Die Wendung

Inzwischen ging das Sozialistengesetz seinem Ende entgegen, nachdem es das ganze politische Leben Deutschlands vergiftet. Noch machte ein preußischer Staatsanwalt in anerkennenswerter Strebsamkeit den Versuch, durch eine kühne Auslegung der Geheimbundsparagraphen des Strafgesetzbuches und mit Hilfe von Lockspitzeln alle bekannten Persönlichkeiten der Sozialdemokratie mit einem Schlag hinter Schloß und Riegel zu befördern. Allein das tolle Unternehmen mißlang kläglich und die Regierung holte sich in dem großen Elberfelder Sozialistenprozeß eine eklatante Niederlage. Bismarcks Stern begann zu erbleichen; die Wirkungen seiner Mißerfolge mit dem Kulturkampf und mit dem Sozialistengesetz machten sich nunmehr geltend. Sein Sturz bereitete sich langsam vor. Durch eine geschickte Intrige Miquels, der, wie es scheint, Bismarcks Nachfolger zu werden hoffte, wurde das Sozialistengesetz, als es wieder verlängert werden sollte, so gemildert, daß Bismarck mit diesem »verstümmelten« Instrument nichts mehr anfangen zu können glaubte. Die Verlängerung des Gesetzes ward nun, da die Konservativen den Standpunkt Bismarcks teilten, die Nationalliberalen aber das Gesetz nur ohne den »kleinen Belagerungszustand« dauernd machen wollten, wie es Bismarck wünschte, vom Reichstag abgelehnt.

Wilhelm II. glaubte nun die sichtbar anschwellende sozialistische Bewegung durch einige Konzessionen abzuschwächen. Er gab die bekannten Erlasse hinaus und berief eine internationale Arbeiterschutzkonferenz nach Berlin. Aber die am 20. Februar 1890 stattfindenden Reichstagswahlen brachten einen gewaltigen Erfolg der Sozialdemokratie; sie erhielt 1,427,300 Stimmen. Mit 35 Abgeordneten zogen wir in den Reichstag ein; ich hatte mein Braunschweiger Mandat zurückerobert. Das Kartell mit der reaktionären »Hurramajorität« war gesprengt.

Bismarck war rasend. Diese Wendung war all seinen Traditionen und Empfindungen entgegen. Die neue Sozialpolitik bot zwar mehr Worte als Inhalt, aber Bismarck wollte nun die Sozialdemokratie mit Gewalt niederwerfen. Was er plante, bezeugt Wilhelm II. in dem langen Brief, den er am 3. April 1890 an Franz Joseph schrieb. Den neuen Reichstag wollte Bismarck womöglich sprengen. Er schlug vor, dem Reichstag ein verschärftes Sozialistengesetz vorzulegen. Dies würde abgelehnt werden. Dann müsse man den Reichstag auflösen. Die allgemeine Aufregung würde zu Putschen führen und da könne man »tüchtig dazwischen schießen und Kanonen und Gewehre spielen lassen«.[223]

Dieser verbrecherische Anschlag fand keinen Anklang bei den Führern der Kartellparteien, die vom Kaiser um Rat befragt wurden. Darauf lehnte auch Wilhelm II. das Ansinnen des alten »Blut- und Eisen-Mannes« ab und so erfolgte dessen Sturz.

Mit dem Sozialistengesetz hatte er die Sozialdemokratie niederwerfen wollen; über das Sozialistengesetz strauchelte und fiel er nunmehr selbst.

Man kann sich denken, wie wir aufatmeten nach dem zwölfjährigen furchtbaren Druck, der auf uns gelastet.

Ein neuer Aufstieg der Sozialdemokratie begann. Wohin er führte, soll im dritten und letzten Bande gezeigt werden.

Das sogenannte Heldenzeitalter der Sozialdemokratie war vorüber. Wie die Geschichte den Abschnitt ihrer Entwicklung von 1890 bis zur Revolution von 1918 betiteln wird, das steht noch aus.[224]

Quelle:
Blos, Wilhelm: Denkwürdigkeiten eines Sozialdemokraten. 2 Bde, 2. Band. München 1919, S. 221-225.
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