[220] Die unglückliche Schlacht bei Fraustadt im Früh-Jahr 1706 war kaum geschehen, so redeten die Schweden in Breslau schon davon, daß sie nun bald den Herren Sachsen in ihrem Lande eine Visite geben würden. Meine Freunde in Breslau schrieben mir solches gar zeitlich, und rieten mir also beizeiten nach Hause zu kommen. Ich hatte aber dazu keine Lust; denn die Zahl meiner Auditorum [Hörer] mehrte sich, und verdiente mit den Collegiis [Kursen] viel Geld. Ich hielt diesen Sommer einen Cursum hebraicum, ein Homiletico-Elaboratorium [Kurs zur Predigtausarbeitung], ein Disputatorio-Practicum [praktischer Disputationskurs], fieng auch die Theologiam Moralem [Moraltheologie] an zu lesen, der privatissimorum Collegiorum zu geschweigen. Ich erwähnte manchmal in Compagnie gegen die hiesigen Bürger des Einbruchs der Schweden, aber es war ihnen lächerlich. Endlich kam das Gerichte [Gerüchte] im Augusto unvermutlich, daß die Schweden im Anmarsche nach Sachsen wären, worüber bald die ganze Stadt in die höchste Verwirrung und Bestürzung gesetzet wurde. Der Rector Magnificus, D. Schamberger, war gestorben, und der Tag zu seiner Beerdigung angesetzt; es mußte aber wegen der seltsamen Bewegungen der Stadt, und wegen wichtiger Affairen des Magistrats auf dem Rat-Hause das Begräbnis 8 Tage aufgeschoben werden. Die Kirchen waren wegen Furcht und Schrecken der Leute Sonntags und in Bet-Stunden ganz voll; doch da in kurzem verlauten wollte, als ob es nur ein falsches Gerüchte gewesen, so keinen Grund hätte, so war die Menge der Zuhörer gar bald wieder, wie gewöhnlich. Licentiat Werner in der Neuen Kirche verwies ihnen solche Unbeständigkeit gar scharf. Vor 8 Tagen, sprach er, war die Kirche voll, und wolltet allen Heiligen die Füße abbeißen, da nur ein geringes Gerüchte vom Einbruche der Schweden erschallte; jetzt, da solches vergangen, lauft ihr schon wieder nach Golitz, so bald ihr nur vom Tische kommt, fresset und saufet, und treibet es ärger, als ihr es zuvor getrieben. Ich glaube, wenn ein einziger Schwede sich blicken ließe, ihr liefet wohl[220] alle aus Furcht davon, und ließet Krüge, und Gläser in den Schenken voll stehen. Als aber das Gerüchte hernach von neuem, und mit größerer Gewißheit wieder kam, und man sichere Nachricht hatte, daß der König in Schweden bei Steinau über die Oder gegangen wäre, so war die Furcht, und bei vielen die heuchlerische Andacht desto größer. Da sahe man blasse Angesichter, und Tränen auf den Gassen, und in Kirchen: da hörete man in Häusern mehr singen, als sonst in Fleisch-Bänken [Metzgereien], und im Schuster-Gäßgen, wenn ein Donner-Wetter am Himmel stehet. Da gieng es an ein Flüchten, und Räumen, und Wegziehen aus der Stadt. Sowohl reiche als gemeine Leute schafften ihre Weiber und Kinder, und das Beste von ihren Gütern nach Halle, und in umliegende sichere Örter. Professor Pfautz schickt auch einen ganzen Wagen voll Gerät nach Halle; sein Sohn aber, wie man mir erzählet, rauchte eine Pfeife Tabak auf dem Wagen, und da aus Unvorsichtigkeit der Wagen in Brand geriet, konnte niemand löschen, so daß der Wagen im Feuer aufgieng, und wenig oder nichts von den Gütern salviret wurde. Der alte D. Rechenberg aber sagte: Wer glaubt, der fleucht nicht [Jes. 28,16]: man hat auch nicht gehöret, daß er gleich den andern geflüchtet hätte.
Die Furcht und Schrecken der Inwohner ward noch größer, als unser König ein Regiment Soldaten in die Stadt legte, und solche die Brust-Wehre auf den Wällen, und die Contrescarpe [Außenmauer] repariren mußten, gleich als ob es zu einer Belagerung kommen dürfte; wiewohl hiervon einer dieses, ein anderer jenes urteilte. Nun gieng die Not, und das Laufen, und das Flüchten erst recht an. M. Weise vergaß in der Bet-Stunde einst das Vater Unser; glaube aber nicht, daß es aus Angst und Furcht geschehen; indem der Mann in seinem Leben jederzeit von großem Herzen, und Vertrauen gewesen. Ich aber, weil ich auf dem roten Collegio auf das Wall hinaus wohnte, hätte bald allen Mut und Herzhaftigkeit verloren. Denn da ich die Soldaten über der Brust-Wehre so beschäftiget sahe, so konnte ich im Collegio hebraico lectorio [hebräischen Lektürekurs] vor Zittern kaum mehr die hebräische Bibel halten: recht so, wie ein gewisser anderer Mann, von dem man sich mehr Courage, als von mir einbilden sollte, vor einigen Jahren in seinem Collegio das Manuscript kaum mehr in Händen vor Zittern halten kunte, als ihm das Predigen bei seinem Amte auf eine Zeit lang untersaget wurde, und zu lesen aufhören mußte. Ohngefähr den letzten Sonntag zuvor, ehe die Schweden hier in die Stadt einzogen,[221] war ich nach Zeschen bei Merseburg mit etlichen spazieren gangen, einen Anverwandten des Wittigs, meines ehemaligen Famuli, zu besuchen, der nicht ersoffen war, sich auch nicht ersäuft hatte, sondern den ich in Zeschen das Jahr zuvor zu meiner großen Freude noch lebend wieder gefunden hatte. Im Heimwege war es recht erbärmlich anzusehen. Die Straße war mit lauter Kutschen, und großen Fracht-Wagen besetzt bis nach Leipzig; zehen mal mehr, als es zur Zeit der Messe zu sein pfleget. Und als ich wieder in die Stadt herein kam, so stunden alle Gassen, ob es gleich Sonntag war, noch voller Wagen, und war alles bis in die späte Nacht in großer Bewegung, so daß es schiene, als ob sie Leipzig aus Leipzig wegführen wollten. Die Gassen waren im übrigen so leer von Menschen, als ob es ausgestorben wäre. Die Studiosi hatten auch, bis auf etliche wenige, so aus Mangel des Geldes zurücke bleiben mußten, Ausreiß gegeben, und waren zum Teil Caravanen-weise zu Fuße nach Hause, und die, so nach Schlesien giengen, durch die Schwedische Armée durch-passiret, und vom Könige in Schweden selbst ermahnet worden, wieder umzukehren, mit der Versicherung, daß sie niemand im Studiren hindern sollte.