[173] Wie werde ich wohl je dieses Ostern, das ich zum erstenmal in Hamburg verlebte, vergessen! Früh läuteten alle Glocken so feierlich zur Kirche. Da ging ich mit Marie, dem Kleinmädchen, in St. Georg in den Gottesdienst. – Ich muß gestehen, es hat lange gedauert, ehe ich mich an die Predigtweise der Hamburger Pastoren gewöhnen konnte. Was sie sagten, war mir zu schwer und zu hoch, sie waren räumlich so weit von mir geschieden, und in der Predigt berührten sie so allgemeine Zustände, für die ich noch keine Erfahrung haben konnte.
Heute war dies anders. Es war eine Osterpredigt, die hatte ich daheim in ähnlicher Auffassung gehört, und ich konnte innerlich anknüpfen. Daß ich heute einmal eine Beziehung zwischen der Kirche und mir gefunden hatte, das hob mich, und gab mir eine gewisse Befriedigung. Ich kam innerlich dankbar und froh nach Hause. Als ich unten Hut und Mantel ablegte, erstaunte ich nicht wenig, als plötzlich über mir eine muntere Stimme rief: »Du! – guck mal – wer hier ist?! –«
Ja, wer war denn da? Das war doch Meta aus der Elephantenapotheke!
»Aber,« sagte ich halb erschrocken, halb erfreut, »wie kommst denn du hierher, Meta?!«
Lachend, mir freundlich zunickend, plaudernd kam sie mir entgegen, umfaßte mich zärtlich und ging mit auf mein Zimmer.
»Meta!« sagte ich, mich scheu umsehend, »sei lieber nicht so laut, es könnte dich jemand hören.«
»Nun, was tut's denn, wenn mich jemand hört! Du bist ja komisch in deiner Angst! Wenn mich nun jemand hört, – ich sage doch nichts Böses!«[173]
»Nein,« sagte ich, »aber ich weiß nicht, ob ich Besuch haben darf.«
»Aber ich weiß es,« rief sie triumphierend, »du darfst mich heute haben, denn ich bin expreß eingeladen!«
»Du – wärest – eingeladen?! –« fragte ich erstaunt. –
»Glaubst du, meine Mama würde mich sonst her lassen? O, da kennst du uns schlecht!«
»Ich begreife nur gar nicht! Bist du denn für mich eingeladen?«
»Für wen wohl sonst?«
»Wer kann es denn getan haben! – Das ist ja, – das ist ja ganz unbegreiflich gütig! – Frau Doktor weiß aber doch gar nichts von dir!«
»Ach, bist du eine kleine, schwerfällige Person! Du kannst doch auch sonst jemandem von mir erzählt haben! Hast du das getan?«
»Ja, Lissette!«
»Na, siehst du! Das Fräulein hat in Frau Doktor Namen eingeladen.« Dabei gab Meta mir einen Kuß und sagte: »So, jetzt klingelt's, nun gehen wir zu Tisch.«
Heute, zur Feier des Tages aßen Herr und Frau Doktor mit uns. – Wie froh und leicht fühlte ich mich. – Nach Tisch sagte Frau Doktor:
»So Kinder, jetzt zieht euch zum Ausgehen recht nett an.«
Vor der Tür hielt ein Zweispänner, Herr und Frau Doktor setzten sich auf den Vordersitz, Hans kletterte auf den Bock zum Kutscher, und Meta und ich setzten uns Doktors gegenüber.
»Zum Borsteler Jäger!« rief Herr Doktor, und fort ging's in dem schönen Gefährt. – Mein Herz war voller Dank und Staunen, ich hatte aber nicht den Mut, mein[174] Gefühle zu äußern. – Welch' buntes Leben! Ganz Hamburg schien auf den Beinen zu sein. Und so geputzt und so lebenslustig sahen sie alle aus. – Meta und ich drückten einander vor Wonne die Hände, daß sie schmerzten. – Und endlich waren wir da! Ja, hier war's schön! Kein Großstadtdunst, – kein Nebel, – dagegen eine milde Sonne, ein blauer Himmel, und überall knospendes Leben:
»Die ersten Blumen tauchen
Aus grünem Wiesenplan,
Und schaun mit Kindesaugen
Uns frühlingsgläubig an.
Im maiengrünen Kleide,
Mit Blüten reich gestickt,
Hat sich zur Osterfreude
Ein jeder Baum geschmückt.«
(Horn.)
Dazu sangen die Vögel ihre süßen Weisen, grade wie sie es daheim im Muldental auch getan hatten. Ihre Lieder klangen nach Lust, Liebe und Leben. Tief atmeten wir die reine Luft ein, und dann fielen wir jubelnd über die Blumen her. So viele waren hier! Wir pflückten dicke Sträuße, Buschwindröschen und Himmelsschlüssel. Meta hatte ihren Mantel in den Wagen gelegt, sie war so eifrig im Pflücken, daß es aussah, als nicke sie jedem Blümchen einzeln zu. Ich stand still und sah zu. Ja, Meta und die Buschwindröschen hatten entschieden große Ähnlichkeit miteinander. Die kleine bleiche Blumenkrone sitzt grade so beweglich und anmutig auf dem dünnen Stiel, wie Metas hübscher Kopf auf dem schlanken, weißen Hals. Die weißen Blättchen zeigen auch einen leisen Anflug von Rot. Und bei jedem leisen Windhauch nicken sie auch, grade wie Meta. Zittert ihr denn, ihr kleinen Blümchen? Wollt ihr nicht gepflückt sein?« –[175]
»Was siehst du mich denn so an?« fragt Meta mich. Ich erschrecke, sage aber nichts, ich pflücke jetzt auch. –
»So, Kinder!« Es ist Herrn Doktors Stimme, die durch das Wäldchen schallt, »nun seht 'mal zu, wo der Osterhase Eier gelegt hat!«
Hans und Meta brauchten keine Erklärung, ich aber stand und sah fragend auf die anderen, ich hatte keine Erfahrungen für dergleichen Freuden und Scherze. Ich beneidete Meta, wie schnell und selbstverständlich sie sich in Menschen und Verhältnisse fand, ihr Liebreiz, ihre Anmut eroberten ihr sofort aller Herzen. Wie stocksteif war ich daneben!
»Meta,« sagte Herr Doktor jetzt, »was kriegt der wohl, der die meisten Eier findet?«
»O, natürlich, das schönste und größte Zuckerei!« sagte sie schlagfertig.
»Sieh mal an!« sagte Herr Doktor und lachte, »du möchtest es wohl gern haben?«
»Hm!« sagte sie, »wenn ich es auf ehrliche Weise erringen kann? – Aber du,« sagt sie jetzt zu mir, »da stehst du wie ein Pfahl, wenn du so faul bist, muß ich ja den Preis bekommen. – Bitte, Frau Doktor,« wandte sie sich an diese, »nicht französisch sprechen, ich verstehe die Hauptsache, und dann ist's doch nicht gültig, wenn ich weiß, wo die Eier versteckt sind.«
»Was?« sagt Frau Doktor erstaunt, »bist du schon so weit im Französisch?«
»Ich bin doch schon im großen, Plötz',« sagt Meta mit komischem Stolz, und Doktors lachen belustigt, und ich sehe ihnen an, wie sie sich über Meta freuen.
Nun wird eifrig gesucht und richtig: Meta zieht mit dem Preis ab. Sie bekommt ein Riesenei, und die Freude färbt die bleichen Wangen mit zartem Rot. Oben[176] ist das Ei mit Blumen bemalt, aber ich sehe mit Staunen, daß man es öffnen kann und drinnen! Nein, ist das eine Pracht, da ist im Vordergrund eine winzige Landschaft von richtigem Moos und Blumen, und dahinter leuchtet eine rotgoldene Sonne! Wir betrachten die hübsche Spielerei höchst erstaunt, da sagt Meta, und legt sinnend ihr Köpfchen auf die Seite: »Herr Doktor, soll das nun die aufgehende oder die untergehende Sonne vorstellen?«
»Kind, das halte, wie du willst,« sagt Herr Doktor gütig.
Da fällt mir die Predigt von heute früh ein, und ich flüstere stockend:
»Meta, – es ist die aufgehende Sonne! Weißt du nicht? – Es ist doch heute Ostern, – Ostern ist doch das Fest der Auferstehung!«
»Ja natürlich«, – du hast recht.«
Meta sieht mich mit ihren hübschen blauen Augen groß und fragend an. »Ja, ja!« sagt sie leise, »Ostern! – Schön! – nicht wahr?«
Die Freude an meinem lieben Buschwindröschen war nur kurz, und doch hatte ich sie so lieb, war sie neben Madame Piepenbrink doch mit die erste gewesen, die mich in der Fremde so ohne Stolz und Dünkel aufgenommen hatte; mein ganzes Herz schlug ihr in Liebe entgegen, für ihre warmherzige, kindliche Freundlichkeit. Ich hatte schon oft die Erfahrung gemacht, daß schon Kinder recht grausam und unkindlich zueinander sein können, weil sie, – ohne ihr Zutun – ein besseres Gewand anhaben.
Nun kam einer, der pflückte sich einen Strauß, er nahm auch Frühlingsblumen, solche wie Buschwindröschen und Himmelsschlüssel. Seine Hand war aber kalt, so daß die Blumen die Köpfchen hängen ließen. Aber[177] getrost! – Haben wir nicht ein Ostern? – Es ist doch die aufgehende Sonne! – Siehst du sie? –«
Buchempfehlung
Im Alter von 13 Jahren begann Annette von Droste-Hülshoff die Arbeit an dieser zarten, sinnlichen Novelle. Mit 28 legt sie sie zur Seite und lässt die Geschichte um Krankheit, Versehrung und Sterblichkeit unvollendet.
48 Seiten, 4.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.
444 Seiten, 19.80 Euro