§ 74

[200] Nun ist noch übrig die Frage: Ob es denn auch solche böse Menschen gebe, die mit Wissen und Willen die Idée vom Selbst-Morde in ihrem Gehirne erwecken, eine rechte Neigung bekomemn, solchen zu verüben, und nach geschehener Überlegung mit völligem Verstande, und Vorsatz zu der Tat schreiten. Der Geheimde Rat Gundling trägt großes Bedenken, solche Frage zu bejahen. Die Wollüstigen, spricht er in einem Orte seiner Schriften, erschrecken, wenn sie nur einen Tropfen Bluts von ihrem Leibe sehen, geschweige denn, daß sie sich selbst töten sollten. Der Hochmütige hofft sich eher zu Tode, als daß er sich sollte zu Tode fürchten, und sich selbst umbringen. Seine Ehre ist ihm viel zu lieb, als daß er seinen Feinden eine solche Freude machen, und sich durch einen selbst erwählten Tod vor ihnen beschimpfen sollte. Der Phlegmaticus, der, wie das tote Meer, schier ohne alle Bewegungen und Affecten ist, nimmt keine Übel sonderlich zu Herzen, sondern kann solche mit Geduld ertragen, wenn anders das, was aus seinem Phlegmate, und aus seinem Geblüte herrühret, eine Geduld zu nennen ist. Also bleibt niemand übrig, als der Melancholicus, als der alleine wegen seines Temperaments geschickt ist, durch übermäßige Sorge und Furcht auf solche Gedanken zu verfallen, im Haupt verwüstet, seines Verstandes beraubet, und zu solcher Tat ohne Willen und Vorsatz gezogen zu werden.

Nun halte ich wohl selbst davor, daß es sehr selten geschehe, daß Leute mit völligem Verstande zu so einer Tat schreiten, vor welcher die ganze menschliche Natur erschrickt, und wovor alle Menschen natürlicher weise den größten Horrorem und Abscheu haben. Zwar wenn Selbst-Morde sich in einer Stadt ereignen, so werden die, so sich selbst getötet, insgemein von den Leuten angesehen als Menschen, die mit Verstande und Vorsatze solche Tat vorgenommen. Sie lassen nicht leicht die Entschuldigungen der andern gelten, welche solche betrübte Fälle einer Melancholie zuschreiben wollen. Sie wissen anzuführen, daß der, so sich[200] selbst umgebracht, in großen Schulden gesteckt: daß, so reich er auch noch gewesen sei, er um etliche hundert Taler betrogen, oder bestohlen worden, oder wegen Malversation [Korruption] die Absetzung von seinem Amte befürchtet: und daß er noch den Tag zuvor bei völligem Verstande gewesen1; das, meinen sie, sei die Ursache, die ihn dazu bewogen: er habe sich solche Übel so sehr zu Gemüte gezogen, und sei zu solchen traurigen[201] Entschließungen dadurch veranlasset worden. Allein das ist noch lange nicht genug, zu beweisen, daß ein solcher Mensch hernach mit Wissen und Willen, und mit völligem Verstande zu dieser Tat geschritten. Es kann sein, daß ein solcher Mensch aus Liebe der zeitlichen Glückseligkeit, in Furcht, Sorge, Angst, und Bangigkeit gesetzt, und dadurch, wenn sein Herze beklemmt, und sein Kopf heiß worden, das schreckliche Bild vom Selbst-Mord, wie wir oben gezeiget, ohne Vermuten und ohne Willen in seinem Haupte erwecket worden; welches hernach ihn gemartert und gequälet, durch schlaflose Nächte die Lebens-Geister ermüdet, und sie in eine gänzliche Verwirrung gebracht, so daß er hernach ohne Verstand, dessen Beraubung nicht allemal successive, und mit mähligem geschiehet, das getan, wovor er sich am allermeisten gefürchtet. Ja er kann auch Alters wegen, oder wegen anderer Ursachen einen so schwachen Leib, und schwache Lebens-Geister gehabt haben, so daß er auch keine mäßige Furcht, Zorn, und Sorge, die wegen Furcht, seine Ehre und Güter zu verlieren, bei ihm entstanden, vertragen können; die er sonst, wenn er noch den vorigen starken Leib und Gemüt gehabt hätte, den er ehemals gehabt, gar wohl würde haben vertragen können, und die Ursachen der Furcht und des Zornes als etwas Schlechtes und Geringes angesehen haben.

Ich muß mich nur vielmal verwundern über die Einfalt der Leute; die, wenn sie bei einem Begräbnis von dem Verstorbenen raisonniren, die Ursachen seines Todes auf ein Haar zu treffen vermeinen, wenn sie sagen, daß er sich über den, und den, oder über dies, und dies alteriret und erzürnet, und also durch Alteration den Tod sich zugezogen habe. Ich denke alsdenn vielmal: Warum hat er denn zu einer andern Zeit, da er sich eben so sehr, ja noch mehr alteriret, die Krankheit, und den Tod sich nicht zugezogen, da noch größere Übel vorhanden waren, so ihn zur Alteration veranlaßten? Ists nicht klar, daß er vor diesem jünger, und stärker am Leibe gewesen, und nun wegen Alter und Schwachheit, oder verschleimter Galle, und kränklicher Zufälle nicht das geringste Maß mehr eines nötigen, und sonst unsündlichen Zorns vertragen können? Ich habe dir oben erzählet [S. 166], daß ich einst in meinem Leibe so viel Disposition zum Zorn und Epilepsie mit herum getragen, daß ich auf die letzte [zuletzt] auch nicht simplicem noluntatem, und bloßen Unwillen, ohne Gefahr des Zornes, und des Ausbruchs der Krankheit ausüben können, und daß ich einst in einer Schule, da ich mich nur gegen einen Knaben zornig anstellen wollen, durch das Bild[202] eines Zornigen, das ich angenommen, den Leib gebildet, alteriret, und beweget, wie er bei einem wahrhaftig Zornigen zu sein pfleget, so daß ich nicht länger stehen können, sondern mich setzen müssen; und es mir bald wie dem bekannten Moliere gegangen wäre, der in einer seiner Commœdien, ich weiß nicht, ob krank, oder tot sich anstellen wollen, und dabei durch starke Einbildung seinem ohne Zweifel zu solcher Krankheit schon geschicktem Leibe die Krankheit, und den Tod zugezogen. Wäre mir es dazumal auch so gegangen, wie ich denn im Angesichte blaß, und nach dem Urteil des Informatoris [Lehrers] zornig genug aussahe, obgleich meine Seele vom Zorne nichts wußte, so daß die Krankheit bei mir ausgebrochen, und ich daran gestorben wäre; wie würde ich haben müssen herhalten! wie würde es geheißen haben: Sehet doch den groß sein wollenden Moralisten, er hat stets so stark vor die wahre Gottseligkeit, und vor die Sanftmut geeifert, und nun hat er sich über einen Jungen in der Schule erbost, daß er drüber sterben müssen!

So gehets auch hier zu mit solchen Leuten, von denen wir reden. Der arme Melancholicus, der von schwachem Leibe und schwachen Nerven, und dessen Imagination manchmal noch dazu mit dem Bilde des Selbst-Mords vergiftet und angestecket, wie die Frau M. Herrmannin, die ich oben angeführet, kann nichts mehr besorgen, sollten es auch nur Kleinigkeiten sein, die gar nichts heißen, und wo ein Gesunder und Starker den Augenblick die Resolution zu erfinden weiß. Bringe einen Melancholicum um etliche hundert Taler, wofern er durch die Religion zu einem guten Christen gemachet worden, er wird nicht geizig sein, wie unbekehrte Melancholici zu sein pflegen. In der Seele wird er wahrhaftig die hundert Taler vor nichts halten. Ist er doch bereit, alle sein Vermögen, ja wenn die Welt seine wäre, hinzugeben, wenn du ihn nur von dem Bilde des Selbst-Mordes befreien könntest, welches lange Zeit bei ihm zuvor, ehe er dieses Geldes verlustig worden, entstanden, und durch welches Bild er Tag und Nacht gequälet wird. Er kann aber in solchem Zustande auch nicht mehr die nötigste Sorge, und mäßige Betrübnis über solchen Verlust ausstehen, die man einem andern Menschen gar nicht vor übel würde halten. Gesetzt, der Dieb, der ihm das Geld entwendet, oder ihn darum betrogen, wäre in Loco [an Ort und Stelle], oder anders noch wo vorhanden; was machst du, was tust du, zu wem gehest du? verklagest du ihn, oder verklagst du ihn nicht? welchen Juristen nimmst du an? das sind lauter Dinge, die ihm so heiß und angst machen, daß er, Herr[203] Jesu erbarme dich mein, zu rufen und zu schreien anfangen wird, weil er nichts mehr besorgen kann. Will er sich des Dinges entschlagen, er kann nicht: will er den Verlust verschmerzen, da entstehet neue Furcht, Gott zu beleidigen: du machst die Gottlosen ärger, denkt er, wenn du schweigest, du bist Haushalter über Gottes Güter [vgl. 1. Kor. 4,1; Tit. 1,7]; und willst sie nicht retten: wie viel Gutes könntest du mit diesem Gelde den Armen tun, wenn du es wieder bekämest? etc. Das läßt ihn nicht schlafen; und wenn er eine Nacht nicht geschlafen, so wird er von den Dingen, die ihm den Kopf eingenommen, so schwach, daß er die andere Nacht wieder nicht schlafen kann. Nun verfällt er in die Krankheit derer, die mit schwachem Haupte beladen, und bei denen wider ihren Willen aus obangeführten Ursachen alle schreckliche Gedanken entstehen, die nur zu erdenken. Und wenn er auch zuvor noch nicht mit der Idée von dem Selbst-Mord per contagium phantasiæ [durch Einfluß der Phantasie] wäre angestecket worden, so wäre sein schwaches Haupt allein jetzund fähig, Kraft seiner andern Leibes-Schwachheit und morbi melancholici [Melancholie], dieses Bild im Haupte zu erwecken. Ja, wenn ihn diese Dinge, und die nötige Sorge, und die Anstalten, so er zu machen, sein Geld wieder zu bekommen, auch schlafen ließen; so ist die bloße Furcht, er werde diese, und diese Nacht nicht schlafen, schon zulänglich, zu machen, daß er würklich nicht schlafen kann. Denn daß er sich so fürchtet, zittert und bebet vor dem Nicht-schlafen, da hat er aus der Erfahrung, was die schlaflosen Nächte vor schwache Häupter, und vor schreckliche Zufälle Kraft derselben nach sich ziehen. Und wenn er sich auch nicht fürcht, daß er nicht schlafen werde, so ist die Furcht, daß er sich werde fürchten nicht zu schlafen, bei solchen Fällen und Unglück, so ihm zustoßen, schon fähig ihn des Schlafens zu berauben. Unaussprechlich ist die Subtilheit des menschlichen Gemüts, und unbegreiflich die Beschaffenheit unserer menschlichen Gemüts-Neigungen, und ihrer Würkungen.

Ich möchte bald wünschen, daß doch Gott alle starke Leute auf Erden nur eine Stunde das fühlen ließe, was die schwachen Naturen viel und lange Jahre fühlen, damit sie nur wüßten, wie den schwachen zu Mute wäre, und sie solche nicht länger vor Narren, noch, wie Schimmer in seinen geistlichen Erquick-Stunden, vor melancholische Grillen-Fänger hielten. Vor einigen Jahren mußte ich einst meine guten Freunde bitten, daß, wenn sie gesonnen wären, irgend etwan eine Spazier-Fahrt, oder sonst was anzustellen, und mich dazu zu ziehen, dieselben mich ja[204] nicht den Tag zuvor, sondern früh morgens fragen ließen, ob ich Compagnie mit machen wollte. Denn wenn ichs des Tages zuvor wußte, die Furcht, ich werde mich nicht entschließen können, ob ich ja, oder nein sprechen solle, hielt den Verstand gebunden, daß ich zur Resolution nicht kommen konnte, und die Furcht, ich werde nicht schlafen, ließ mich auch nicht schlafen. Ja möchtest du sagen: Wir müssen alles, auch den Schlaf verleugnen. Aber gar gut! Wenn du wüßtest, wie eine schlaflose Nacht an der andern hienge, und was ein schwaches Haupt, so daraus entstehet, vor erbärmlichen Zufällen [Zuständen] bei schwachen Naturen unterworfen, so würdest du bei diesem moralischen Lehr-Satz, der an und vor sich wohl wahr, auch allerhand Einschränkungen, und Trost vor schwache Gemüter machen müssen.

1

Ein trefflich Argument: Er ist gestern noch bei Verstande gewesen, Ergo muß ers heute auch noch gewesen sein. Es wird gewiß ein jeder ein ganz Jahr Zeit gebrauchen, ehe er vom Verstande kommt. Jetzt rede ich mit einem, der am hitzigen Fieber krank lieget, und er hat noch seinen völligen Verstand; ehe ich mich es aber versehe, und wenn ich noch vor seinem Bette sitze, fänget er an zu phantasiren. Und wenn der Melancholicus diese Minute noch Verstand hat; in dem Augenblick, und in der folgenden Minute kann er seinen Verstand verlieren, und also, so bald seine Leibes- und Gemüts-Krankheit in ein hitzig Fieber ausschlägt, oder der höchste Grad seiner Furcht und Einbildung die Lebens-Geister verwirret, nach dem Bilde und nach der Idée brutaliter agiren und tun, welche bisher ihn gequälet, und ihm stets im Sinne gelegen. So ist es auch ein schwacher Einwurf, wenn manche sagen: Er muß es doch mit Fleiß und mit Verstande getan haben, so daß er gewußt hat, was er tut; denn er hat sich zuvor verschlossen, daß ihn niemand an der Tat hindern könne. Ein närrischer Kerl, ein Delirans, Maniacus, Phreneticus, der verrückt im Gehirne, weiß gar wohl was er tut, wann er seinen Ofen einschlägt, die Fenster ausschmeißt, oder sein Geld zum Fenster hinaus wirft; deswegen folget es nicht, daß er bei Verstande sei; seine unrechte Perception und Sension [Wahrnehmung], die er nach der ersten Operation des Verstandes hat, da er sein Geld vielleicht vor Scherbel ansiehet; oder seine törichte Urteile, und falsche Schlüsse, die er fället und macht nach der andern [zweiten] und dritten Operation, und welche Ursache an seiner Tat sind, würden Beweises genug sein, daß er seiner Vernunft beraubet sei, daferne man solche nur wissen sollte. Mit dem Melancholico verhält es sich eben so, und ist da kein Unterschied, als daß, gleichwie jene durch den Affect der allzugroßen Freude, oder des Zorns, oder der venerischen Liebe, dieser hingegen durch allzugroße Furcht, Angst und Traurigkeit im Haupte verwirret und des Verstandes beraubet wird. Die Kärnerin, von der ich oben [S. 187] geredet, wußte in ihrer hitzigen Krankheit gar wohl, was sie tun wollte, als sie sich nach einem Nagel, und nach einem Strick umsahe; sie irrete aber im Urteilen, da sie auf den törichten Wahn in der Tummheit verfiel, als ob sie Christo gleich worden, und den alten Adam auf solche Weise kreuzigen müßte. (Ich wünschte eine Schrift zu lesen, in welcher deutlich gezeiget wäre, was zum Wesen eines verrückten Menschens, und verwirrten Verstandes erfordert werde.)

Quelle:
Bernd, Adam: Eigene Lebens-Beschreibung. München 1973, S. 200-205.
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