte ich meinen, es müßte ein jeder zugestehen, daß alsdenn ein Mensch nach seinem täglichen Bilde würken und agiren würde. Kann man sich kaum von der Tat enthalten, wenn der Verstand noch gegenwärtig, und die Imagination stark, wie soll man die Tat hemmen können, wenn der Verstand nicht mehr vorhanden? Ohngefähr vor 26 Jahren war ich über Nacht bei guten Freunden geblieben, wo ich wenig geschlafen. Ich speisete damals zu Mittage, wo ich zu[185] kam. Ich gieng den Tag drauf auf der Peters-Straße in ein Wirts-Haus, und setzte mich an einen Tisch, und wartete, bis man mir Essen brächte. Der Kopf war schwach, die Imagination also stark; ich saß halb träumend, und halb wachend da. Indem sehe ich auf einem andern Tische, weit von mir, einen alten Mann sitzen, der wegen Alters mit den Händen und Fingern auf die höchste Weise zitterte, als man sichs nur einbilden kann. Er konnte vor Zittern kaum mit Mühe die Speise in den Mund bringen. Da er schier fertig mit Essen, ließ er sich ein klein Gläsgen, oder Stempchen Branntewein bringen, welches ganz voll war. Ich sahe wie im Traume zu, und dachte: wie will doch der Mann das Gläsgen Branntewein in Mund bringen und austrinken? Er hubs mit Zittern auf, und ehe ich michs versahe, so stürzte ers mit Grimm und Ungestüm in Mund hinein, daß ich darüber ganz erschrak, und auffuhr. Weil mein Kopf damals schwach, so hatte ich von dieser Tat einen solchen tiefen Eindruck im Gehirne bekommen, daß eine Zeit lang hernach, wenn ich bei Tische mir auch ein Gläsgen Branntewein geben ließ, ich alle Not hatte, und mich recht zwingen mußte, daß ich es nicht auch im Grimm hinein schüttete. Ich bin versichert, wenn ich um diese Zeit das Unglücke hätte haben, und meines Verstandes beraubet werden sollen, und man hätte mir ein Gläsgen Branntewein gereichet, ich würde es just so, wie dieser Mann gemacht haben.

Dergleichen elende Menschen, zu denen ich wieder komme, wenn sie schon wachende nicht ihres Verstandes allemal beraubet werden, so werden sie doch durch Träume vielmal ganz irre gemacht, daß sie wohl gar den Mondensüchtigen ähnlich werden, und wegen starker Imagination im Traum aufstehen, und Taten vornehmen, welche sie wachend nicht vornehmen würden. Oder wenn sie aufstehen im Traum, und, nachdem sie aufgestanden, zu träumen aufhören, so sehen sie die Dinge in der Kammer ganz verkehrt an; so, wie wohl eher [sonst schon] einer in der finstern Nacht aufgestanden ist, und gemeinet, sein Bette stehe ganz umgekehrt, wo das Haupt wäre, da sollten die Füße sein; oder wie sich Leute in Städten auch wohl bei Tage, wenn sie aus einem Hause kommen, irre werden, und meinen, der Thomas-Turm müsse ja auf jener Seite stehen, so daß ihnen alles verkehrt, und unrecht scheinet. Da ich noch in meiner Vaters-Stadt war, will ein gewisser Handwerks-Pursche des Nachts zu seinem Fenster hinaus steigen; welches, weil es Sommer, und warm Wetter war, er die Nacht offen gelassen. Der andere, so bei ihm schläft, und dieses merket, und vermutet, daß er irre im[186] Kopfe sei, holet ihn zu allem Glücke noch zurücke, und führet ihn wieder ins Bette. Dieser, so zum Fenster hinaus steigen wollte, hat hernachmals ausgesaget, er sei halb träumend aufgestanden, und in der Kammer irre worden, und da er sein Bette nicht wieder finden können, habe ihn nicht anders gedeucht, als ob sein Bette draußen vorm Fenster stünde. Urteile selbst, wenn dieser Mensch sich zu Tode gefallen hätte, ob man ihn nicht vor einen Selbst-Mörder würde ausgegeben haben?

Ein großer merkwürdiger Umstand, der die gegen wärtige Sache klar macht, ist wohl unstreitig, daß alle Melancholici, wie die Medici zugestehen werden, ein hitzig Fieber habitualiter [ständig latent] wegen ihres Leibes Beschaffenheit mit sich herum tragen; welches denn manchmal unversehens in Actum, und in die fieberische Tat ausbricht. Denn die Melancholici, und die, so an der Melancholia hypochondriaca laboriren, sind solche Patienten, die wegen der Verstopfungen in Milz, Gekrös-Magen, und auch wohl in der Pfort-Ader, und wegen der daher rührenden Spasmorum und Contractionum Nervorum nicht nur mit Furcht, Angst, Bangigkeit und Traurigkeit geplaget werden, und an solche Dinge stets gedenken, welche Furcht, Angst, Bangigkeit und Traurigkeit bei den Menschen verursachen, auch sich lauter Dinge suchen, und erfinden, diese betrübte Affecten zu unterhalten und zu nähren, und sie als rechtmäßige Ursachen derselben anzusehen; sondern die auch ein corruptes Acidum [verdorbene Säure], und versauertes dickes hitziges Geblüte im Leibe haben, welches fast wie ein Gift, und höchst feurig wird, und den Grund zu allen jetzt erzählten üblen Dispositionen des Leibes in sich hält, so daß gar leicht eine hitzige Krankheit, oder hitziges Fieber daraus entstehen kann. Nun weiß man, wie bei vielen Menschen die hitzigen Fieber, und auch wohl die Fleck-Fieber bald bei ihrem ersten Anfalle und Anfange mit einem Delirio und Raserei vergesellschaftet werden. In hitzigen, oder Fleck-Fiebern ist es nichts Ungewöhnliches, daß die Patienten, wenn sie fasen [wirr reden], davon laufen, und in Feuer und Wasser springen würden, wenns zugegen wäre. Ohngefähr Anno 1695 grassirten in Breslau die Fleck-Fieber sehr stark; und, wo man da die Patienten alleine ließ, und sie nicht hütete, so stiegen, oder sprangen sie zum Fenster auf die Dächer hinaus. Im Marsch-Stalle hier hatte einst eine Kärnerin [Hausiererin], so ein frommes Weib, und von großem Erkenntnis in Religions-Sachen war, ein hitzig Fieber; und, als ich sie zu Ende ihrer Krankheit wiederum besuchte, so erzählte sie mir mit großer[187] Freude, vor was vor einem großen Unglück von Gott sie wäre in ihrer Krankheit behütet worden. Im Delirio und im Fasen wäre es ihr vorgekommen, als ob wir alle im höchsten Grade Christo müßten ähnlich werden; und, weil sie bisher im Leiden noch gar wenig ihm ähnlich worden, so müßte es nunmehr geschehen. Christus wäre gekreuziget worden, und wir müßten den alten Adam auch ans Kreuze schlagen. Dieses, was verblümter weise zu verstehen, hätte sie in der Dummheit und Raserei proprie [wörtlich] verstanden, und vermeint, sie müßte sich selber henken, wäre auch schon aufgestanden, und hätte sich nach einem Nagel umgesehen, wäre aber davon von andern Leuten, so dazu gekommen, gehindert, und vom Paroxysmo [Anfall] auch wieder befreiet worden. Was würden die Welt-Kinder, setzte sie hinzu, geurteilet haben, wenn Gott nicht solches bei mir gehindert? da würde Halle, und das Zucht-Haus, und Arnds Christentum haben herhalten, und die Schuld tragen müssen, als ob die Leute zur Verzweifelung, und zum Selbst-Mord dadurch verleitet würden.

Eine recht sehr seltsame Sache ist es auch, sowohl bei hitzigen Fiebern, als auch bei andern hitzigen Zufällen, sie mögen nun von Sorge, Furcht, Melancholei, oder andern Krankheiten entstehen, daß die Leute, so damit behaftet, des Nachts, wenn sie in der Angst und Hitze da liegen, im Gemüte verdrehet, und irre werden, so daß es ihnen vorkommt, als ob sie nicht allein, sondern als ob zwei Menschen im Bette lägen. Ich kann davon aus eigener Erfahrung zeugen. Da ich vor 3 Jahren die Hæmorrhoides cœcas ziemlich stark hatte, und manche Nacht nicht gar zu wohl davor schlafen kunte, deuchte mich einst auch, als ob wir unserer zwei wären, und als ob derjenige, der die Schmerzen hätte, ein anderer, als ich wäre. Nun, nun, dachte ich, wenn du willst die Schmerzen auf dich nehmen, so kann ich ruhig schlafen, und schlief auch in Wahrheit stark und feste, und der andere, oder vielmehr ich selber fühlte immer die Schmerzen neben bei in großem Maße, worüber ich des Morgens bald hätte lachen müssen. Doch zu einer andern Zeit, und in einem gewissen andern Jahre, war mir das Bild mit zwei Menschen gar nicht lächerlich; denn ich kunte mich dazumal auf gewisse Weise mit Tentzlern, dem Gärtner in dem ehemaligen Cobers Garten, vergleichen. Dieser kriegte im hitzigen Fieber auch die Einbildung von zwei Menschen, und als ob noch ein anderer Kerl neben ihm läge, und als ob derselbe ihn umbringen wollte. In der Dummheit schließt er wohl, daß eine Notwehre erlaubt sei, und daß es[188] nichts werde zu sagen haben, wenn er zuvorkomme, und vielmehr den garstigen Kerl umbringe, als daß er sich von ihm umbringen lasse. Aber, sehet da, was ihm vor ein Unglück hätte begegnen können! In der Fieber-Hitze confundiret er, und vermenget sich mit dem eingebildeten Kerle, der ihn töten wollen, und denkt nicht, daß er der Tentzler, sondern siehet sich selbst vor den fremden Kerl an, und kriegt sich selbst bei dem Leibe, sucht ein Messer, und will dem Kerl dasselbe in Leib stechen. Er hats uns mit allen diesen Umständen erzählet; und was ich damals kaum glauben kunte, kann ich nun jetzt gar wohl glauben, und wie es möglich sei, gar wohl begreifen. Hätte er es getan, und hätte er zu solcher Zeit in Schulden gesteckt, oder sonsten Verdruß in der Welt gehabt, alle Leute würden geurteilet haben, er habe mit Wissen, und Willen sich umgebracht.

Bei diesen jetzt angeführten Arten, und Weisen kann man gar leicht sehen, wie durch Beraubung des Verstandes bei denen, so mit dem Bilde des Selbst-Mordes geplaget werden, die Tat endlich erfolgen könne. Es ist aber noch eine andere Weise, die sich nicht so leicht, wie die vorigen, erklären läßt, wo man nicht auch die Beraubung des Verstandes, so endlich zuschlägt, zu Hülfe nehmen will. Denn bei solchem Bilde des Selbst-Mords, womit einige geplaget werden, ist nicht nur große Furcht und Einbildung, daß es geschehen werde, weil sie so viel Omina [Vorzeichen] und Anzeigungen entdecken, daß, wenn sie auch darnach wieder gesund werden, sich darüber verwundern müssen; sondern es vermehret auch diese Furcht die schreckliche Gewissens-Angst, so insgemein mit zuschläget. Sie kommen auf die Gedanken, weil sie eines solchen erbärmlichen Todes sterben werden, daß sie unter die Zahl der Verdammten gehören. Sie erschrecken vor dem ganzen Heer ihrer Sünden, so sie in ihrem Leben begangen, und fürchten sich nunmehr mehr vor der Höllen, als vor dem Untergang ihres Leibes. Möchte doch endlich ihr Tod geschehen, wie er wollte, wenn sie nur wüßten, daß sie nicht durch diesen Tod in den ewigen Tod verfielen. Es ist nicht zu sagen, was vor schreckliche Gedanken ihnen einfallen, insonderheit wenn der Tag kömmt, vor welchem sie sich so sehr gefürchtet, und von welchem sie gemeinet, daß es der letzte sein werde. Der Teufel muß unfehlbar da seine Hand im Werke haben. Deine Zeit ist aus, heißt es, nur fort, nur fort, kein Glaube ist in dir, dein Vertrauen ist zu lauter Verzweifelung ausgeschlagen; du bist mein, schieb es nur nicht auf; und was der schrecklichen Einfälle mehr sein, die in Menschen alsdenn hinein[189] stürmen. Ich geschweige, daß die große Furcht zu solcher Zeit macht, daß sie manchmal schreckliche Gestalten sehen, wie der obangeführten [S. 178.] Mäurerin auf der Sand-Gasse begegnet; die allem Ansehen nach kein schwacher Mensch vertragen kann, sondern eher in Feuer und Wasser springet; wie das Exempel derer, so am hitzigen Fieber liegen, ausweiset. Gott behüte alle Menschen vor diesem höchsten Grade der Anfechtung. Ich werde unten einen Ort aus Lutheri Schriften anführen, dem die Methode, wie der Teufel zu disputiren pfleget, gar wohl bekannt gewesen. Was es nun mit solchen Leuten endlich vor ein Ende nehme, daferne sie nämlich noch zur Tat schreiten: auf was vor einem Wege sie zur Tat kommen, ob sie in diesem Kampfe mit der Hölle, Sünde, und dem Satan ebenfalls des Verstandes beraubet werden; das ist mir noch unbekannt. Gewiß ist, daß dergleichen erbärmlicher Seelen-Kampf sich dann und wann bei solchen Leuten findet, die mit der Furcht und Einbildung geplaget werden: den, und den Tag wirst du dich selbst umbringen.

Quelle:
Bernd, Adam: Eigene Lebens-Beschreibung. München 1973, S. 184-190.
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