Kindheit und Schule

Dort, wo die blaue Tauber in den grünen Main sich ergießt, liegt meine liebe alte Vaterstadt Wertheim. Die landschaftlichen Schönheiten dieses während meiner Kindheit noch weltfernen Erdenwinkels sind weithin bekannt geworden, seitdem das Dampfroß durch die einst so stillen tiefeingeschnittenen Täler braust. Über Fluß und Tal erheben sich die Ausläufer des Odenwalds und des Spessarts. Wald und Weinberge bedecken diese Höhen, und der dort wachsende weiße Wein, der »Wertheimer«, wird als ein trefflicher Frankenwein gerühmt. Zahlreiche Schiffe und Flöße, für welche die Tauber einen Hafen bildet, beleben die beiden Flüsse. Über dem altertümlichen Städtchen erhebt sich die prächtige Burgruine, die den romantischen Schmuck dieser auserwählten Gegend bildet und dem Heidelberger Schloß nicht viel nachgibt. Wertheim ist eine ächte Frankenstadt und muß geographisch zu Unterfranken gerechnet werden. Ursprünglich gehörte die Stadt, deren Entstehung in den »Erzählungen« von Gottfried und Johanna Kinkel so poetisch geschildert ist, zum Bistum Würzburg und kam im zwölften Jahrhundert in den Besitz der Grafen von Wertheim, denen sie über vierhundert Jahre verblieb. Nach deren Aussterben fiel die Stadt an die Häuser Stolberg und Erbach und von diesen an die Grafen von Löwenstein; daher die Linien Löwenstein-Wertheim-Freudenberg und Löwenstein-Wertheim-Rosenberg. Über diese Namen ist viel gewitzelt worden. Vielleicht hat auch Frau Historia sich ein Witzchen gestattet und die heute bestehende Verbindung von Warenhaus und Aristokratie auf Kosten des allerdings dabei unbeteiligten Hauses Löwenstein scherzhaft im voraus angedeutet.

Als Baden 1806 dem Rheinbund beitrat und von Napoleon zum Großherzogtum gemacht wurde, fiel Wertheim an Baden und der Main wurde auf eine kurze Strecke Grenzfluß zwischen Bayern und Baden. Das gegenüberliegende Kreuzwertheim ist bayrisch.

Aus dem stillen Wertheim ist mancher in die große Welt hinausgegangen, der sich dort einen Namen gemacht hat. Im Grafengeschlecht erscheinen hervorragende Persönlichkeiten, namentlich Graf Georg, der am Bauernkrieg von 1525 auf seite der aufständischen Bauern teilnahm, nachher aber wieder abfiel. Der Begründer der »Vossischen Zeitung« stammte aus der Wertheimer Schifferfamilie Rüdiger. Der preußische Reaktionsminister Eichhorn, nach dem die Eichhornstraße in Berlin benannt ist, war auch aus Wertheim gebürtig. In neuerer Zeit machte sich der Wertheimer Lehrerssohn Hermann Schil ler als[3] Historiker und als hervorragender Pädagoge bekannt; seine Maßregelung in Gießen erregte großes Aufsehen.1

Auch unter meinen Vorfahren mütterlicherseits befanden sich solche, die sich draußen in der Welt einen Namen gemacht haben. Meine Mutter stammte nämlich aus der in Wertheim alteingesessenen Familie Schmezer. Eine Tradition besagt, daß diese Familie von einem schwedischen Trompeter abstamme. In der Tat erzählt die Wertheimer Chronika, daß die Schweden, als sie im dreißigjährigen Kriege Wertheim zum zweiten Mal besetzten und der Stadt einen Schutzbrief ausstellten, einen Trompeter zurückließen, um über den Schutzbrief zu wachen. Nach zwei Jahren wurde der Trompeter von den Kaiserlichen vertrieben. Er hat jedenfalls Zeit genug gehabt, eine Familie zu stiften. Eine Berliner Bildhauerin, die mich kürzlich modellieren wollte, sagte, ich hätte den Kopf eines schwedischen Reiteroffiziers aus dem dreißigjährigen Kriege. Hm!

Auf dem Markt zu Wertheim, am Eingang der Münzgasse, steht ein turmartiges altes Häuschen, ein originelles Bauwerk. Dort hauste in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts mein Urgroßvater Peter Schmezer, ehrsamer Kaufmann, Knopfmacher und Ratsherr. In dem engen Häuschen tummelte sich eine muntere Kinderschar, Söhne und Töchter. Zwei der Söhne sind draußen in der Welt bekannt geworden und erfreuten die Zeitgenossen mit der musikalischen Begabung, die in der Familie Schmezer reichlich vorhanden war. Der eine war der bekannte Freund Scheffels, Christoph Schmezer, Pfarrer zu Ziegelhausen bei Heidelberg, »Tegulinums Augur«, wie Scheffel ihn nennt,2 sangesfroh und trinkfest. Die populären Melodien zu den Scheffelschen Liedern: »Das war der Herr von Rodenstein« und »Der Enderle von Ketsch« sind sein Werk. Das gastliche Pfarrhaus zu Ziegelhausen am Neckar war Jahrzehnte hindurch ein Wallfahrtsort für fröhliche und »trinkbare« Zeitgenossen.

Der jüngste Sohn, Friedrich Schmezer, besaß eine herrliche Tenorstimme. Er sollte Kaufmann werden. Als eines Tages der damals berühmte Violinist und Komponist Fesca nach Wertheim kam, hörte er den jungen Schmezer im Kirchenchor singen und sagte ihm, wenn er zum Theater ginge, würde er sein Glück machen. Einige Wochen später trat Schmezer bei Fesca in Karlsruhe an und dieser half ihm sich ausbilden. Er war seiner Zeit einer der berühmtesten Tenoristen Deutschlands und wirkte als solcher viele Jahre am Hoftheater in Braunschweig, zuletzt als Regisseur.

Der zweitälteste unter diesen Brüdern war mein Großvater, Johann Wilhelm Schmezer. Dieser widmete sich einer kaufmännischen Laufbahn[4] bahn zu Frankfurt am Main, wo er lange Zeit ein Tuchgeschäft in der Schnurgasse besaß. Er wurde sehr wohlhabend, verlegte sein Geschäft nach Wertheim und lebte schließlich dort als Privatier. Seine älteste Tochter Wilhelmine war meine Mutter.

Man sagte früher, die meisten hübschen Mädchen in Süddeutschland gebe es zu Darmstadt, zu Karlsruhe und zu Wertheim. Zu den hübschen Wertheimerinnen konnte meine Mutter jedenfalls gerechnet werden. Sie besaß auch eine prächtige Sopranstimme und hat öfters, bei Wohltätigkeitskonzerten und ähnlichen Veranstaltungen, mit vielem Erfolg öffentlich gesungen. Daß sie bald viele Verehrer hatte, ist begreiflich. Die Eltern suchten sie früh zu verheiraten. Um sie, wie man mir später sagte, vor den Nachstellungen einer einflußreichen Persönlichkeit zu bewahren. So wurde sie mit 18 Jahren die Gattin des jungen Arztes Dr. Aloys Blos und zwar im Sturmjahr 1848.

Mein guter Vater stammte aus dem Dörfchen Dörlesberg bei Wertheim. Von streng katholischer Familie, sollte er Theologe werden. Schon war ihm die Tonsur auf seinem Haupte angebracht worden, als er umsattelte und Medizin studierte. Er mußte sich Entbehrungen auferlegen, da seine Familie das Umsatteln sehr übel aufnahm. Er war übrigens ein sehr frommer Mann von streng katholischer Gesinnung, wie aus sei nen hinterlassenen Dichtungen zu ersehen war. Um meine Mutter zur Gattin zu erhalten, mußte er das Zugeständnis machen, die zu erwartenden Kinder protestantisch taufen zu lassen, was auch geschehen ist. Es mag ihm schwer geworden sein.

Am 5. Oktober 1849 erblickte ich zu Wertheim das Licht der Welt.

Das fiel in eine bewegte Zeit. Kurz zuvor war die dritte badische Volkserhebung durch eine Exekutionsarmee von 60,000 Preußen und Reichstruppen niedergeworfen worden. Viele Tausende waren aus dem Lande geflüchtet, in dem nunmehr eine schonungslose Reaktion raste. Die Gefängnisse waren überfüllt; Tausende von Familien in Trauer und Not gebracht. In Mannheim und Rastatt krachten die Standrechtsschüsse und die Kugeln durchbohrten die tapfersten Herzen.3 Die Revolution hatte auch die gute Vaterstadt Wertheim erfaßt gehabt. Die Wertheimer Bürgerwehr zog bewaffnet grimmig aus, kam aber nur einige Stunden weit und kehrte wieder heim, nachdem sie tüchtig auf den Dörfern geschmaust und gezecht. Auch komische Szenen kamen vor; so streifte auf dem Markte ein robustes Fischerweib die Ärmel von ihren muskulösen Armen und rief: »Jetzt gehts den Bratenfressern an den Kragen!« Ein recht wilder Bürgerwehroffizier, ein Friseur, soll vor der Front seiner Kompanie von seiner Frau eine Ohrfeige erhalten haben. Aber in unsere Familie spielte die Revolution ernsthaft hinein. Mein Vater war als strenger Katholik und als Quasi-Leibarzt des Fürsten von Löwenstein den Revolutionären verhaßt; desgleichen mein Großvater, welcher in Geldgeschäften mit dem[5] fürstlichen Hause zu tun hatte und als behäbig-bürgerliche Erscheinung zu den »Bratenfressern« gezählt wurde. Mein Vater entzog sich der Festnahme als Konterrevolutionär, indem er eine Zeitlang unsichtbar wurde. Mein Großvater blieb und bald erreichte ihn das Schicksal. Ein bewaffneter Volkshaufe umzingelte das Haus, wo er wohnte. Er kam in seinem gestrickten Wams, wie man es damals trug, gerade aus dem Keller und hielt in jeder Hand eine Flasche Wein. »Aha, er verpraßt wieder den Schweiß des Volkes!« schrie es und mein Großvater ward festgenommen. In diesem Moment erschien meine Mutter in höchster Aufregung am Fenster und es waren wohl keine Schmeicheleien, die sie hinabrief. Einige der Bewaffneten – es hieß nachher, sie seien stark »angeraucht« gewesen – schlugen die Gewehre auf die junge Frau an. Es war ihnen wohl nicht ernst damit, aber unter solchen Umständen sind Spässe dieser Art nicht ungefährlich. Hätten sie geschossen, so hätten sie möglicherweise einen der künftigen Geschichtsschreiber ihrer Revolution im Mutterleibe getötet.

Mein Großvater ward nach der »Mehlwage« abgeführt. Auf dem Transport dahin bedrohte ihn, wie mir Professor Schiller als Augenzeuge noch vor mehreren Jahren erzählte, ein Volksschullehrer mit einem Messer. Mein Großvater blieb in Gefangenschaft, bis die Preußen kamen. Der Lehrer wurde eingezogen und prozessiert, wobei es ihm hätte schlecht ergehen können. Aber mein Großvater war edelmütig und sagte aus, er habe von dem Messer nichts gesehen. Der Lehrer wurde zur Auswanderung nach Amerika begnadigt.

Der Schatten, den diese Ereignisse über das Familienleben geworfen, wurde ziemlich verscheucht, als die junge Frau Doktor Blos einen gesunden Jungen zur Welt brachte. Der Großvater freute sich am meisten über den männlichen Nachkommen.

An meiner Wiege standen eine gute und eine böse Fee. Die gute Fee hatte mir alle die äußeren Glücksumstände gebracht, die eine gute Zukunft verheißen konnten. Aber die böse Fee, die leider die Oberhand gewann, vereitelte das alles und zwang mich manchen Dornenpfad zu wandeln. Die böse Fee war auch leider kein bloßer Schemen, denn sie erschien mir später in Menschengestalt, als Wesen von Fleisch und Blut.

Mein Vater verließ nach einigen Jahren aus Gründen, die ich nur mutmaßen kann, Wertheim und verzog nach Eberbach am Neckar, wo er als Amts-Chirurg angestellt wurde. Er hatte dort eine sehr anstrengende Landpraxis zu versehen und fing bald an zu kränkeln. Auf den rauhen Höhen des Odenwalds, um den Katzenbuckel herum, hatte er sich eine schwere Erkältung zugezogen, die in ein unheilbares Lungenleiden überging. Dazu kam, daß die Ehe keine glückliche war. Die junge lebenslustige Frau veranstaltete trotz des kranken Mannes viele geräuschvolle Festlichkeiten im Hause, bei denen sie von der Hautevolee des Städtchens huldigend umschwärmt wurde.

Mein Vater nahm mich bei milder Witterung oft mit aufs Land in seinem altmodischen Einspänner, den er selbst kutschierte. Die Kutsche[6] konnte durch ein aus Glasscheiben bestehendes Vordach bei schlechtem Wetter geschlossen werden; eine Scheibe fehlte und durch das Loch ging der Zügel. Mein Vater hing mit unendlicher Liebe an mir. In den hochgelegenen Dörfern des Odenwaldes sah ich dazumal zuerst das menschliche Elend. Es waren schlechte Jahre gewesen und die ärmere Bevölkerung befand sich in schrecklichem Zustande. Ich betrat mit meinem Vater Hütten, wo uns die Eltern halbnackt im Hemde, besser gesagt in Lumpen, und die Kinder so ziemlich ganz nackt entgegenkamen. Als damals zwischen Eberbach und Hirschhorn eine Zündholzfabrik errichtet wurde, erschien dies der Bevölkerung in ihrer Not wie ein Segen des Himmels, da sie Arbeit und kärglichen Verdienst bekam. An die Gefahren der Zündholzindustrie dachte damals niemand; die Nekrose kam aber bald zum Vorschein.

Mein Vater mußte auf den Bauerndörfern das Impfen ausführen, gegen welches bei den Bauern die stärkste Abneigung bestand. Ich sah die Kinder in langen Reihen auf Bänken sitzen, sie heulten und sträubten sich, während die Mütter dabei standen und räsonierten. Übrigens hatte mein Vater selbst starke Zweifel und ließ seine Kinder von einem anderen Arzt impfen, um sein Gewissen gegen etwaige Folgen zu salvieren.

1855 kam ich in Eberbach in die Volksschule; ich hatte schon vorher etwas Lesen und Schreiben gelernt und konnte mit meiner Mutter schon ganz nett Klavier spielen. Zu meinem Bedauern wurde ich musikalisch nicht fortgebildet.

Unter dem freundlichen alten Lehrer Donner kam ich in der Schule gut vorwärts. Hier stieß ich auch zuerst auf die Spuren der Revolution, die sechs Jahre zuvor das Neckartal durchtobt hatte. Von einigen Schulkameraden hieß es, ihre Väter seien in Amerika. Als ich sie fragte, wie dies käme, antwortete einer verlegen: »Hm! Freischärler!« Als ich zu Hause fragte, was Freischärler seien, antwortete die alte Dienstmagd, das seien Leute, die anderen hätten »ihr Sach« stehlen und die Häuser anzünden wollen.

Mein Vater wurde von dem berühmten Kuß maul behandelt, mit dem er befreundet war; ich erinnere mich auch, daß wir einmal in Kußmauls Hause in Heidelberg, gegenüber der Universität, und in seinem Garten waren, wo er uns zu trösten suchte. Er gab sich viele Mühe, aber die tückische Krankheit schritt unaufhaltsam vor. Mein Vater starb im Frühjahr 1856. Als ich ihn mit seinem abgezehrten Antlitz im Sarge liegen sah, überwältigte mich die Empfindung, daß ich von einem unersetzlichen Verlust betroffen worden war. Er hinterließ in der Bevölkerung ein gutes Andenken und noch nach langen Jahren rühmte man ihn als geschickten und gewissenhaften Arzt und als vortrefflichen Menschen.4 Er hatte auch das Unheil, das seinen Kindern drohte, vorhergesehen und ihnen das Wenige, was er ihnen hinterlassen konnte, sicher gestellt.[7]

Die junge Witwe zog mit den Kindern nach Wertheim, wo sie aber nicht lange blieb. Sie begab sich nach Heidelberg, um sich einen Mann zu suchen. Mich nahm sie nicht mit, die bösen Zungen sagten, weil sie befürchtete, ich langaufgeschossener Bengel möchte bewirken, daß die künftigen Freiwerber ihr Alter höher taxierten, als sie es angab. Die böse Fee lenkte nunmehr meinen Lebensgang.

Ich besuchte die Wertheimer Volksschule und kam »in Kost und Logis« zu dem Lehrer Schiller, dem Vater des schon genannten Historikers. Dieser Schiller und seine Frau waren prächtige Leute und ich fühlte mich recht wohl bei ihnen. Sonntags speiste ich bei meinem Großvater, der mich zärtlich liebte. Die Großmutter war eine Stiefmutter meiner Mutter, eine strenge aber gewissenhafte Frau. Der Großvater starb 1857 im 65. Jahr Eine Sage knüpfte sich an diese markante Persönlichkeit. Er pflegte am Sonntag in seinem Garten vor der Stadt die Blumen zu begießen und seine Erscheinung in dem gestrickten Wams hatte sich dem Sonntag vormittag zur Kirche in der Stadt ziehenden Landvolke so eingeprägt, daß es ihn auch nach seinem Tode noch zu sehen glaubte. Es hieß, der alte Schmezer müsse »umgehen« und als Geist die Blumen begießen, weil er dies zu Lebzeiten sündhafter Weise am Sonntag zur Kirchzeit getan habe. Die Bevölkerung der Umgegend der altprotestantischen Stadt Wertheim war nämlich streng katholisch.

Inzwischen verheiratete sich meine Mutter wieder. Aus Dutzenden von Freiern hatte sie sich gerade den brutalsten und borniertesten herausgesucht. Sie gehörte offenbar zu jenen Frauen, denen die brutalsten Männer am besten gefallen. Der Stiefvater war ein Förster und in Ziegelhausen bei Heidelberg angestellt. 1857 reiste ich mit dem jungen Schiller, der die Universität Heidelberg bezog, dahin ab. Wir fuhren mit dem Maindampfer nach Lohr und von da mit der Bahn nach Frankfurt. Die alte Reichsstadt kam uns damals recht finster vor.

Der Stiefvater empfing mich recht liebenswürdig, ja zärtlich, denn er nahm mich neunjährigen Bengel auf seine Arme und trug mich durch seinen großen Garten ins Försterhaus. Aber das kam bald anders.

In Ziegelhausen ward ich wieder in die Volksschule geschickt und kaufte mir in Heidelberg ein neues Lesebuch. Dieses aufgeschlagen in der Hand haltend passierte ich das Brückentor und aus einem der dort befindlichen zahlreichen Schwalbennester ließ eine stoffwechselnde Schwalbe ihren Abgang auf das Titelblatt des Lesebuchs fallen.

Das war die böse Fee, die sich in ein Schwälbchen verwandelt hatte.

Mit diesem Tage begann eine Leidenszeit, denn als ich nach Hause kam und der Stiefvater das beschmutzte Titelblatt, das ich vergeblich zu reinigen versucht hatte, entdeckte, prügelte er mich fürchterlich. Er war wie[8] umgewandelt und von da ab wurde ich sehr häufig geprügelt, manchmal auf ganz barbarische Art. Außer den Schulbüchern gestattete mir der Mensch keine Lektüre, ausgenommen eine »Naturgeschichte der Hunde«. Dagegen mußte ich eine Pflanzensammlung anlegen und wurde oft mit auf die Jagd geschleppt. Dabei mußte ich allerlei Jägerburschendienste verrichten. Gegen alles Jagdwesen bekam ich damals einen Widerwillen fürs Leben. An meiner Mutter, die in den brutalen Gatten verliebt war, fand ich nicht den geringsten Rückhalt.

Aus der unerträglichen Atmosphäre des Försterhauses, wo ich nur Schimpfworte zu hören bekam, flüchtete ich mich so oft ich konnte in das heitere Pfarrhaus, wo mein Großoheim, der schon erwähnte Pfarrer Schmezer, mich immer gleich freundlich empfing. Mich zu beschweren wagte ich nicht, das hätte nur vermehrte Prügel zur Folge gehabt. Im Pfarrhause verkehrten damals der Geschichtschreiber Häusser, der Dichter Scheffel, der erst seinen Aufstieg nahm, und andere interessante Menschen. Da wurde gezecht, gesungen, gelacht und gescherzt und ich armer Junge vergaß im Pfarrgarten, wo ich mit den Kindern des Hauses tollte, auf kurze Zeit das Elend daheim. Auf dem Heimwege flennte ich dann manchmal kläglich, beneidete die Kinder des Pfarrhauses um ihre gütigen Eltern und trauerte um meinen Vater.

Von den Unterhaltungen des Pfarrers und seiner Freunde verstand ich natürlich das meiste nicht. Die Erinnerungen an die Revolution von 1849 waren damals sehr lebendig und unzählige Anekdoten aus jener bewegten Zeit wurden aufgetischt. So erzählte mein Onkel, daß er einst, als eine Abteilung der Revolutionsarmee Ziegelhausen besetzt hielt, in Talar und Bäffchen an dem großen Brunnen in der Mitte des Dorfes vorüber kam. Dort schliff ein Volkswehrmann in blauer Bluse und Heckerhut mit roter Feder seinen mächtigen Sarras auf dem Rande des Brunnentrogs. Er hielt dem Pfarrer die funkelnde Klinge hin und rief: »Pfaff, der ist für dich!« Das wurde sehr belacht; der Pfarrer aber sagte: »Es war nicht so böse gemeint!« – Er erzählte auch von Johann Philipp Becker, der mit seinem Stabe im Pfarrhause im Quartier lag.

Von Ziegelhausen wurde mein Stiefvater nach Waldkirch an der Elz, einem freundlichen Schwarzwaldstädtchen am Fuße des Kandels, versetzt. Die Brutalität des Stiefvaters nahm zu und wer weiß, zu welchen Verzweiflungsstreichen sie mich getrieben hätte ohne den guten Humor, den ich von Haus aus besaß und der mir damals wie später über manche Widerwärtigkeiten hinweghalf. Einmal brannte ich aber doch durch und wollte ohne weiteres in die weite Welt hinaus. Ich war schon gegen fünf Stunden marschiert, aber ich befand mich noch im Forstrevier des Haustyrannen und plötzlich stand er vor mir. Mit einer Tracht Prügel wurde ich wieder nach Hause gejagt.

Ich mußte nunmehr sehr häufig mit auf die Jagd. Ost wurden mir die beiden großen Hühnerhunde am Gürtel festgebunden; wenn sie etwas witterten, rissen sie mich zuweilen um und schleiften mich. Ich bekam dann[9] noch eine Ohrfeige dazu. Auch wenn die Rebhühner zu früh aufflogen und die Schrote fehl gingen, ward ich dafür geprügelt. Kamen wir in ein Bauernhaus und mein Stiefvater sah eines der zahlreichen Heckerbilder, die es damals noch auf dem Schwarzwald gab, so tobte er fürchterlich. Die Bauern versteckten diese Bilder vor ihm, wenn es möglich war. Wurde mir in solch einem Hause eine Erfrischung angeboten, so durfte ich sie nicht annehmen. Zu Hause durfte ich nicht an den Familientisch und mußte in der Küche essen. Als einst Verwandte kamen, waren sie darob höchst empört und machten Vorstellungen, aber ganz vergeblich.5 Außer den Prügeln wurde auch Einsperrung als Strafe verhängt; als Hastlokal diente der finstere Keller, in dem ich manchmal mehrere Tage nacheinander von morgens bis abends eingesperrt war. Diese Strafe wurde durch Hunger verschärft. Dann schlichen sich mitleidige Nachbarsfrauen in den Keller und steckten mir durch den Lattenverschlag, hinter dem ich im Dunkeln kauerte, Obst oder ein Stück Brot mit Speck und dergleichen mehr zu.

Aber die Mutter? Diese ließ alles ohne Einspruch geschehen, vernachlässigte mich in jeder Beziehung und stimmte häufig in die wüsten Beschimpfungen ein, die ihr Mann gegen mich schleuderte. Sie hat dies alles in späteren Jahren hart büßen müssen. Denn als ihr Mann keine Kinder mehr zum Gegenstand seiner Brutalitäten machen konnte, mißhandelte er seine Frau, wofür er einmal gerichtlich verurteilt wurde.

In der Schule kam ich gut fort. Es gab in Baden damals jene erweiterten Volksschulen, in denen Vortreffliches geleistet wurde. Ich hatte das Glück, einen vortrefflichen Lehrer namens Dammert zu bekommen. Da ich leicht lernte und da ihm mein Elend im Elternhause nicht unbekannt war, nahm er sich meiner mit besonderem Eifer an. Diesem edlen Manne verdanke ich viel und habe immer mit inniger Verehrung seiner gedacht. Soweit er konnte, nahm er mich gegen meinen Stiefvater in Schutz. Überhaupt wendeten mir viele gute Menschen, die mich leiden sahen, ihre Sympathie zu.

Unter Dammerts verständiger Anleitung hatte ich mich auf Geographie geworfen und auch Karten zeichnen gelernt. Mein guter Lehrer brachte mir den Auftrag, eine Karte des Großherzogtums Baden, etwa anderthalb Meter hoch, für eine Dorfschule bei Waldkirch anzufertigen. Ich mußte die Arbeit in dem Elternhause eines Schulkameraden ausführen, denn der Stiefvater hätte sicher aus Bosheit die Sache als »unnütz« irgendwie durchkreuzt. Die Karte wurde angenommen und befindet sich vielleicht heute noch in dem Dorfe. Mein Lehrer belobte mich freudestrahlend vor der Klasse und überreichte mir drei funkelnagelneue Guldenstücke als Honorar. Ich kam überglücklich nach Hause, wo die gemütvolle Mama mir alsbald die drei Guldenstücke abnahm, mit der Bemerkung, die kämen gerade recht für eine neue Hofe!

Ich war nun dreizehn Jahre alt geworden und es entstand die Frage, was aus mir werden solle. Ich hätte gern musikalischen Unterricht gehabt.[10] Es standen zwei Klaviere im Hause, allein man wollte für mich nichts ausgeben und auch eine Violine schlug man mir ab. Von meinem Stiefvater war nur die eine Antwort zu bekommen, wenn es sich um meine Zukunft handelte: »Der Kerl soll Schuster werden.«

Dabei muß betont werden, daß meine Eltern sich in sehr guten Verhältnissen befanden, denn meine Mutter besaß ihr väterliches Vermögen und der Stiefvater erhielt von seiner noch lebenden und sehr wohlhabenden Mutter reichliche Zuschüsse.

1863, am 18. Oktober, flammten die Feuerzeichen von allen Höhen; es waren fünfzig Jahre seit der Schlacht von Leipzig verflossen. Die Bürgerschaft veranstaltete eine große Feier. Damals lebten noch viele alte Soldaten, die bei Leipzig auf seite Napoleons gefochten hatten. Sie schlichen mit gemischten Gefühlen in dem Festgetümmel umher. Einer dieser Soldaten war der alte Wernet, der mit Napoleon in Rußland gewesen war. Er beschäftigte sich viel mit mir und ich klagte ihm einst, daß ich eine tiefe eiternde Wunde am Knie habe und daß meine Mutter sich nicht darum bekümmere. Es war eine skrophulöse Entzündung. »Komm nur«, sagte der alte Wernet, »das muß weg!« Er führte mich zum Baden an die Elz, obwohl es schon Herbst war. Als mich fror, sagte er: »Du hättest mit mir durch die Beresina schwimmen sollen; da war es etwas kälter!« – Aber die Wunde wurde geheilt. Zugleich lehrte mich der alte Wernet trefflich schwimmen.

Die Flammenzeichen auf den Schwarzwaldhöhen verkündeten für mich eine neue Zeit der Freiheit. Denn plötzlich erschien meine Großmutter aus Wertheim in Waldkirch.

Wie eine Freiheitsgöttin sah diese Frau mit ihren steinernen Zügen nun nicht aus. Aber sie hatte meinem Großvater kurz vor dessen Tode das Versprechen geben müssen, sich meiner anzunehmen, wenn ich schlecht behandelt würde. Auf irgendeinem Wege war die Kunde von meinen Leiden zu ihr gedrungen und nun kam sie, ihr Wort einzulösen. Sie war sehr fromm und hätte sich, wenn sie wortbrüchig geworden, vor dem Zusammentreffen mit ihrem Manne im Jenseits gefürchtet.

Die Großmutter liebte ihre Stieftochter nicht und mich auch nicht. Aber sie trat so gebieterisch auf, daß sogar der Haustyrann sich duckte und ihre Vorwürfe schweigend einsteckte. Dann wurde ausgemacht, daß ich zu ihr nach Wertheim kommen und dort das Gymnasium (damals Lyzeum genannt) besuchen sollte. Sie reiste gleich wieder ab und in einigen Wochen folgte ich ihr nach, nur mit dem Allernötigsten versehen. Mit Tränen nahm ich von meinem trefflichen Lehrer Abschied. Ich sah ihn nie wieder.

Sonst wurde mir der Abschied leicht, wenn ich mir auch bewußt war, nun für immer kein Elternhaus zu haben. Überhaupt hatte sich mein lebenskräftiges und widerstandsfähiges Naturell nur äußerlich beugen lassen; ich lebte nun neu auf.

Aber es sollte in Wertheim ganz anders kommen, als ich in meinen Träumen mir ausmalte.[11]

Von den Quälereien, wie ich sie bisher erlitten, war in Wertheim keine Rede. Meine Großmutter war streng, aber im allgemeinen nicht ungerecht, und für das, was sie an meiner Erziehung nachholte, bin ich ihr immer dankbar geblieben. Ihre Härte verletzte manchmal empfindlich und alle ihre Bußpredigten hatten die Einleitung: »Wenn man nichts hat« – –! Aber sie konnte auch wieder recht gut sein.

Dem Alter nach war ich schon für die Tertia des Lyzeums6 zu spät gekommen. Nun mußte eilends und mit Anspannung aller Kräfte das Versäumte nachgeholt werden. Ich wurde in die Tertia zwar als Extraordinarius aufgenommen, mußte mich aber auf den letzten Platz setzen, was mir schrecklich war. Einer der Klassenlehrer war ein junger Professor, der künftige Schwiegersohn meiner Großmutter, bei der sich noch eine unverheiratete Tochter befand. Dieser Tante kam ich sehr unerwünscht. Sie lebte wohl immer in der Furcht, ihre Mutter könnte mir etwas vermachen.

Der Professor gab mir jeden Abend eine Stunde Latein; dies war das einzige, was nachzuholen war. Es war dies aber keine kleine Aufgabe nach den Unterrichtsstunden, die er am Tage zu geben zu hatte, und eine recht widerwärtige Störung für das Brautpaar. Der Professor war begreiflicherweise meist schlechter Laune. Wenn ich etwas nicht gleich begriff, so stieß er mich mit dem gebogenen Zeigefinger vor die Stirne, so daß mir die Tränen in die Augen traten. Ich besitze noch eine lateinische Grammatik mit Tränenspuren. Auch in der Klasse ließ der gute Onkel manchmal seinen Stock auf den auf dem letzten Platz sitzenden Neffen niedersausen, wenn er sich über die anderen geärgert hatte. Ich begriff, daß es meine Aufgabe sei, mit eisernem Fleiße mein Pensum zu bewältigen, und es geschah. Ich konnte regelrecht zur Quarta emporsteigen und der Privatunterricht hörte auf. Ich mußte dem Onkel dankbar sein, aber er und seine Frau haben mich ihre Mißgunst immer fühlen lassen. Der Onkel ging darin so weit, daß er eines Tages bei Tische die Großmutter aufforderte, mir doch stets die Knochen des Bratens vorzulegen; daran sei das beste Fleisch. Sie legte mir schweigend ein recht großes Stück Braten ohne Knochen vor.

Das Brautpaar heiratete und ich wurde konfirmiert. Bei letzterer Gelegenheit verdarb ich es leider mit meiner Großmutter, wenn auch nicht ganz, so doch zum größten Teil.

In Wertheim bestand die Unsitte, daß die Konfirmanden alle Verwandten besuchen und sie für etwa begangene Kränkungen um Vergebung bitten mußten. Da ich in Wertheim sehr viele Verwandte hatte, so war dies für mich ein saures Stück Arbeit. Die vernünftigen Verwandten sagten: »Ei, du hast uns ja gar nichts getan!« Eine sehr vernünftige Tante setzte mir ein gutes Glas Wein vor. Den anderen Verwandten hatte ich auch nichts getan; aber es befanden sich unter ihnen Philister und Pharisäer beiderlei Geschlechts, die gierig diese Gelegenheit ergriffen, mir unsäglich alberne und abgeschmackte Moralpredigten zu halten. Mir wurde ganz übel und ich kam in einer Art geistiger Depression nach Hause.[12] Meine Großmutter wollte ich zuletzt um Verzeihung bitten, setzte mich aber in mein Zimmer, um erst noch aufzuatmen, während sie begierig auf mich wartete, denn auch sie war mit einer großartigen Moralpredigt geladen. Als ich nun nicht gleich kam, glaubte sie, ich wollte trotzen, rauschte aufgeregt in mein Zimmer und rief: »So, du undankbarer Mensch, mich allein willst du nicht um Verzeihung bitten, nachdem ich so viel Gutes an dir getan« usw. usw.

Ich holte die Bitte um Verzeihung nach, aber die strenge Frau verzieh mir nur äußerlich. Der liebe Onkel und die liebe Tante waren unermüdlich, die aufkeimende Abneigung bei ihr zu bestärken, und sie beschloß, mich mit guter Art los zu werden, wenn auch nicht sogleich.

Immerhin waren die Jahre, die ich bei der Großmutter zubrachte, glücklich im Vergleich zu jener Zeit, da ich täglich den Roheiten meines Stiefvaters ausgesetzt war. Ich kam auch in der Unter- und Oberquarta gut vorwärts; ich wurde der Zweite; das war schon viel, denn damals wurde anders lociert als heute. Meine Großmutter aber sagte: »So lange du nicht der Erste bist, bin ich nicht mit dir zufrieden!« Und dabei blieb sie, obwohl ich der Erste nicht werden konnte, da derjenige, der diesen Platz einnahm, sich einer unüberwindlichen Protektion erfreute.

Mein Interesse für Geschichte war schon in Waldkirch erwacht und verstärkte sich nun. Indessen bot der Unterricht in neuerer Geschichte sehr wenig, die mich mehr interessierte als die antike. Durch besondere Umstände ward ich darauf hingedrängt, mich mit neuerer Geschichte zu beschäftigen. Neben mir saß in der Klasse häufig der junge Herr von Weltzien, dessen Vater, Major im 31. preußischen Landwehrregiment, 1849 nach der Eroberung von Rastatt Kommandeur dieses Platzes geworden war. Dieser Major, ein sehr frommer Mann, pflegte vom Pferde herab Ansprachen an die gefangenen Revolutionstruppen zu halten, die in den Kasematten zu Rastatt lagen. Als einst ein Gefangener bei einem Fluchtversuch erschossen worden war, wurde sein Leichnam vor der Front der aufgestellten Kasemattenbewohner niedergelegt und Major von Weltzien sagte, wie damals die Zeitungen berichteten, in seiner Ansprache: »Hier liegt der Hund und hier steht der brave Mann, der ihn erlegt hat!« – Ich hörte die Szene übrigens auch von einem Augen- und Ohrenzeugen schildern. Dieser polternde Major war aber, wie Corvin bestätigt, ein sehr gutherziger Mensch, der unter dem Schein äußerlicher Schneidigkeit das harte Los der Gefangenen vielfach gemildert hat. Sein Sohn, mein Nachbar, war ein großer, blonder, blasser, stets etwas melancholischer Jüngling, liebenswürdig und artig, in wohltuendem Gegensatz zu dem damals auch am Wertheimer Lyzeum befindlichen Sohn eines Gefängnisdirektors, der sich durch seine Behandlung der gefangenen Aufständischen bei der Reaktion empfohlen hatte. Der junge Weltzien kam mir sehr nett entgegen und erzählte mir viel von den Taten seines Vaters im badischen Feldzuge. Es war begreiflich, daß er glaubte, das Auftreten der badischen Revolutionsarmee sei nur ein ununterbrochenes feiges Davonlaufen von[13] der Bergstraße bis zum Bodensee gewesen. Mich aber regten die Unterhaltungen mit Weltzien an, die Geschichte von 1848 im allgemeinen und die der badischen Revolution im besonderen zu studieren. Aber erst ein Vierteljahrhundert später erschien die Frucht dieser Studien in Gestalt meiner Geschichte der deutschen Bewegung von 1848 und 1849.

Ein preußischer Offizier namens von Weltzien fiel 1870 bei Gravelotte. Ob es mein Schulkamerad war?

Übrigens spielten meine früh erworbenen Geschichtskenntnisse bei einer anderen Gelegenheit eine nicht uninteressante Rolle. In dem Schlosse zu Bronnbach, wo sich die berühmte alte Klosterkirche befindet, anderthalb Stunden von Wertheim, hauste damals der vertriebene König von Portugal, Dom Miguel. Dieser hatte die Prinzessin Adelheid von Löwenstein-Wertheim-Rosenberg geheiratet und trieb im Bronnbacher Schlosse allerlei »legitimistischen« Hokuspokus. Wenn seine Frau ein Kind gebar, was siebenmal der Fall war, so kamen zur Taufe aus Portugal jedesmal eine Menge meist hochadeliger Anhänger des mit Dom Miguel gestürzten Absolutismus, Junker und Pfaffen. Diese brachten stets einige Wagenladungen portugiesischer Erde mit und mit dieser wurde der Boden der Kirche belegt, in welcher der Taufakt vor sich ging. Damit glaubte Dom Miguel die »legitimen« Ansprüche seiner Kinder auf den portugiesischen Thron bekräftigt zu haben.

Ich sah den Exkönig oft, den kleinen, unansehnlichen weißbärtigen Mann mit einem unstäten Blick.7 Er ging gern auf der Bronnbacher Landstraße spazieren und wenn er einen Bettler traf, so spielte er den heiligen Martinus, oder übertraf diesen noch: er schenkte dem Bettler seinen Rock und ging hemdärmelig nach Hause. Diese abgeschmackte Komödie wurde dann jedesmal von den ultramontanen Blättern gerühmt.

Einige meiner Mitschüler ärgerten sich über dies Treiben und brachten es mir gegenüber zum Ausdruck. Ich sagte, das dumme Spießbürgertum lasse sich von dem Exkönig nur imponieren, weil es seine Vergangenheit nicht kenne. Dann erzählte ich den aufhorchenden Jünglingen von Miguels gefürchteter Mutter Charlotte, von seinen Gewalttaten, seinen Blutgerichten und dem Verrat an seiner Braut Maria da Gloria. »Was«, rief einer, »dieser kleine schwächliche Kerl hat siebenunddreißig Menschen hingerichtet?« – Einige Tage nachher wurde erzählt, am Schlosse in Bronnbach seien mit Kreide die Namen »Villaflor« und »Saldanha«8 angeschrieben gewesen und zwar groß mit Kohle; die Dienerschaft habe sie erregt und mit größter Eile ausgelöscht. Ich war damals zu allerlei Mutwillen leicht zu haben. Wir ließen in der Klasse Sperlinge und Maikäfer fliegen, gaben uns einmal auch falsche Namen, daß der Lehrer ganz irre wurde, und was sonst dergleichen Schülerstreiche sind. Einmal aber bekam mir der Mutwillen schlecht. Wir hatten einen Klassenlehrer, der wegen seines Ganges »der Bock« genannt wurde. Ich wollte ihn einst kurz vor[14] Beginn des Unterrichts auf die Tafel zeichnen. Die Klasse sah erwartungsvoll zu. Da trat plötzlich der »Bock« vorzeitig herein, ich fuhr zurück, die Tafel fiel um und schlug mir auf den Kopf und zugleich schlug mir der »Bock« hinters Ohr. Die Klasse konnte drei Tage lang das Lachen nicht recht halten.

Ich las damals schon sehr viel. Einmal fiel mir auch die Broschüre: »Enthüllungen über das tragische Lebensende Ferdinand Lassalles«, von Bernhard Becker, in die Hände. Ich hatte kein Verständnis dafür, konnte auch nicht ahnen, daß ich sieben Jahre nachher mit diesem Becker in einem Zimmer wohnen sollte. Sehr interessierten mich die beiden Dichter, die in Wertheim lebten. Der eine war der Zeichenlehrer Andreas Fries, der sich 1848 und 1849 lebhaft an der Revolution beteiligt hatte, aber auf Verwendung der ihn hochschätzenden Bürgerschaft nicht verfolgt worden war. Seine Gedichte gefielen mir, namentlich die Art, wie er einzelne Mainsagen poetisch behandelt hatte, und mir war es eine hohe Freude, daß er sich mit mir manchmal unterhielt.

Der andere Dichter, Alexander Kaufmann, welcher das großartige Fürstlich-Löwensteinische Archiv zu Wertheim verwaltete, war mit meinem Vater befreundet gewesen. Das kleine schwächliche Männchen hatte zu Bonn in Kinkels Maikäferbund tüchtig getollt, wie ich später erfuhr; in Wertheim lebte er als frommer katholischer Christ sehr eingezogen, ein Bücherwurm. Die von ihm gesammelten Mainsagen gefielen mir sehr; auch unter seinen Gedichten muteten mich viele an. Bedeutender als diese beiden war die Dichterin, die in Wertheim lebte, nämlich die Gattin Kaufmanns. Sie war eine Tochter des Würzburger Bürgermeisters Binder, der seinerzeit den bekannten Aufruf in Sachen des rätselhaften Findlings Kaspar Hauser9 erlassen hat.

Frau Mathilde Kaufmann war, um den Dichter heiraten zu können, als Mädchen zum Katholizismus übergetreten. Sie war eine stolze junonische Erscheinung mit einem schönen ernsten Antlitz und tiefen dunklen Augen. Als Dichterin nannte sie sich Amara George und ihre schwermütigen »Blüten der Nacht« machten wie auf andere, so auch auf mich einen tiefen Eindruck. Ihr Männchen verschwand körperlich und geistig neben ihr.

Aber einmal erlebte sie in Wertheim ein Fiasko, das ihr lange nachging. Sie hatte ein Drama zur Verherrlichung der Grafen von Wertheim geschrieben, das im Gasthaus zum Ochsen von Dilettanten mit den primitivsten Mitteln aufgeführt wurde. Es behandelte eine Sage, nach der in grauer Zeit ein Graf von Wertheim im Zweikampf seinen Gegner überwunden und den Besiegten mit seinen nervigen Armen über die – an einzelnen Stellen sehr schmale – Tauber hinübergeschleudert haben soll.[15] Das Stück war ein gewöhnlicher Ritterschmarren, die Darstellung kindlich. Der riesenstarke Graf erschien in einer glänzenden Rüstung. Damit war aber auch die »Ausstattung« erschöpft und der Widerpart des Helden trug als »Brünne« eine Art Kochkessel auf dem Rücken, was bewirkte, daß der letzte Akt des Ritterschauspiels in sich immer wiederholenden Lachsalven unterging und der Vorhang vor der Zeit fallen mußte.

In diese Zeit fiel ein Ereignis, das mich tief bewegte. Ich kam oft zu einer Tante, wo ich gut angeschrieben war; sie hatte die Posthalterei und eine damit verbundene vortreffliche und weitbekannte Weinstube. Dort sah ich oft ein Fräulein, Elise R., die mit ihren Eltern bei meiner Tante im zweiten Stock wohnte. Die Familie hatte das Unglück gehabt, daß ein Sohn wegen leichtsinniger Streiche durchgegangen und in die Fremdenlegion geraten war. Der Vater hatte sich vergeblich an den Kaiser Napoleon III. gewendet. Elise war wohl die Schönste unter den Wertheimer Schönen; ich sehe ihre schlanke, biegsame Gestalt, ihr prächtiges blondes Haar, ihr frisches, rosiges, wunderschön geschnittenes Antlitz mit den seelenvollen tiefblauen Augen noch vor mir. Wir hatten sie alle lieb: wir Knaben verehrten sie wie ein höheres Wesen. Plötzlich ward sie unsichtbar und nachdem man kurze Zeit geglaubt, sie sei krank, lief die Hiobspost durch die Stadt, sie sei in die Wochen gekommen. Zugleich brannte ein Schüler der Ober-Sexta namens N. durch. Die Klatscherei in dem Städtchen schwoll an wie das Brausen der Meeresflut und wollte sich monatelang nicht legen. Als Elise sich einmal am Fenster zeigte, gab es einen Straßenauflauf. Sie beschloß dem Spießbürgertum zu trotzen, und erschien eines Tages auf der Straße. Ich sah sie, wie sie stolz erhobenen Hauptes dahinschritt, schöner als je zuvor. Die tiefblauen Augen sprühten Blitze; sie sah gerade aus, weder rechts noch links. Die Straßenjugend lief ihr nach, pfiff, gröhlte und johlte. Gruppen bildeten sich, die lachten, spotteten und mit dem Finger auf sie wiesen; sie mußte förmlich Spießruten laufen. Sie hielt stand und durchschritt langsam mit unbeweglichem Antlitz die Stadt. Sie nahm auch denselben Weg wieder zurück; daheim aber brach sie zusammen und entfloh bei Nacht und Nebel. Der Geliebte verließ sie und sie ging elend unter.

Ich hatte auch Gelegenheit, die kleinstädtische Spießbürgerei zu Hause zu beobachten. Mein Großoheim, der berühmte Tenorist Schmezer vom Braunschweiger Hoftheater, erschien eines Tages in Wertheim, begleitet vom Pfarrer Schmezer und – seiner Freundin. Diese war eine recht nette Choristin vom Hoftheater, die ihm den Haushalt führte, nachdem er sich von seiner Frau getrennt hatte. Er war in Schulden geraten; die Freundin hatte durch verständige Wirtschaft seine Verhältnisse wieder geordnet, wofür er ihr lebenslänglich dankbar war. Aber es war eine große Torheit, mit der Freundin nach Wertheim zu kommen und bei meiner Großmutter Quartier zu nehmen. Die arme Choristin wurde wie eine Aussätzige behandelt und die beiden Brüder Schmezer konnten gegen all die schnatternden Tanten und Basen, die neugierig herbeiströmten, nicht aufkommen.[16] Ich fand einst die arme Henriette – so hieß die Choristin – weinend auf ihrem Zimmer sitzen und tröstete sie, so gut ich konnte. Sie vergaß mir das nicht.

Bei diesen Vorfällen machte ich mir zum ersten Mal Gedanken darüber, warum man, wenn gegen die spießbürgerliche Moral verstoßen wird, fast immer nur das Weib entgelten läßt und warum der Mann meist glatt davonkommt.

Das Lyzeum befand sich in den engen Räumen der ehemaligen Kilianskapelle, eines prächtigen gotischen Baues. Von da schwärmten wir aus, hinauf nach den weitläufigen Ruinen der alten, im 30jährigen Krieg zerstörten Burg, wo ich gerne träumend lag; nach der Heide oberhalb der Stadt; wo wir unsere wilden Knabenspiele trieben, oder nach dem Hofgarten und dem Wald oberhalb der Stadt; die Birken genannt, wo man seinen »Schatz« traf, dem man auch in der Stadt Fensterparade machte. Solch ein unschuldiges »Verhältnis«, das man fast nur vom Sehen kannte, hatte fast jeder Lyzeist vom sechzehnten Jahre ab und ich natürlich auch.

Meine Großmutter quälte mich mit ihrer Frömmigkeit. Der Sonntag wurde mir dadurch verdorben, daß ich außer zum Vormittagsgottesdienst noch in die »Christenlehre« von halb eins bis eins gehen mußte. Die Eltern der anderen Schüler ließen zu, daß diese sich davon drückten. Ich ward dazu gezwungen. Dies trug vielleicht dazu bei, mich allen religiösen Dingen ganz zu entfremden. Ich respektiere alle religiösen Überzeugungen bei anderen. Ich selbst habe aber nie solche gehabt und niemals um derentwillen innere Kämpfe durchgemacht. Als ich später die Schriften von Ludwig Feuerbach las, fand ich in schöner und geistvoller Darstellung ausgeführt und bewiesen, was in mir als ursprüngliche Empfindung unbestimmt teilweise schon vorhanden war.

Ohne daß ich es gleich ahnte, zog sich neues Un heil über meinem Haupte zusammen. Der edle Onkel und die liebe Tante hatten befürchtet; die Großmutter wolle mich auf ihre Kosten studieren lassen, was auch anfänglich ihre Absicht zu sein schien, wenn ich mich der Theologie widmen wollte. Ich als Pfarrer! Aber das mußte verhindert werden. Bei jeder Gelegenheit sprach der Onkel davon, daß es mit dem Studieren nichts sei; die jungen Leute wollten auch gar nicht studieren, sondern nur »Studentches« spielen. Auch daß ich rotwangig und wohlgenährt aussah, chokierte ihn; das ging ja alles von seinem künftigen Erbe ab. Plötzlich erklärte er, er wolle eine Handelsschule gründen. Da könne ich mich in den Handelswissenschaften ausbilden und dann Kaufmann werden. Nur in diesem Erwerbszweig könne ein junger Mann es heutzutage noch zu etwas bringen.

Zum Kaufmann war ich ebenso wenig geeignet, wie zum Pfarrer. Aber mit der Handelsschule ließ sich die Großmutter breit schlagen.

Indessen wurde vorsichtig operiert und ich wurde nicht sogleich abgeschoben. Meine Großmutter bestimmte, ich solle zu meinen Eltern reisen, die sich damals in Pfullendorf im badischen Seekreis befanden. Mit diesen[17] sollte ich über meine Zukunft verhandeln. Ich mußte meinen Eltern schreiben und meine Ankunft anmelden.

Aber von Pfullendorf kam der Bescheid, daß ich in Wertheim bleiben solle. Dagegen bestand die Großmutter darauf, daß ich dahin abreisen müsse.

Meine Empfindungen brauche ich nicht zu schildern. Ich reiste in den Sommerferien 1865 ab. Zunächst fuhr ich mit dem Postwagen die Nacht durch nach Mosbach, wo damals die Eisenbahn begann. Zwei im Wagen anwesende Odenwälder Bauern rauchten einen so fürchterlichen Knaster, daß ich mich unterwegs in Walldürn übergeben mußte. Die Reise dauerte, da es zu jener Zeit keine Schnellzüge gab und ich von Aulendorf in Oberschwaben wieder mit dem Postwagen fahren mußte, eine Nacht und zwei Tage.

Als ich in Pfullendorf ankam, wurde ich sehr feindlich empfangen. Das Einzige, was der Stiefvater mir zu sagen sich herabließ, war, daß ich für die ganze Zeit meiner Ferien Hausarrest hätte. Das Essen wurde mir auf mein Zimmer gebracht. Nach acht Tagen kam der Onkel Professor an, der eine Schweizerreise gemacht und versprochen hatte, über Pfullendorf zurückzukehren und dort die Sache »in Ordnung zu bringen«. Er befaßte sich kaum mit mir und reiste am andern Tage wieder ab.

Daß ich mir das alles gefallen ließ, kam daher, daß sich auch noch die Krokodilstränen meiner Mutter über mich ergossen. Während sie die Brutalitäten des Stiefvaters geschehen ließ, heulte sie mir immer zu gleich vor, ich müsse mich fügen, sonst müsse sie es entgelten. Und ich guter Junge tats.

Niemand sprach freundlich mit mir, als das Dienstmädchen, das mir mein Essen brachte und das Zimmer zu ordnen hatte, eine robuste Bauernmaid. Sie wurde aber gar zu zärtlich und das blieb nicht unbemerkt, so daß die alte Köchin sie ersetzen mußte.

Nach Ablauf der Ferien wurde ich gezwungen, wieder nach Wertheim abzureisen, ohne daß irgend etwas abgemacht worden war. Als ich bei meiner Großmutter ankam, wollte sie mich nicht wieder aufnehmen. Sie ließ mich hart an und zog sich in ihr Zimmer zurück. Ich war totmüde von der Reise und setzte mich auf die Treppe. Die Tränen kamen mir; es war wirklich zuviel des Ungemachs, das über einen noch nicht sechzehnjährigen, von allen verlassenen und so viel angefeindeten jungen Menschen hereinbrach. Ich übersah mein kurzes Leben und fand, daß ich doch eigentlich nichts getan hatte, was eine solche Behandlung rechtfertigen konnte. Wohl war ich oft mutwillig und ausgelassen gewesen, aber ich war doch auch ein fleißiger Schüler mit guten Zeugnissen. Das Dienstmädchen, das mit einem Schuhmachermeister auf einem Dorfe verlobt war, strich vorbei, streichelte mir die Haare und sagte: »Es wird schon wieder gut werden!« Aber ich dachte in diesem Moment an den Bruder der schönen und unglücklichen Elise R., der zur Fremdenlegion in Algier gegangen war. Dort mußte es schlimm sein, aber schlimmer konnte es nach meiner Meinung doch nicht sein, als hier. Wenn mich eine Kugel der Kabylen traf oder diese edlen Ritter mich singen und mir den Kopf absäbelten – nein, dann konnte[18] mich niemand mehr plagen. Ich dachte an den Wahlspruch des tapferen Schill:

»Lieber ein Ende mit Schrecken, als Schrecken ohne Ende!«

Ich wollte zu meiner guten Tante gehen, welche die Posthalterei besaß, und sie um ein kleines »Zehrgeld« bitten. Damit wollte ich dann, ohne ein bestimmtes Ziel, »in die weite Welt hinaus«.

Da kam die Großmutter. »Zum Essen!« sagte sie hochfahrend. Ich folgte wie im Traum. Sie setzte mir dann auseinander, daß ich die Handelsschule besuchen und dann als Lehrling in ein kaufmännisches Geschäft treten müsse ...

Aus der Handelsschule, von welcher der Onkel so viel schwadroniert hatte, wurde nichts. Der elende Tropf hatte sie nur vorgeschützt, um mich fortzubringen. Ich war ihm Dank schuldig für seinen Einführungsunterricht, aber das gab ihm kein Recht zu seinen Machinationen. Er imponierte mir nicht mehr. Eines Tages äußerte er sich spöttisch über den Schuhmacher, den das Dienstmädchen heiratete. Ich bemerkte:

»Das sind sehr anständige Leute!«

Ich sagte dies mit solcher Betonung, daß sich Großmutter, Onkel und Tante betroffen ansahen.

»Der Kerl hat Mucken im Kopfe«, sagte der Professor. »Es ist Zeit, daß er in die Lehre kommt!«

Und die Professorin nickte verständnisinnig. –

Bis Ostern 1866 besuchte ich die Unter-Quinta. Dann wurde ich aus dieser Laufbahn herausgerissen und mußte nach Mannheim abgehen, um dort als Lehrling in ein Kaffeegeschäft en gros einzutreten. Meine Lehrer, zu denen der Onkel nicht mehr gehörte, bedauerten dies sehr.[19]

Fußnoten

1 Es mag hier bemerkt werden, daß das neue Reichstagsgebäude in Berlin größtenteils aus vortrefflichem Wertheimer Sandstein besteht. Sonst sind auch die Wertheimer Bratwürste beliebt, die schon dem Doktor Luther auf seiner Durchreise nach Worms vortrefflich geschmeckt haben. Auch die Wertheimer Backwaren genießen einen großen Ruf und werden täglich in der Morgenfrühe bis nach Heidelberg, Mannheim und Karlsruhe an dort lebende Wertheimer versandt.


2 Im Pumpus von Perusia.


3 An meinem Geburtstage wurde ein tapferer junger Pionier aus unserer Gegend, Gottfried Bauer aus Gissigheim, zu Rastatt standrechtlich erschossen.


4 Einige Zeit später wurde ich mit einigen Schulkindern in der Gemarkung von Kreuzwertheim von den Bauern beim Naschen im Weinberg ertappt. Nach einer alten Sitte sollten wir durch das Dorf in den Arrest transportiert werden, wobei dem Hauptschuldigen eine alte Geige auf den Rücken gebunden wurde. Was dieser Brauch zu bedeuten hatte, weiß ich nicht. Die Geige war mir zugedacht. Vergebens bat ich, mich loszulassen. Als ich aber meinen Namen sagte, gab man uns sofort frei und erlaubte uns, Trauben nach Belieben mitzunehmen. Dem Sohne des »guten Doktors«, hieß es, dürfe nichts geschehen.


5 Es waren die Eltern des bekannten Archäologen Furtwängler.


6 Die Prima war damals die niedrigste, die Sexta die höchste Klasse.


7 Er bot, um einen Witz Bismarcks anzuwenden, keine pupillarische Sicherheit.


8 Die beiden portugiesischen Feldherren, die Miguels Armee schlugen.


9 Der Bruder jenes Hennenhofer, dem man die tödliche Verwundung Kaspar Hausers zuschrieb, war in Eberbach als Physikus, während mein Vater dort praktizierte. Er schien über die Schuld oder Nichtschuld seines Bruders im Zweifel zu sein. Ich glaube, nachdem ich mich eingehend mit der Affaire Kaspar Hauser beschäftigt, nicht mehr an die Prinzenschaft des Findlings. In jener Zeit glaubte fast jedermann daran.


Quelle:
Blos, Wilhelm: Denkwürdigkeiten eines Sozialdemokraten. 2 Bde, 1. Band. München 1914, S. 21.
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