Vorwort.

[5] Wenn man über vierzig Jahre auf literarischem und politischem Gebiet für die Sozialdemokratie gekämpft hat, so darf man sich wohl für berechtigt halten, einige Erinnerungsblätter dem Kreise von Zeitgenossen zu unterbreiten, auf deren Interesse man rechnen kann. Zugleich sollen diese Aufzeichnungen den künftigen Geschichtsschreibern der Sozialdemokratie einiges Material bieten, das als zuverlässig betrachtet werden kann.

Im allgemeinen darf ich wohl für diese meist aus dem Gedächtnis niedergeschriebene Arbeit auf die wohlwollende Beurteilung rechnen, wie sie meinen vor zwei Jahrzehnten erschienenen historischen Werken so vielfach, auch von hervorragenden Geistern, zuteil geworden ist.

Zugleich erinnere ich an ein gutes Wort von Theodor Fontane, welches meine Darstellungsweise begründen mag: »Das Nebensächliche, so viel ist richtig, gilt als nichts, wenn es bloß nebensächlich ist, wenn nichts darin steckt. Steckt aber was darin, dann ist es Hauptsache, denn es gibt einem dann immer das eigentlich Menschliche.«

Aber unsere Zeit ist eine hyperkritische geworden. Die Kritik gilt heute vielfach mehr als die positive Leistung selbst und


Ist ein Kritikus noch so klein,

Ein Lessing glaubt er doch zu sein!


Mit solchem Dünkel verbindet sich leicht eine gewisse Bosheit, welche den fehlenden Geist ersetzen soll. Und daraus entstehen alsdann die Mißdeutungen und Entstellungen, wie auch ich sie öfter erfahren habe.

So könnte die Schilderung einzelner Abschnitte meiner Jugend, namentlich des akademischen Lebens, übelwollenden Beurteilern Veranlassung zu der Behauptung geben, ich hätte meine bürgerlichen Vorurteile von damals nicht völlig überwunden. Meine lange Tätigkeit im Dienste der sozialen Revolution im allgemeinen und der Sozialdemokratie im besonderen dürfte eine genügende Widerlegung sein.[5]

Meine Jugend, meine Handlungen und meine Denkweise von damals habe ich so eingehend beschrieben, weil ich ein – ich möchte sagen künstlerisches Bedürfnis empfand, den Gegensatz von damals und später möglichst hell zu beleuchten und möglichst scharf hervortreten zu lassen. Je größer der Gegensatz, desto mehr tritt auch die Bedeutung des Verständnisses des großen historischen Prozesses hervor, an den die heutige soziale Bewegung sich anknüpft. So wird die Darstellung der durch dies Verständnis bewirkten geistigen Veränderung ein Beitrag zur Psychologie bürgerlichen Ideologentums.

Es mag ungewöhnlich sein, daß von vornhinein eine solche Verwahrung eingelegt wird. Aber sie ist in diesem Falle leider nicht überflüssig.


Berlin, im März 1914.


Der Verfasser.[6]

Quelle:
Blos, Wilhelm: Denkwürdigkeiten eines Sozialdemokraten. 2 Bde, 1. Band. München 1914.
Lizenz: