Jeß Lind

[432] Der Düngerhaufen war keine Zierde für unsern Hof, wir überlegten, daß es besser sei, wenn er hinter den Stall käme. Wer aber würde das Pflaster wegnehmen und den Boden umgraben? An Stelle des Düngerhaufens sollte eine hübsche Anpflanzung kommen. Auf unsere Erkundigungen wurde meinem Mann Jeß Lind empfohlen, er sei Mergelgräber, wisse mit dem Spaten Bescheid, und da er selbst keinen Hof habe, arbeite er für Taglohn.

Jeß Lind kam. Er war ein großer, vierschrötiger, blonder Mensch mit hellblauen Augen. Den groben Händen sah man den Beruf an. Mein Mann setzte ihm auseinander, wie er sich's dachte; nicht so ganz glatt weg, so ein bißchen wellenförmig sollte das Terrain geformt werden. Jeß nickte, hörte aufmerksam zu und verfolgte mit Interesse die Zeichnung, die mein Mann flüchtig hinwarf. Da er die Mahlzeiten mit uns teilte, wurde er nach einigen Tagen ganz zutraulich zu uns. Einmal, als er gerade sein Frühstück mit uns verzehrte, fiel es mir auf, daß er heute verlegen und merkwürdig unruhig war. Er räusperte sich, stand auf, suchte in der Tasche seiner Joppe, die auf einem Stuhl lag, kam aber zu keinem Entschluß. Ich dachte: ›Der hat natürlich irgendein Schriftstück, vielleicht vom Gericht, das er nicht lesen kann, weil es deutsch ist.‹

»Können wir Ihnen in irgendeiner Weise dienen, Jeß?«

Der große Mensch war wie mit Blut übergossen, er stotterte verlegen, griff wieder nach der Joppe, sah uns zögernd an und überlegte.[432]

»Na, nur zu!« sagte mein Mann, »wollen Sie lieber mit mir allein sprechen?« und mein Mann erhob sich.

»Nein,« sagte Jeß, »nein, Fruen darf gern dabei sein! Ich wollte Ihnen nur dies mal zeigen.«

Da war endlich das Päckchen! Er nahm das Seidenpapier behutsam ab und hielt uns ein Relief aus hellem Holz hin. Es war eine seine Schnitzerei: »Der Sommer«, nach Thorwaldsen. Wir sahen einander erstaunt an, dann rief mein Mann mit warmer Anerkennung: »Das ist ja ganz prächtig! Wer hat denn das geschnitzt?«

Jeß' Gesicht strahlte! Mit stolzer Bescheidenheit flüsterte er: »Das hab' ich gemacht!«

»Sie, Jeß?« sagte mein Mann, »das haben Sie ja aber sein herausgearbeitet! Das ist Ihnen wirklich gut gelungen! Da haben Sie wohl schon viel geschnitzt, denn dieses hier läßt auf viel Übung schließen.«

Jeß hielt den Kopf schief und betrachtete verliebt sein Kunstwerk, dann sagte er: »Mit dem Schnitzen von Holzlöffeln habe ich angefangen. Sie wissen ja, wie lang die Winterabende sind. Was soll unsereiner tun? Mit dem Bauer Karten spielen? Viele tun's. Ich mochte es nicht. Ich wollte so gern recht was Schönes machen. Ich verzierte die Löffel, schnitzte Blumen und Blätter an den Stiel. Ich verkaufte die Löffel bei seinen Leuten, na, so in Pastoraten in der Umgegend; ich bin auch in Riepen damit gewesen, und in diesen Häusern habe ich solche Dinge gesehen, wie dies, aber nicht geschnitzt. In Riepen gibt's einen Laden, da kann man die Dinger kaufen, vier gibt's davon. Ich hab'[433] sie mir alle vier gekauft und hab's in Lindenholz nachgemacht. Und Sie finden es gut?«

»Ausgezeichnet!« sagte mein Mann.

»O,« sagte er, »da kann ich Ihnen noch eins zeigen, ich habe David, wie er die Harfe spielt.«

»Wo haben Sie denn das gesehen?«

»Das hängt doch in Marmor im Riepener Dom! Haben Sie es denn gar nicht gesehen?«

Er erzählte uns dann, daß er von seinem ersparten Lohn schon einmal eine Reise nach Kopenhagen gemacht habe. Die Pastoren in der Umgegend hatten ihm gesagt, da sei das Thorwaldsen-Museum, das müsse er sich einmal ansehen. Er habe sich lange da aufgehalten, sei auch in der Frauenkirche gewesen, wo Christus mit den Aposteln stehe. Das sei alles wunderschön gewesen, sonst – die hohen Häuser!

Hätte man in dem Kuhlengräber diesen Idealismus gesucht?

Ich bat ihn, mir das Relief auf einige Zeit zu borgen.

Ich packte es ein und schickte es an Doktor Meyers nach Forsteck und schrieb einen Brief dazu.

Es dauerte eine ganze Weile, ehe das Paket zurückkam. Frau Doktor schrieb: »Brief und Inhalt haben uns sehr interessiert, und wir haben beraten, ob der junge Mensch nicht ausgebildet werden sollte. Wir wollen gern helfen. Ich habe das Relief meinem Bruder, dem Bildhauer Robert Toberentz, nach Berlin geschickt, er ist erbötig, die Ausbildung des Burschen zu übernehmen. Sprich mit ihm und schreibe mir, was er dazu sagt.«

Ich war überglücklich und konnte kaum erwarten,[434] bis Jeß zum Essen kam. Im Geiste sah ich schon einen Künstler wie Hans Brüggemann vor mir, und ich stellte mir vor, wie sein Kunstwerk eine Kirche schmücken werde. Da kam er. Ich übergab ihm sein Relief und eröffnete ihm die Perspektive zu einem Studium bei einem berühmten Künstler. Wie es den armen Kuhlengräber wohl überwältigen würde!

Als ich schwieg, entstand eine lange Pause, dann kam es stockend und schwerfällig: »Fruen meint es sehr gut mit mir, ja, – auch die anderen, fremden Leute in Kiel. Ich danke! Ja, wirklich, – es ist sehr dankenswert! – Aber ich kann mir ja denken, wie es gehen wird. – Nicht gut. – O, ich seh' und hör' ja alles.« Er hielt seine große Hand vors Gesicht und malte sich das innerlich aus, dann fuhr er zögernd fort, gleichsam als ob er im Schlaf spräche und das alles, was er im Geiste sah, träumte: »Der berühmte Mann sagt, ich hätte Gabe, – aber keine Grundlage, – ich müsse erst mal alles vergessen – und ganz von vorn anfangen. – Ich soll gerade so machen, wie er das will und wie er das sagt. – Ich soll nach seinem Kopf arbeiten, – das kann ich wohl, wenn ich Ihnen ein Stück Land umgrabe, – aber –« und er zeigte auf das Relief, »– doch nicht bei einer Sache, wo mein ganzes Herz dabei ist, da denk' ich doch Tag und Nacht drüber nach, und nun sollt' ich ihm das nachdenken, wie er mir das vorsagt! So ein fremder Mensch, der doch ganz anders denkt als ich, der nicht einmal meine Sprache spricht! – Da würde ich mich viel bedanken müssen bei den guten Leuten in Kiel, und wenn es mir nicht gefiele, dürfte ich nicht klagen, sie würden sagen, ich sei undankbar[435] und bockig. Und ich könnte mich nicht einmal satt essen auf meine Weise. Ich sollte wohl gar Treppen steigen, was ich doch nicht gewohnt bin. – Ob ein großer Mann aus mir würde? Wer weiß denn das? Da, in Berlin, würden sich die seinen Herren lustig machen über den dänischen Bauernknecht, das könnte ich aber nicht vertragen, und wie weiß ich, ob ich dann meine Hände nicht ganz anders brauchen würde? – Nein, ein glücklicher Mensch werde ich da nicht, und wenn's nicht geht, dann schicken sie mich zurück, und hier verspotten sie mich und sagen, ich hätte mir was eingebildet. Und dann wär' mir die Freude an meiner Arbeit verdorben! Nein, nein, Fruen! Sie haben es ja herzlich gut gemeint, aber ich tauge nicht für die Welt da draußen, für die Öffentlichkeit. Die Welt ist kalt und böse! Lassen Sie mich auf meine Weise weiter machen. Sie sagen doch selbst, ich hab' mich vom Löffelschnitzen herauf gearbeitet. – Jetzt sagen die Leute: ›Nun seh einer den Jeß Lind an, er ist nur ein Kuhlengräber, aber wie kann er doch sein schnitzen!‹ Nein! – Sehen Sie sich doch mal die alten Truhen an, die sie hier auf den alten Höfen haben, ganze biblische Geschichten haben die alten Bauern darauf geschnitzt. Sind die denn in Berlin oder Kopenhagen gewesen? Sie haben doch gar nicht daran gedacht! – Die Hauptsache für mich ist doch wohl, daß ich glücklich bin. So wie ich bin, bin ich glücklich.«

Er hatte einen ganz roten Kopf, und ich hatte das Gefühl, der fühlt sich im Fieber, hat gewiß in seinem ganzen Leben noch nie soviel hintereinander gesprochen.

Wir waren alle drei eine ganze Weile still, es hatte[436] auch uns sehr aufgeregt, dann aber reichte mein Mann Jeß die Hand und sagte: »Ich glaube auch, wir lassen es beim alten!«

Die Anlage mit der gewünschten wellenförmigen Fläche war ganz zu unsrer Zufriedenheit beendet. Mein Mann war nun fleißig mit dem Anpflanzen beschäftigt, als einmal gegen Abend unser Kirchenältester aus dem nächsten Dorf, Truls Beyer, zu uns kam. Truls war ein großer, stattlicher Mann, der durch sein biederes Wesen einen sehr sympathischen Eindruck machte.

»Nun?« sagte mein Mann, »wollten Sie mich sprechen? Dann können wir hineingehen.«

»Nein, nein, was ich zu sagen hab', kann Fruen gern hören.«

Er setzte sich zu uns auf die Bank, und als ich ihn ansah, schien mir, daß eine ganz besondere, freudige Feierlichkeit auf seinem Gesicht lag. Er sagte: »Sie wissen wohl, Herr Pastor, daß ein naher Verwandter von mir in Hamburg wohnt?«

»Gewiß,« sagte mein Mann, »heißt er nicht Östergaard?«

Truls nickte und fuhr fort: »Er hatte ja in seiner Jugend keine Lust zur Landwirtschaft. Er ging nach Hamburg und wurde Kaufmann. Er und seine Frau sind nun alt, Kinder haben sie nicht, und wissen Sie, was der mir heute schreibt? Denken Sie sich nur mal, er will unsrer Kirche eine Orgel schenken!«

Truls war aufgeregt und stand auf, mein Mann erhob sich ebenfalls.

»Was?! Das will er?« rief mein Mann in freudiger Erregung.[437]

»Ja,« fuhr Truls fort, »unter der Bedingung, daß die Gemeinde bei dieser Gelegenheit die Kirche renoviert.«

»Na, darauf wird sie doch mit tausend Freuden eingehen!«

»Das meine ich auch!« sagte Truls, und nachdem er noch eine Weile mit meinem Mann alle baulichen Veränderungen durchgesprochen hatte, ging er.

»Das ist aber eine Freude!« sagte mein Mann, »und,« fügte er leise lächelnd hinzu, »bei der Gelegenheit kommt auch auf ganz natürliche Weise das F und die V von der Empore weg, es war für die Gemeinde doch noch immer eine Erinnerung an den dänischen König Friedrich V.! – An dieser Erneuerung,« sagte mein Mann sinnend, »könnte eigentlich unser Jeß Lind teilnehmen. Ich will doch mal mit den Gemeindevertretern sprechen, daß sie die Mittel dazu bewilligen. Jeß könnte uns für die erneuerte Kirche ein schönes, großes Kruzifix schnitzen. Das wäre doch eine Aufgabe für ihn, in die er sein ganzes Herz legen könnte! Ich will ihn, nachdem ich mit den anderen gesprochen habe, doch mal kommen lassen.«

Als Jeß Lind kam, legte ihm mein Mann einen Holzschnitt vor: den Gekreuzigten von Michelangelo.

»Haben Sie Mut, Jeß, nach diesem Vorbild ein Kruzifix für unsere Kirche zu schnitzen?«

Jeß faltete die Hände, sah das Bild lange an, dann sagte er feierlich: »Herr Pastor, Gott wird meine Hand führen! Ich wage es in seinem Namen!«

Als die Orgel eingeweiht wurde, hing über dem Aufgang zum Chor der schön geschnitzte Christus von Jeß Lind.[438]

Quelle:
Bischoff, Charitas: Bilder aus meinem Leben. Berlin 1912, S. 432-439.
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