[75] Oberndorf am Neckar, ein Oberamtsstädtchen im württembergischen Schwarzwaldkreis, zählt gegen 5000 Einwohner. Das tief eingeschnittene Neckartal ist von teils dicht bewaldeten, teils kahlen Höhen überragt. Das Städtchen zieht sich am Bergesabhang des linken Neckarufers empor. Es hat vor den gewöhnlichen schwäbischen Städtchen zwei Besonderheiten voraus, die ehemals königliche, jetzt Mausersche Gewehrfabrik, die unten am Neckarufer liegt, und den »Schwarzwälder Boten«, dessen Gebäude oben auf der Höhe ragen.
Der Begründer des »Schwarzwälder Boten«, mein nunmehriger Chef, Herr Brandecker, damals ein angehender Sechziger, war ursprünglich Schriftsetzer und hatte, als er von der Wanderschaft heimkam, all seinen Besitz auf einem kleinen Handwägelchen mit sich geführt, wie man mir erzählte. In den dreißiger Jahren gründete der unternehmende junge Mann das Blatt, das bald einen ansehnlichen Leserkreis hatte, da es auf dem Schwarzwald damals fast ohne Konkurrenz war. Brandecker konnte keine Artikel schreiben; dazu fehlten ihm Kenntnisse und Übung; höchstens konnte er eine Lokalnotiz zusammenbringen. In Oberndorf passierte wenig, worüber berichtet werden mußte, und anderwärts hatte Brandecker seine Berichterstatter. Den politischen Teil entnahm er einfach anderen Blättern und seine »journalistische« Tätigkeit bestand darin, unter die ausgeschnittenen Artikel die Quellenangabe »Sch. M.« = »Schwäbischer Merkur« oder »Beob.« = »Beobachter« oder »Frkf. Ztg.« = »Frankfurter Zeitung« – zu setzen. Mit der Post hatte er ein Abkommen getroffen, wonach ihm die ankommenden Blätter sofort ausgehändigt wurden. Wenn z. B. der »Schwäbische Merkur« abends in Oberndorf ankam, so erhielten ihn die Abonnenten erst am andern Morgen; Brandecker aber, der ihn noch am Abend erhielt, entnahm ihm das Neueste und ließ sein Blatt dann noch in der Nacht drucken, so daß es gleichzeitig mit dem »Schwäbischen Merkur« oder dicht hinter ihm zu den Abonnenten kam. Häufig war auch die Quelle der Neuigkeiten im »Schwarzwälder Boten« nicht angegeben. Der »Schwäbische Merkur« und andere Blätter protestierten manchmal entrüstet gegen dieses Ausplünderungssystem, aber einen gesetzlichen Schutz dagegen gab es damals nicht und Brandecker zeigte sich den Protesten gegenüber so gepanzert wie der hürnene Siegfried.
Das Blatt kam hoch und warf bald einen großen Gewinn ab, da ihm Inserate in überreichlicher Fülle zuströmten. 1848 tat Brandecker ein wenig revoluzzen, als er, wenn er sich die Gunst seiner Leser erhalten wollte, nicht anders konnte. Er war aber dabei so vorsichtig, daß er nachher mit einigen Wochen Hast davonkam. Das Blatt behielt seinen gemäßigt[77] demokratischen, resp. württembergisch-partikularistischen Anstrich; nach 1870 wurde es sukzessive nationalliberal und ist es heute noch, nachdem es ein mit allen modernen Betriebsmitteln ausgestattetes Blatt geworden.
Mit dem Reichtum wuchs auch Brandeckers Selbstgefühl. Er war angehender Millionär und viele Dächer in Oberndorf trugen seine Hypotheken. Der Respekt der Bevölkerung, namentlich der Kleinbürger und Bauern, vor ihm war ungeheuer. Er trug eine Brille, was damals nicht so häufig war, wie heute. Die Spießbürger hielten ihn darum für ein gelehrtes Haus, was er sich gerne gefallen ließ. Er hatte übrigens auch recht gute Eigenschaften; so war er ein trefflicher Familienvater.
Aber es war begreiflich, daß seine Art und die meinige bald hart zusammenstoßen mußten.
Ich ward im Brandeckerschen Hause in einem recht freundlichen Stübchen drei Treppen hoch einquartiert. Alle in meinem Vertrag enthaltenen Bedingungen wurden mit größter Aufmerksamkeit und Pünktlichkeit innegehalten.
Redaktion, Expedition und Druckerei befanden sich in einem gegenüberliegenden Hause; die große Maschine, auf der das Blatt gedruckt wurde, stand ebener Erde im Brandeckerschen Wohnhause, das sie Tag und Nacht erschütterte. Rotationsmaschinen gab es damals in Deutschland noch nicht und die Brandeckersche Maschine, welche die Bogen an vier Ecken auswarf, brauchte von Mitternacht bis gegen Morgen, um die 20,000 Exemplare des »Schwarzwälder Boten« zu drucken.
Als Bureau hatte ich ein gemütliches kleines Zimmer. Auf dem Pult erhob sich ein reich bewachsenes Efeugitter, so daß ich jederzeit im Grünen saß. Neben mir führte ein hölzerner Kanal, der an gewisse heimliche Anstalten erinnerte, in die Druckerei hinab. Brüllte drunten der Faktor in die Röhre hinein: »Manuskript!« oder »Korrektur!«, so konnte ich das Gewünschte hinabgleiten lassen, ohne nur aufzustehen. Ein so bequemes Redaktionsbureau habe ich später nie wieder gehabt.
Ich arbeitete mit wahrem Feuereifer und ertrug leicht die Anstrengungen, die mit dieser Stellung verbunden waren. Um halb sechs Uhr früh mußte ich auf dem Bureau sein, der letzten Korrekturen wegen; der Herr Chef, ein Mann von unermüdlichem, zur Lebensgewohnheit gewordenem Fleiß, erschien um diese Zeit auch in seinem nebenan gelegenen Bureau. Um sieben Uhr wurde mir das Frühstück gebracht, das sehr reichlich war. Dann hieß es arbeiten bis zwölf Uhr. Die Mittagspause dauerte von zwölf bis drei Uhr; von da ab arbeitete ich wieder bis sechs Uhr. Abends um halb neun Uhr fand ich auf meinem Zimmer im Brandeckerschen Hause Korrekturen vor und nachdem ich diese gemacht, stieg ich zum Chef in dessen Wohnung hinab, wo die neu angekommenen Tageszeitungen geplündert wurden. Dies dauerte gewöhnlich bis elf Uhr und der Chef gab das »Manuskript« selbst in die Druckerei.
Wie fast alle jungen Redakteure hatte auch ich das Bedürfnis, möglichst viel Original für das Blatt zu liefern. Ich schrieb fast täglich einen Leitartikel[78] und täglich eine politische Übersicht. Dem Publikum gefiel dies und ich hörte mehrfach aussprechen, daß sich das Blatt jetzt frischer und lebendiger präsentiere, als bisher. Aber dem Chef gefiel diese Neuerung nicht. Das Gefühl, daß er selbst nicht fähig war, einen Artikel zu schreiben, war ihm drückend; auch mochte er befürchten, daß ich mit meinen demokratischen Anschauungen zu weit gehen könnte.
Einige Wochen zuvor waren die blutigen Schlachten von Villiers und Champigny vor Paris vorgefallen, bei denen die Württemberger so stark engagiert waren. Die langen Verlustlisten trugen Trauer durch das ganze Land. Ich gab dieser Stimmung Ausdruck und stellte zugleich eine Berechnung der Kriegskosten auf. Dies zog uns einen äußerst heftigen Angriff in einem franzosenfressenden schwäbischen Hetzblatte zu. Brandecker, dem das Herz dabei in die Hosen fiel, sprach mir erregt den Wunsch aus, mich seinem erhabenen Beispiel anzupassen und mehr die Schere als die Feder zu handhaben. »Wozue halt i Ihna denn die viele Blättle?« knurrte er. »Schneidet Se doch aus!«
Auch eine dem Verhältnis des kapitalistischen Unternehmers zum Angestellten entspringende Anmaßung hatte ich gleich in den ersten Tagen zurückzuweisen. Es wurde mir ein Anmeldeschein für die Polizei vorgelegt und Brandecker stand daneben, als ich ihn ausfüllte. Er deutete auf die Rubrik »Beruf« und sagte: Schreibet Se »Redaktionsgehilfe!« Der Blick, mit dem ich ihn maß, muß nicht eben freundlich gewesen sein, denn er trat einen Schritt zurück. Ich schrieb »Redakteur«, ohne ein Wort zu sagen, und der Meister der Redaktionsschere steckte es auch stillschweigend ein, daß ich mich nicht zum »Gehilfen« in seinem Handwerk degradieren ließ.«
Trotz alledem kamen wir gut miteinander aus und Brandecker überließ mir die Redaktion fast ganz allein.
Der Krieg ging nunmehr zu Ende, nachdem die Franzosen in der Nähe der badischen Grenze bei Belfort versucht hatten, über den Rhein vorzubrechen.
In Süddeutschland herrschte große Bestürzung, denn es stand den 150,000 Franzosen unter Bourbaki nur die badische Division unter General von Werder entgegen, die 37,000 Mann stark war und sich nur auf 43,000 Mann verstärken konnte. Sie leistete den tapfersten Widerstand, wäre aber von der gewaltigen Übermacht doch wohl überwältigt worden, wenn die französischen Truppen in bezug auf Ausrüstung und Verpflegung nicht gar so übel dran gewesen wären. Betrügerische Industrielle und Lieferanten hatten die Armee zum guten Teil mit Schuhwerk versehen, das Pappsohlen hatte, und damit sollten die jungen Rekruten im Schnee marschieren. Nachdem sich die badische Division drei Tage lang aufs tapferste verteidigt, zogen sich die Franzosen auf die Nachricht vom Anmarsch einer preußischen Armee unter Manteuffel zurück und wurden in die Schweiz gedrängt. Die Franzosen waren in schrecklichem Zustande, wie ich mich auf einer Reise in die Schweiz überzeugen konnte. Dennoch hatten sie bei einigen mir bekannten Schweizer Jungfrauen und Frauen recht viel Glück.[79]
Später las ich die Memoiren des ehemaligen württembergischen Kriegsministers von Suckow, in denen er über eine interessante Unterredung mit Moltke berichtet. Man sah den französischen Krieg voraus; Suckow sagte die Bundesgenossenschaft Württembergs zu und fragte an, was geschehen würde, wenn am Oberrhein von den Franzosen ein Angriff unternommen würde. Moltke entgegnete – nach Suckows Bericht – recht brüsk, um Oberrhein und Schwarzwald würde sich die preußische Heeresleitung nichts bekümmern; die linke Flanke der preußischen Armee sei am Thüringer Wald. Alsdann sprach er noch geringschätzig von der Bundesgenossenschaft Württembergs, wo die Demokratie dominiere. Jedenfalls hatte sich Moltke darüber geärgert, daß die schwäbische Volkspartei die Umgestaltung der Armee nach preußischem Muster heftig bekämpft und eine umfassende Agitation für das Milizsystem nach schweizerischem Muster eingeleitet hatte.
Hält man die Mitteilungen des Kriegsministers von Suckow mit den Ereignissen vor Belfort zusammen, so kommt man zu der Anschauung, daß Moltke in der Tat seine Operationen nach den gegen Suckow ausgesprochenen Grundsätzen durchgeführt hat. Ohne den tapferen Widerstand der badischen Division und ohne das Pech der Franzosen würde der von Freycinet ausgedachte Vorstoß der Franzosen gelungen sein, was für Süddeutschland von unberechenbaren Konsequenzen gewesen wäre. Manteuffel kam zu spät und erntete dennoch den Ruhm der Affäre.
Am 28. Januar kapitulierte Paris und damit begann der Waffenstillstand; am 12. Februar trat die französische Nationalversammlung in Bordeaux zusammen. Jetzt regte sich in Brandecker der Drang, sich den weiteren Gang der Weltgeschichte in der Nähe anzusehen. Ein Landsmann und Freund von ihm, namens Schwarz, war als Sekretär oder etwas ähnliches in den Bureaus der französischen Nationalversammlung angestellt – wo in der Kulturwelt gibt es keine Schwaben? – und lud nun Brandecker ein, ihn in Bordeaux zu besuchen und später mit nach Versailles zu gehen. Eine solche Reise war damals mit allerlei Bedenklichkeiten verknüpft, aber Brandecker bedachte sich nicht und unternahm die Reise. Die Redaktion vertraute er mir allein an, worüber in den unterrichteten Kreisen großes Erstaunen herrschte, denn solches Vertrauen hatte er einem andern noch niemals, auch nicht für drei Tage, geschenkt.
Er reiste ab. Die allabendliche Plünderung der Blätter hatte ich von da ab mit der mindestens zweihundertfünfzigpfündigen Gattin Brandeckers auszuführen, die übrigens früher sehr schön gewesen sein mußte, Sie war eine Tochter des Stadtschultheißen Pfäfflin von Horb, eines Achtundvierzigers mit langem weißem Bart, der mit mir kneipte, wenn er kam. Frau Brandecker »redigierte« das Unterhaltungsblatt des »Schwarzwälder Boten«, das heißt, sie las eine Menge Romane, wählte solche für das Blatt aus und strich sie zusammen. Bei den abendlichen Plünderungen war auch manchmal die schon sehr gewichtige jüngste Tochter zugegen.[80]
Den Mittagstisch, der sehr gut und billig war, hatte ich im Wirtshause; dort traf ich mit einem jungen Assessor zusammen, mit dem ich damals auf sehr freundschaftlichem Fuße stand. Heute, da er einen höheren Richterposten inne hat, kennen wir uns nicht mehr. Abends hatte ich meinen Stammtisch im »Goldenen Engel«, wo die freundliche behäbige Wirtin sich immer über meine manchmal derben Spässe freute. Dort wurde ich befreundet mit dem demokratischen Landtagsabgeordneten für Oberndorf, dem Rechtsanwalt Gutheinz, der mir, so lange er noch lebte, anhänglich geblieben ist. Dieser treffliche Mann hat das meiste dazu beigetragen, mir den Aufenthalt in dem sonst so philiströsen und langweiligen Oberndorf erträglich zu machen. Sonst hörte man am Stammtisch, wenn nichts Neues in der Zeitung kam, so ziemlich jeden Abend das gleiche.
Der Stadtschultheiß pflegte zu sagen:
»D'escht emol sicher, d'schlechtschte Kerle send ehe doch d'Amerikaner.«
»Un i sag nomal, 's ischt net wohr«, erwiderte dann der Oberlehrer, »dr schlechtscht Kerle ischt der Greil.«1
»Ach was!« brauste dann regelmäßig der Reallehrer auf, »der schlechtscht Kerle ischt der Cobentzl!«2
Gutheinz und ich sahen uns dann an und lachten.
Auch ein sogenannter Sozialdemokrat war in der Gesellschaft, ein junger Sägmühlenbesitzer, der manchmal gegen die »Fürschte« republikanische Redewendungen gebrauchte und darum für einen »ganz Roten« galt. Als am Abend des 18. März 1871 aus Paris gemeldet wurde, in Paris sei ein sozialistischer Aufstand ausgebrochen und zwei Generäle seien erschossen worden, ließ ich noch schnell ein Extrablatt drucken und brachte das erste Exemplar an den Stammtisch hinüber. Der Reallehrer riß es mir aus der Hand, schwenkte es grimmig vor der Nase des »sozialdemokratischen« Sägmüllers hin und her und brüllte:
»Do hent Se's jetz mit dene Kommunischte!«
Der Sägmüller sank in seinem »moralischen« Schuldbewußtsein förmlich zusammen ...
Es gab aber auch einen wirklichen Sozialdemokraten in Oberndorf. Dies war der Maschinenmeister Kießling in der Brandeckerschen Druckerei. Er war 1870 als Delegierter auf dem Stuttgarter Kongreß der sozialdemokratischen Arbeiterpartei gewesen. Das verzieh ihm Brandecker nicht und er hätte ihn gewiß auf die Straße geworfen, wenn der arme Teufel nicht in der Not und wegen seiner Familie versprochen hätte, vom Sozialismus zu lassen. Kießling war schwindsüchtig und mußte nachts die große Maschine dirigieren, aber auch am Tage noch ein gewisses Pensum leisten. Er siechte unverkennbar seinem Ende entgegen. Das Schicksal dieses Mannes regte mich zum Nachdenken an und ließ die in mir schlummernden sozialistischen Empfindungen sich leise regen.[81]
Eine nicht uninteressante Bekanntschaft waren auch die Gebrüder Mauser, die sich damals noch Büchsenmacher nannten und einen kleinen Laden hatten. Die Woche über beschäftigten sie sich mit der Verbesserung von Mordwerkzeugen, des Sonntags sah man sie als gute Katholiken mit dicken, von Goldschnitt strahlenden Gesangbüchern unterm Arm in die Kirche wandeln. Sie waren übrigens angenehme Gesellschafter und erzählten viel von ihrem neuen Zündnadelgewehr, welches von dem preußischen verdrängt worden war. 1871 kamen die in der Schlacht von Champigny erbeuteten Chassepotgewehre in der Königlichen Gewehrfabrik an und die Gebrüder Mauser konstruierten daraus ein neues Gewehr, welches die Vorzüge des deutschen und französischen Systems besaß. Ich war oft dabei, wenn das Gewehr auf der Wiese über dem Neckar probiert wurde und die Kugeln über die Landstraße und die Spaziergänger hinweg flogen. Das Mausergewehr hatte für die Patronen erst eine Metallhülse; nachdem diese durch eine Papierhülse ersetzt war, wurde das Gewehr für die deutsche Armee angenommen. Der ältere Mauser schien mir der Bedeutendere zu sein; den jüngeren sah ich dreißig Jahre später im Reichstage als Abgeordneten für Oberndorf wieder, aber wir verkehrten nicht mehr miteinander.
Im März 1871 trat der erste deutsche Reichstag zusammen und mit großer Spannung folgte ich der Wahlbewegung. Im Oberndorfer Wahlkreis trat als Kandidat der Stuttgarter Oberstudienrat Frisch auf, der dem Frankfurter Parlament angehört und beim Rumpfparlament bis zur Sprengung ausgehalten hatte. Es heißt von ihm, er sei, als er den Typhus gehabt, von dem Dichter Hauff gepflegt worden, und dieser habe sich dadurch die tödliche Krankheit zugezogen, der er so früh erlag. Jetzt kam Frisch als nationalliberaler Kandidat nach Oberndorf und hielt eine Wählerversammlung, welche vom Oberamtspfleger Frueth, einem Mitgliede des Frankfurter Vorparlaments, geleitet wurde. Aber vom Geiste von 1848 war hier nichts zu verspüren. Man sprach nur von der Einheit. Der nationalliberale Oberamtsrichter Wirth kandidierte gegen seinen Parteigenossen und suchte die Wähler für sich zu gewinnen, indem er von »einer reicheren Gliederung des Ganzen« sprach. Dies war auf den Partikularismus berechnet. Aber Wirth fiel durch.
Er war ein sonderbarer Kauz und hatte eine »teutsche« Orthographie erfunden, die noch schnurriger war, als die Puttkamersche. Auch »Kriegslieder« hatte er gedichtet und ich will hier die erste Strophe eines solchen zitieren, um zu zeigen, bis zu welchem Blödsinn sich die kriegerische Muse damals versteigen konnte. Das Lied begann:
»Voran und rasch hinüber,
Hinüber in die Pfalz!
Dem frechen Unfugüber
Gehören Nasenstüber
Und Hiebe aus dem Salz!
Salzsalz!
Salzsalzeralz salz salz!«
[82]
Es fand sich sogar ein Mensch, der diese Verse mit dem genial erdachten Refrain in Musik setzte.
Als ich diese Verse in einem Artikel im »Stuttgarter Beobachter« kritisierte, wurde ich in einer Gesellschaft dem anwesenden Oberamtsrichter als mutmaßlicher Verfasser denunziert und zwar von einem Menschen, der damit den Verdacht der Verfasserschaft von sich ablenken wollte. Gut, daß ich damals dem Oberamtsrichter nicht in die juristischen Klauen kam.
Sechs Jahre später trafen dieser Wirth und ich uns wieder als Abgeordnete im Reichstage. Er nahm ein schreckliches Ende. Er wurde der falschen Protokollierung überführt, die nationalliberale Fraktion des Reichstages stieß ihn aus und er erhängte sich schließlich im Gefängnis.
Anfangs Sommers 1871 kamen mehrere Tausende württembergischer Soldaten auf dem Rückmarsch aus Frankreich durch Oberndorf. Ich begrüßte sie mit einem Gedicht an der Spitze des Blattes. Als ich aus dem Fenster des Redaktionslokals eine Anzahl Blätter mit dem Gedicht den vorübermarschierenden Truppen hinabwarf, fing ein junger Leutnant eines mit dem Degen auf und rief: »Den haben wir oft gelesen mit Genuß!« Es waren nämlich täglich tausend Exemplare des Schwarzwälder Boten an die württembergische Division gesandt worden.
Bei Brandecker schien ich nach seiner Rückkehr in noch höherer Gunst zu stehen, als zuvor. Ich ward öfter zum Familientisch und namentlich zum Sonntagnachmittagskaffee zugezogen. Stets war die jüngste Tochter zugegen, welche mir mit ihren ziemlich ungelenken Fingern etwas auf dem Klavier vorzuspielen pflegte. Plötzlich verbreitete sich im Orte das Gerücht, ich würde Brandeckers Schwiegersohn werden. Der Wirt, bei dem ich meinen Mittagtisch hatte, gratulierte mir, und als ich sagte, ich wisse von nichts, meinte er überlegen, dort sei ein Journalist als Schwiegersohn willkommen. Ich glaubte nicht an die Sache, bis mir eine gewichtige Persönlichkeit den Rat erteilte, frischweg um die Hand der jungen Dame anzuhalten. Ich erwiderte, daß ich gebunden sei. Die gewichtige Persönlichkeit schüttelte lachend den Kopf und meinte: »Das wird schon noch werden!« Allein es wurde nicht und die gewichtige Persönlichkeit sagte mir lange Zeit nachher noch mit bedauerndem Achselzucken: »Se send halt nit weltklug gwä!«
Schließlich gab es aber doch Differenzen. Ich hatte nämlich auch Sonntag abends Arbeit, namentlich waren Korrekturen zu lesen. So war ich eines Sonntags in Rottweil gewesen, hatte fröhliche Gesellschaft gefunden und war zeitig, aber ungern nach Hause gefahren. Ich hatte tüchtig gezecht. Die Korrekturen machte ich, dann sank mein edles Haupt schwer auf den Tisch und ich schlief ein. Um halb zehn Uhr kam wie gewöhnlich das Dienstmädchen, klopfte und rief draußen: »D'Boscht isch do!« Ich wachte aber nicht auf. Statt nun das Mädchen noch einmal heraufzuschicken, wartete Brandecker drunten, rannte schnaubend hin und her und kam endlich nach einer Stunde »geladen zum Platzen« heraus. Er weckte mich und fuhr mich grimmig an; ich verteidigte mich und sagte, er hätte[83] doch noch einmal nach mir schicken können; wir wurden immer heftiger und es ärgerte mich, von diesem Manne so behandelt zu werden, der eigentlich nur durch die Hecknatur des Kapitals dazu gelangt war, im Reiche der Protzenschaft etwas zu bedeuten, während ich in jugendlichem Hochgefühl mir einbildete, etwas im Reiche der Geister zu bedeuten. Schließlich überwältigte mich der Zorn, so daß ich an ihn eine Einladung ergehen ließ, von der es im Studentenlied heißt:
»Es sind vier Worte im stolzesten Ton
Und ruhig ziehet der Edle davon!«
Und ich zog in der Tat davon, denn ich wurde sofort entlassen. Vorläufig zog ich in den »Goldenen Engel«, wo ich über Nacht blieb. Viele Gäste sprachen mir ihr Bedauern aus und am andern Tage wurde vermittelt. Brandecker war versöhnlicher als ich erwartet, und schaffte sogar die Sonntagsarbeit ab. Ich sollte bleiben, bis ich eine andere Stelle bekäme. Ich hätte also noch lange bleiben können.
Um diese Zeit hörte ich eines Abends etwa um neun Uhr ein recht gewichtiges Individuum die Treppe herauf keuchen. Ich öffnete die Tür und vor mir stand – mein guter alter Stadler aus Konstanz. Ich sollte ihm einen Beitrag für seinen Kalender »Der Wanderer am Bodensee« liefern; Stadler fürchtete, ich möchte den Termin nicht inne halten und so war er gekommen, um mich zu mahnen oder das Manuskript mitzunehmen. Glückliche Zeit, da noch die Verleger den Schriftstellern nachreisten, um Manuskript zu bekommen! Wenn heute ein Verleger zehn Finger ausstreckt, hat er an jedem Finger zehn Schriftsteller hängen und kann sich vor einer Manuskriptüberflutung gar nicht mehr retten.
Glücklicherweise hatte ich das Manuskript bis auf die letzte Durchsicht fertig. Wir tranken noch eine Flasche Wein; ich erzählte Stadler mein letztes Erlebnis und er schüttelte nachdenklich den Kopf. »Wenn Sie eine passende Stellung erhalten können, ist es besser, Sie gehen«, meinte er.
Am andern Morgen verließ mich der biedere alte Mann und ich sah ihn nicht wieder. Aber ein gutes Andenken habe ich ihm bewahrt.
Der Auftritt zwischen Brandecker und mir war nur die äußerliche Wirkung tiefgehender innerlicher Differenzen.
Einmal war mirs in Oberndorf zu eng und zu langweilig geworden.
»Alle Herzen stolz und heiß
Müssen hier verbluten!«
sprach ich mit Herwegh in jugendlichen Stürmen und Drängen vor mich hin.
Aber dazu kam noch etwas anderes, was weit mehr geeignet war, mich von dannen zu treiben. Zwischen Brandecker und mir hatten sich langsam politische Differenzen gebildet. Es war bei uns beiden eine Wandlung vor sich gegangen.
Brandecker wollte, wie so viele bei der Reichsgründung taten, die demokratischen Erinnerungen und Traditionen völlig und für immer über Bord werfen. Sein Blatt sollte nationalliberal werden.[84]
Meine geistige Entwickelung aber bewegte sich in entgegengesetzter Richtung. Form und Inhalt des Programms der demokratischen Partei oder, wie sie sich nannte, der deutschen Volkspartei befriedigten mich nicht. Daß ich so viele gute Freunde in dieser Partei hatte, die ich ungern verließ, konnte daran nichts ändern.
Das Programm, das sich die deutsche Volkspartei auf der Stuttgarter Delegierten-Versammlung von 1868 gegeben hatte, war an sich gewiß ein gut demokratisches. Es verlangte die Grundrechte von 1849, sprach von Freiheit und Gleichheit, erklärte die staatlichen und gesellschaftlichen Fragen für untrennbar und sprach es offen aus, daß die wirtschaftliche Befreiung der arbeitenden Klassen und die Verwirklichung der politischen Freiheit sich gegenseitig bedingen. Ja, die wirtschaftliche Befreiung der Arbeiter! Da lag der Hase im Pfeffer. Das Programm forderte Arbeiterschutz, Fabrikgesetzgebung, 10stündigen Normalarbeitstag und Einigungsämter. Das alles konnte die Lage der arbeitenden Klassen bedeutend verbessern. Aber es fehlte eine Grundlage, ein Angelpunkt, von wo aus die wirtschaftliche Befreiung der arbeitenden Klassen tatsächlich bewirkt werden kann.
Ich fühlte wohl, daß eine solche radikale Umgestaltung sich erst werde in der Zukunft verwirklichen lassen. Aber ich wollte ja gerade für die Herbeiführung einer besseren Zukunft mitwirken.
Solch einem einsamen jungen Menschen stand damals nicht eine so reiche sozialistische Literatur zur Verfügung, wie sie heute existiert.
Auf meinen einsamen Spaziergängen in den tiefen Wäldern um Oberndorf dachte ich viel über solche Dinge nach. Da begegnete mir an einem Sonntag einst der arme Kießling. Wir sprachen von den Zeitfragen und nach den damaligen Verhältnissen war er sehr erfreut; daß »der Herr Redakteur« sich mit ihm unterhielt.
Aber der dahinsterbende Proletarier war in der Lage, den »Herrn Redakteur« zu belehren.
»Sehen Sie«, sagte er, »das demokratische Programm ist ganz schön. Aber wenn es verwirklicht wäre, so hätte der Brandecker immer noch die Macht, mich auf die Straße zu werfen und mich mit meiner Familie verhungern zu lassen.«
Jetzt ging mir eine ganz neue Erkenntnis auf. Dies Gespräch war vielleicht entscheidend für meine weitere Zukunft. Ich stimmte zu.
Kießling sagte: »Sie haben alle Anlagen zum Sozialdemokraten. Aber erzählen Sie, ich bitte Sie dringend, niemanden etwas von diesem Gespräch.«
»Seien Sie unbesorgt.«
»Und nehmen Sie sich selbst in acht!«
»Na, was kommen muß, das kommt!« –
Ich bestellte mir zunächst den »Volksstaat«, der damals von Liebknecht redigiert war. Ich sah in eine mir ganz fremde Welt hinein, in der ich mich nicht ohne weiteres zurecht fand. Ich steckte noch voll von bürgerlichen Vorurteilen, die immer bei denen am stärksten sind, die am[85] wenigsten Grund dazu haben. Zwei Jahre später sollte ich selbst Redakteur des »Volksstaat« sein!
Zunächst vermochte ich mir nur einige Lassallesche Broschüren zu verschaffen. Ich fraß diese Lektüre, aber sie genügte mir nicht. Mich verlangte weniger nach Theorien, als nach Menschen mit gleichen Idealen, mit gleicher Sehnsucht nach Betätigung im Kampfe für die Befreiung der Unterdrückten.
Ich suchte nach außen Verbindungen anzuknüpfen. Das gelang mir überraschend schnell. Ich hatte ab und zu ein Artikelchen für den »Nürnberger Anzeiger« geschrieben, der damals eines der ersten demokratischen Blätter in Deutschland war. Dadurch war ich mit Anton Memminger in Verbindung gekommen, der erst das »Würzburger Journal« und dann den »Nürnberger Anzeiger« redigiert und durch seine kühne Kritik der öffentlichen Mißstände viel Aufsehen erregt hatte. Er schien sich für mich zu interessieren und da ich nunmehr von Oberndorf so bald als möglich wegkommen wollte, frug ich bei ihm an, ob er nichts für mich wisse. Er lud mich ein, die Redaktion des »Würzburger Journals« zu übernehmen. Ich sagte zu, am 1. Oktober 1871 diese Stellung anzutreten.
Inzwischen war ich noch einmal mit meinem Stiefvater zusammengestoßen. Auf Wunsch meiner Mutter, die irgend etwas mit mir besprechen wollte, war ich nach Staufen bei Freiburg gekommen, wohin mein Stiefvater versetzt worden war. Da meine Mutter mich unfreundlich empfing, so ging ich gleich ins Wirtshaus, wo ich einige in Staufen wohnende Korpsbrüder und Freunde zu treffen hoffte. Ich traf sie auch beim Dämmerschoppen und bemerkte bei mehreren von ihnen eine seltsame Unruhe. Auf dringendes Befragen antworteten sie, wahrscheinlich werde mein Stiefvater kommen und dann müsse man einen Skandal befürchten. Ich bemerkte, daß mehrere, namentlich der Oberamtsarzt, sich vor der Brutalität meines Stiefvaters fürchteten. Gerade darum beschloß ich zu bleiben und es aufs äußerste ankommen zu lassen, denn mich verlangte darnach, diesem Menschen einmal zu zeigen, daß er mir nichts mehr zu befehlen habe. Er kam und setzte sich neben mich. Da er sehr kurzsichtig war, erkannte er mich nicht, und auch meine Stimme war ihm fremd geworden. Wir unterhielten uns einige Zeit über gleichgültige Dinge; endlich aber fragte er: »Mit wem habe ich die Ehre?« – In dem Zimmer war atemloses Schweigen. Ich nannte ruhig meinen Namen. Und siehe da, der Gefürchtete erhob sich und verduftete schweigend. Ich lachte herzlich und schließlich stimmten die anderen sämtlich ein. – –
»Warum haltet Se sotte Blättle? Des mag i net!« hatte Brandecker gesagt, als er die sozialistischen Zeitungen auf meinem Pult liegen gesehen. Von da ab tadelte er öfter. Als ich einmal von »göttlicher Grobheit« schrieb, war er sehr aufgeregt, da er dies für eine Blasphemie hielt. Und als ich einmal vom »dicken Chambord« sprach, meinte er, der dicke Gerichtsnotar könne sich dadurch beleidigt fühlen, während ich wohl wußte, daß es sich da um die dicke Frau Brandecker handelte.[86]
Ende September schied ich von Oberndorf und man bereitete mir ein glänzendes Abschiedsfest im »Goldenen Engel«.
Als ich mich von Brandecker verabschiedete, waren wir beide gerührt. Ich hatte die Beleidigung, die ich ihm zugefügt, gerne zurückgenommen, und er hätte mich schließlich wohl auch ganz gerne behalten, denn meine radikalen Neigungen hielt er für eine vorübergehende Marotte. Wenn es wirklich seine Absicht war, mich dauernd an sein Haus und Geschäft zu fesseln, so mußte ich jedenfalls anerkennen, daß es von seinem Standpunkt aus sehr gut gemeint war. Aber die Tochter und ich hätten noch weit weniger zusammen gepaßt, wie der Alte und ich. Es war gut, daß das Projekt nicht zustande kam.
Einige meinten, ich hätte zugreifen sollen. Saß ich erst einmal im warmen Nest, so konnte ich mich, wie einer sich ausdrückte, »schadlos halten«. Ich verstand, aber ich konnte einen solchen Hintergedanken nicht als ehrenhaft anerkennen.
Geldheiraten waren nicht meine Sache; ich habe mich später in zwei Fällen nicht zu einer solchen entschließen können. Solche Ehen erschienen mir als eine Degradation beider Teile und als eine Herabwürdigung der Institution der Ehe selbst. Besonders erregte es meinen Widerwillen, daß es viele Leute für selbstverständlich hielten, wenn ich einem armen Mädchen, mit dem ich verlobt war, um einer reichen Heirat willen die Treue gebrochen hätte. Soll das »bürgerliche Moral« sein? fragte ich.
So schied ich denn von Oberndorf. Mit Gutheinz, den ich nach zwanzig Jahren wiedersah, blieb ich in brieflicher Verbindung.
Ich fuhr über Stuttgart und Nördlingen nach Nürnberg, wo ich erst mit Memminger konferieren wollte, ehe ich meine neue Stellung in Würzburg antrat.[87]
1 Damaliger ultramontaner Abgeordneter in der bayerischen Kammer.
2 Osterreichischer Diplomat zur Zeit der französischen Revolution.
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