Der große Junge

[484] Da war doch entschieden etwas los! Der ganze Laden voll Frauen! Fünf! Ich konnte ja kaum noch Platz finden. Von der gewöhnlichen Zurückhaltung war heute nichts zu merken, sie waren ganz erregt. Was war denn passiert? Als ich eine Weile zugehört hatte, kam ich dahinter. Der »Gammelgaard« (der alte Hof), der als halbe Ruine jahrelang unbewohnt gewesen war, der sollte niedergerissen und auf dem Platz eine Bäckerei erbaut werden. Ein junger Mann aus Scherrebeck hatte den Mut, hier sein Geschäft zu eröffnen. Es wurde eifrig verhandelt, ob der sich würde halten können.

Und gleich noch eine Neuigkeit wurde mitgeteilt: alle drei Wochen, so sagte man, werde ganz von Gramm herüber ein Schlachter durch die Gegend fahren. Also Brot und Fleisch in Aussicht. Welcher Fortschritt! Gewiß, es ging mir jetzt besser mit dem Backen, aber mit dem Mann aus Höxbro hatte ich doch auch jetzt noch lieber zu tun, als daß ich es selbst riskierte. Also ein Hausbau das aufregende Ereignis der ganzen Gemeinde. Mir fiel Klaus Groths Trina ein, wo auch ein Hausbau das Ereignis des Tages war.

Da wir gute Kunden beim Bäcker wurden, war er geneigt, uns gefällig zu sein. Wir fragten, ob er uns auch Milch verkaufen würde.

Ein tägliches Quantum wurde festgesetzt, und wir schafften die Landwirtschaft ab.

Das Gras, das in unserem großen Garten wuchs, schenkten wir Jakob und Christiane, die dadurch täglich[484] mit ihrer Sense und Schiebkarre bei uns einkehrten. Bei der Gelegenheit hörte ich von ihrem Tun und Treiben. Christiane erzählte, wie sie früh um vier her, aus müsse, um bei anderen Leuten die Felder zu jäten, während Jakob beim Torfstechen beschäftigt sei.

»Und was machen Sie unterdessen mit den Kindern?« fragte ich.

»Erst mal lasse ich sie schlafen. Wenn ich nach Hause komme, versorge ich sie, und dann lasse ich sie alle hinaus, damit sie mir aber nicht in die Mergelkuhle fallen, pflocke ich sie an einer Leine an, gerade wie die Schafe. Das können sie ja aushalten, sie sind in der frischen Luft und können sich so weit bewegen, wie die Leine reicht.«

Dann mähte sie, ich aber ging zu meinem Mann und beriet mich mit ihm. Er sagte: »Siehst du wohl! Wenn man nur Geduld hat, mit der Zeit macht sich alles! Ist das nun nicht viel besser, als wenn du den Frauen deine Ansichten über Erziehung auseinandersetzest?«

Ich ging nun zu Christiane und sagte ihr, sie möge ihre Kinder zu uns bringen, wir wollten sie besorgen, sie könne sie am Abend wieder holen.

Jetzt hatten wir einen Kindergarten!

Für unsere beiden war das ein besonderer Spaß. Sie wuschen die Kleineren, fütterten sie, und mit den Größeren spielten sie dänische Kreisspiele, am besten konnten die kleinen Kaltofts das Spottlied auf die Mönche, das mit seinem Inhalt ins Mittelalter reicht. Es heißt in der Übersetzung:[485]


»Der Mönch geht durch die Heide

Den langen Sommertag.

Im grauen Wollenkleide,

Den langen Sommertag.


Er pflückt die roten Beeren,

Er pflückt das grüne Kraut,

Des Herzens tief Begehren

Ist nur das Liebchen traut.


Jetzt endlich, da kommt aus dem Haus sie heraus,

Er breitet zum Tanze die Kutte ihr aus.

Hei! Wie sie nun tanzen und stampfen dazu,

Als wären gestohlen die Strümpfe und Schuh.«


Erst mal richteten wir uns danach, was die kleinen Gäste konnten, ganz sachte zogen wir sie zu den Beschäftigungen und Spielen der unsrigen heran. Am eifrigsten waren alle, wenn die Obsternte beschickt wurde. An den schönen Herbsttagen war das Ernten ein Fest, aber wenn Sturm und Regen alles heruntergepeitscht hatte, da war das Ernten eine ungesunde und beschwerliche Arbeit.

Zum Winter spannen wir uns wieder ein, da machten die Kinder an den langen Winterabenden Handarbeiten, und wir halfen ihnen. Die angefertigten Fröbelschen Arbeiten mußten sie selbst pappen. Im Sommer hatten wir Blumen gepreßt, die wurden nun zu Sträußchen geordnet und zu Lampenschirmen verarbeitet. Gelegentlich las ich meine selbstgeschriebenen kleinen Skizzen vor, und wir planten gemeinschaftlich die nächste, kleine Erzählung. Mein Publikum ging sehr streng ins Gericht mir mir, aber glückliche Zeiten waren das.

Chary hatte ein hübsches Zeichentalent, und gelegentlich[486] hatte ich ihre kleinen Bildchen zu Frau Doktor Meyer geschickt, die immer viel Teilnahme dafür zeigte.

Eines Tages erhielt ich einen Brief folgenden Inhalts:


Liebe Charitas!


Ich komme heute mit einer Bitte zu Dir. Ich habe in Hamburg einen Knaben kennen gelernt, der lange krank war. Jetzt ist er so weit hergestellt, daß er wieder auf ist, er ist aber sehr zart, und ich möchte ihm gern zu einem längeren Landaufenthalt verhelfen. Die Eltern sind arm und können nichts für das Kind tun. Jetzt frage ich bei Euch an, ob Ihr Heiny wohl einige Wochen bei Euch aufnehmen würdet. Was Ihr an ihm tut, wird Euch reichlich durch ihn selbst vergolten werden.

Er ist ein freundliches, liebenswürdiges Kind, und ich bin überzeugt, er wird Dein ganzes Herz gewinnen. Da auch er große Freude am Zeichnen hat, so denke ich, Chary und er könnten nach Herzenslust zusammen zeichnen. Der Arzt sagt, er soll recht viel Milch trinken. Willst Du dafür sorgen, daß er die bekommt? Sobald ich Antwort habe, teile ich Euch seine Ankunft mit. Dein Mann ist wohl so freundlich und holt ihn in Scherrebeck ab. Herzlichst

Marie Meyer.


Das gab bei den Kindern eine große Aufregung. Ich selbst nahm allerlei Vorbereitungen vor. Die nach Westen gelegene Stube war nicht tapeziert, ich mußte sie noch mit Kalkwasser überstreichen, ich tat etwas rote Farbe dazu, nun wurde es ein hartes Rosa. Die Kinder[487] hatten tausenderlei Pläne. Das war doch zu aufregend, daß ein Junge in unser Haus kam. Sie kannten nur den buckligen Peter von Schusters, der so schöne, traurige Lieder auf der Ziehharmonika spielte. Was konnten sie tun, um Heiny würdig zu empfangen? In ihrem Garten wollten sie eine Bank und einen Tisch aufstellen, da wollten sie mit ihm sitzen und spielen. Sie liefen in die Scheune und holten das Material. Mein Mann gab ihnen die Stämme und Bretter, aber rammen und nageln wollten sie selbst. Da stand auch schließlich etwas, das dem ähnlich sah, was sie sich vorstellten. Nun wollten sie von der Mutter die Wasserfarbe.[488]

»Das geht nicht,« sagte ich, »das muß mit Ölfarbe gemacht werden, und die habe ich nicht.«


Der große Junge

Es half mir nichts. Tisch und Bank schimmerten rosa. »Gut, macht eure Erfahrungen!« sagte ich.


Der große Junge

Dann kam endlich der ersehnte Wagen. Zunächst enttäuschte Gesichter. Der war ja ebenso groß wie die Mutter! Und sie hatten sich einen kleinen Jungen gewünscht, mit dem sie herum hätscheln konnten, aber der war ja schon fünfzehn Jahr! Lang aufgeschossen, schmalbrüstig, bleich war er. Er hatte freundliche, blaue Augen und rotblondes Haar. Seine Augenbrauen und Wimpern sahen aus, als ob eine leichte Hand Goldstaub[489] darüber gestreut hätte. Sein Teint war durchsichtig und zart. Schüchtern und fremd standen beide der neuen Erscheinung gegenüber. Nach dem Essen führten sie den Gast in ihren Garten und nötigten ihn auf die rosa Bank. Wenn sie zusammenrückten, konnte noch eine mit ihm Platz finden. Sie wollten abwechselnd sitzen. Da –! Ein lauter Schrei aus drei Kehlen. Heiny und Käthe lagen zappelnd in einem Stachelbeerbusch. Ich sammelte sie auf und tröstete sie.

»Nun sieh dein blaues Kleid an! Habe ich euch nicht gesagt, es würde abfärben?«

Aber mit dem Fremdsein war's vorbei.

Heiny holte Hammer, und Nagelkasten, und nun kriegte die Sache einen anderen Schick. Ja, das war ein Spielgefährte! So geschickt! Was konnte der alles für die Puppenstube schnitzen. Wie konnte der erzählen!

Und einen Malkasten hatte er mit, mit dessen Hilfe konnte er ihnen malen, was sie nur wünschten. Der Tag war immer zu kurz. Er ging auf jedes Spiel ein, und wie schön lang waren die Sommertage. Am Vormittag zogen sie mit Klappstühlen hinaus in Feld und Heide. Heiny und Chary mit Skizzenbuch und Bleistift, die kleine Käthe setzte sich dahinter und hielt über die beiden den gelben Kalikoschirm.

Erst zum Essen stellten sie sich wieder mit gutem Appetit ein. Auf meine Vorfrage beim Bäcker, ob wir mehr Milch bekommen könnten, bekam ich abschlägigen Bescheid. Was sollte ich da mit Heiny machen? Der sollte ja viel Milch trinken!

Ich dachte eine Weile nach, dann sagte ich: »Weißt du Heiny, was wir tun? Wenn ich am Nachmittag[490] fertig bin, gehen wir von Hof zu Hof, alle zusammen. Ich geh' mit euch. Du zeichnest die Bauern, für jedes Bild geben sie dir ein Glas Milch, oder, – je nachdem sie deine Kunst einschätzen, – auch mehr. Zeit haben wir, du machst dir jedesmal auch ein Bild für dein Skizzenbuch.«

Und schon am Tage darauf unternahmen wir unsere Kunstreise zu vieren. Es war, wie ich vermutete: die Bauern hatten ihren Spaß an der Bildermacherei, und manche erzählten mir umständlich, daß sie in Riepen gewesen wären, um da auch Bilder von sich machen zu lassen, aber die hätten das ganz anders gemacht.

Als sie sahen, wie zart der Junge aussah, kam es ihnen auf ein Glas Milch nicht an, bewahre! er sollte nur tüchtig trinken.

Ich spielte die Rolle des Kunstkritikers.

Das war eine muntere, glückliche Zeit, und Heiny erholte sich zusehends an der nordschleswigschen Milch.

Als der Sommer schwand, reiste Heiny wieder nach Hause. Die Kinder weinten ihm viele Tränen nach. Zur Erinnerung an diese anregenden Sommerwochen ließ er mehrere seiner Zeichnungen in unsern Händen.[491]

Quelle:
Bischoff, Charitas: Bilder aus meinem Leben. Berlin 1912, S. 484-492.
Lizenz:
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