Anno 1706
§ 85

[222] Mir gieng diese Fatalität und Unruhe der Stadt sehr zu Herzen; ja ich war auch wegen meines eigenen Unglücks, so damit verknüpft, nicht wenig bekümmert. Ich saß in erwünschter Ruhe, und kam solche Unruhe. Ich verdiente mit Collegiis schön Geld, und durfte vor nichts sorgen: wovon sollte ich nun leben, und wo sollte ich mich hinwenden? Die Studiosi waren mir bis 90 Taler vor Collegia schuldig, die meisten aber davon hatten die Flucht ergriffen, und die, so noch zugegen, hatten kein Geld mich zu bezahlen. An Breslau durfte ich nicht gedenken; denn ich fürchtete den Zorn und Haß des Herrn Inspectors, und den Verdacht, in welchen ich wegen vor besagten Briefes bei ihm geraten. Auf meine Not-Pfennige, so ich zurücke geleget, war auch schlecht Vertrauen zu setzen; denn sie konnten nicht ewig währen. Bücher hatte ich etliche Schlag-Fässer [Große Transportfässer] voll, aber niemand wollte sie kaufen, zu einer Zeit, da auch in der Auction die Bücher spottwohlfeil weggiengen. Da ich in solcher Not nicht wußte, was ich resolviren [beschließen] sollte; siehe, so kam ein Brief aus Breslau an, in welchem[222] ich invitiret [eingeladen] wurde, eine Gast-Predigt in Rawitsch in Polen zu tun. Der Bürgermeister von Rawitsch, der Herr von Stein, kehrte bei dem Herrn D. Kaltschmidten ein, wenn er in Breslau war; und dieser mein ehemaliger Hospes hatte mich bei dem damaligen vacanten Diaconat vorgeschlagen, und bestens recommendiret [empfohlen]. Ich sollte mit ehester Post antworten, was ich zu tun gesonnen, so würde man mir fernere Ordre zuschicken, und die Zeit bestimmen, wenn ich kommen, und wenn ich predigen sollte. Wer war froher, als ich, und wer dankte Gott mehr vor die wunderbare Schickung, als ich? Ich schrieb, ich wollte kommen; weil aber in Leipzig eine Belagerung zu befürchten, und ich in der Stadt gar leicht möchte eingeschlossen werden, so würde ich nach Halle gehen, und da fernere Befehle, und specielle Invitation erwarten. Ich tat es, und zohe [zog] gleich nach Halle, da die Trouppen aus Leipzig wieder ausmarschierten, und mußte anderthalben Taler vor 1 Zentner Gut nach Halle zahlen, da man sonst vielleicht nur 6 oder 8 Gr. zu geben pfleget. In Halle sah man halb Leipzig auf den Gassen der Stadt; und des Abends das Leipziger Frauenzimmer, und auch wohl Huren mit unter auf dem Merkte in großer Menge. Der Satan hatte sie vergessen lassen alle ihr Unglück, und Gefahr, in welcher sie geschwebet, und waren nie ärger gewesen, als nun, da sie aus der Falle, und aus dem Käficht entwischt waren. Die Prediger in Halle gaben von den Kanzeln auf die leichtsinnigen sächsischen Weibes-Bilder horribel Feuer, ärger als die Schweden bei Fraustadt auf die Sachsen; insonderheit der Herr M. Schumann, jetziger Hof-Prediger in Weisenfels. Sie hätten aus Leipzig ein Sodom gemacht, sagte einst ein Prediger, den ich hörte, und nun wollten sie Halle in ein Gomorra verwandeln, und mit ihren Sünden, mit ihrer Hoffart, und Unzucht auch Halle anstecken.

Quelle:
Bernd, Adam: Eigene Lebens-Beschreibung. München 1973, S. 222-223.
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