[42] Wenn der heimkehrende Feldsoldat seinen zerschlissenen feldgrauen Rock und das übrige königliche Eigentum wieder auf Kammer abgeliefert hat, pflegt sich das Bedürfnis nach einer anderen Bekleidung alsbald einzustellen. Nur mit seiner Unschuld und allenfalls einem Monokel bewaffnet herumzulaufen, ist ein zwar einfacher, aber naheliegender Gedanke. Jedoch dann würde sich die Frage erheben: Wo bringe ich meine Brot-, Grieß-, Kohlen-, Zucker-, Petroleum- und Ansichtskarten unter?
Ist es erlaubt, zu diesem Zweck einen Reisekoffer mit sich herumzuführen? Soweit es sich von hier aus übersehen läßt, würde die Frage an der neuen Eisenbahnbestimmung scheitern, nach der kein Gepäckstück mehr als 50 kg wiegen darf.
Also, es ist nichts mit der Unschuld!
Halt, ich hab's – allen Eisenbahnbestimmungen zum Trotz kauft man sich einfach einen Zivilanzug!
Einfach ist allerdings gut! Aber wozu sind die Verwicklungen da, als um sie auf dem nächsten Feldwege zu umgehen? Und wozu sitzt auf[42] Nr. 13 des Rathauses der Bezugsscheinwerfer? Den verlangten Nachweis der Bedürftigkeit bringt man in einen nassen Sack gehüllt gleich mit –Kamerad, in dem erwähnten Unschuldskleid wird man dir's ja wohl glauben! Freue dich, nach zweistündiger, aber kurzer Verhandlung, wobei deine Geburts-, Tauf-, Impf- und Todestage, Vor- und Nachstrafen, Seelenleben und musikalisch-astronomischen Fähigkeiten nebst der Handschuhnummer deiner Urgroßmutter behördlich festgenagelt worden sind, stehst du da im zweifelhaften Besitze eines Bezugsscheines!
Alle guten Geister loben ihren Meister!
Nun kannst du die Qualen deiner Blöße stillen, vorausgesetzt, daß du dir von deiner Löhnung das nötige Scheckbuch angelegt hast. Auf zu Tietzen!
Damit deine paradiesische Unschuld nicht unschuldsvollen Ladenfräuleins den Schlaf ihrer Nächte raubt, borge ich dir einstweilen eine alte Kluft von mir. Sie ist zwar über die erste Jugendschönheit hinaus, aber edel geformt und besitzt aus Mangel an Knöpfen einen in sieben Negerstaaten noch nicht patentierten Bindfadenverschluß. Der macht sich gradezu ausschweifend und zeugt von krampfhaft verborgenen Naturkräften.
Herhören!
Vor dem Abmarsch beachte man noch folgendes: Der heimkehrende Sieger, der auf Abenteuer,[43] wollte sagen Einkauf auszieht, stecke sich ein Tränenkrüglein nebst einem Handtuch ein, vergesse das große, kleine, männliche, weibliche und sächsische Einmaleins, verfluche seinen Lehrer, der einem Lesen und Schreiben beigebracht hat, und balle die Fäuste. Letzteres in der Hosentasche, wobei man den Daumen zweckmäßig im Oberschenkel festkneift. Nachdem man sich noch eine dunkelblaue Brille aufgeschnallt hat und an besten ganz zu Hause bleibt, kann man mit diesen Vorbereitungen wagen, in die falsche Elektrische zu steigen, um zu Tietz zu fahren.
In der Bahn überschlage man noch einmal alle Vorsichtsmaßregeln, um sie nachher falsch anzuwenden – nämlich das Tränenkrüglein nebst Handtuch, weil einem die Augen übergehen werden, woran das Kassierfräulein mit ihrer Rechnung schuld ist, trete auf den Taschenbleistift oder schenke ihn der Schaffnerin, damit man nicht in die alte Gewohnheit verfällt, Requisitionsscheine auszustellen (was bei Tietz keine Gegenliebe, dafür aber um so weniger Verständnis findet), und streiche die blaue Brille mittels einer Teerquaste schwarz an. Das sieht einmal sehr schön aus, schadet zweitens Tietz nichts und hindert einen, in der Fülle des Wirrwarrs sofort tobsüchtig oder übersinnig zu werden. Dies kommt erst später. – – –
Mittlerweile ist man durch raffinierte Ausnutzung aller Verkehrsmittel zu Wertheim[44] gelangt. Man vergewissere sich durch eine Umfrage, ob man bei August, Wilhelm, Emil oder Traugott Wertheim die Ehre hat, was einem bei richtiger Auskunft das Frühstück erspart (ist ja Wurscht!), sehe nach, ob die Faust im Sack noch den vorschriftsmäßigen Sitz hat, und gehe ein durch die enge Pforte.
Ein allgemeines, selbst auszustoßendes Beh! wird einen empfangen (Ah! ist schon zu abgedroschen). Es zeigt sich nun der Nutzen der Stallfütterung, wollte sagen der blauen Brille, indem daß einem nicht rot und grün vor den Hühneraugen wird. Dank der weitausgelegten Horchlöffel und des Tastsinns kann man alsbald feststellen, daß das hier der reine Harem ist! Mädchen und Weiber – nichts wie Weiber und Mädchen, wohin man stolpert!
Dazwischen Ofenschirme, Hosenträger, Badewannen, Briefpapier, Winter-, Herbst- und Sommergärten, Originalkorsetts und dito Gemälde, Brausepulver, Hängelampen, Zimmereinrichtungen, Wohnungen, Häuser, Städte, Erdteile nebst Zubehör, ja das ganze Universum steht hier zum Verkauf (broschiert 4,98 Mk.)!
Es sausen die Nacht- – pardon, Fahrstühle, summen die Ventila- und Direktoren, gröhlen die Grammophons, schieben sich die kauf- und schaulüsternen Bewohner dieses und der benachbarten Planeten und tritt schließlich eine der appetitlichen Sirenen an den ratlosen Kampfgenossen[45] heran mit der Teufelsfrage: »Was steht dem Herrn zu Diensten?«
Da du einen Anzug zu kaufen ausgezogen bist (letzteres natürlich bildlich!), wirst du vermutlich die Gegenfrage stellen: »Wo geht's denn hier zur Kammer?« –
Nun mußt du schleunigst die Brille abnehmen, um zu bemerken, wie das Fräulein erst scham-, dann ultrarotviolett wird, dich mittels eines vernichtenden Blickes ermordet und dann nach allen Regeln des Herbariums stehen läßt! Das ist der Erfolg der noch nicht eingeführten weiblichen Dienstpflicht, denn woher soll sie wissen, daß es außer Kammerlichtspielen, Kammermusike, Speise- und Brautkammern noch eine militärische »Kleiderkammer« gibt? Hier mußt du auf gut deutsch fragen: »Wo ist die Abteilung für Herrenkonfektion?«
Dann hätte sie deiner Rede schamlos, d.h. ohne Scham, gelauscht und mit dem süßesten Sacharinlächeln geantwortet: »Eine Treppe hoch, gleich links um die rechte Ecke, II. Stock!« Nun weißt du also genau Bescheid und kannst den Vormarsch antreten.
Vorbei an verschiedenen Papier-, Wäsche- und anderen Lagern, wo das bekannte Lagerleben herrscht (Wertheims, früher Wallensteins Lager), kommst du zum Kravattenlager. Es ist jetzt die höchste Zeit, die Brille wieder aufzusetzen (wenn du noch keine Motten gehabt hast, kriegst du siejetzt!), denn hier feiern alle vorhandenen, ehemaligen und noch ungeborenen Regenwürmer – pardon, Regenbogen mit der Spektralannaliese eine rasende Farben-Orgel! Hier auf diesem, von einer Tarantel gestochenen Schlips ist das strahlende Rot durchfegt von einem irrsinnig gewordenen Blaufeuer, während jener saftgrüne, dort von gelben Eidotterpunkten heftig, aber erfolgreich besprenkelt wird. Und der schwarze da mit den lila kreisenden Rädern kann einem Gehirnflöhe verursachen – Herr du meines Lebens, such dir schnell einen aus, damit wir diesen wildgewordenen Ort verlassen können – irgend einen, bloß kein Monstrum mit Eisenkonstruktion von wegen der Blitzgefahr – da, den blauen nimm, der sieht für 95 Pf. treu genug aus!
Halte là, was machst du denn da, Kamerad – – der kleine Engel hinterm Ladentisch kriegt (Feldge-) Schreikrämpfe – weißt du denn nicht, daß du in Deutschland bist? Hast du da schon mal etwas ohne Vor- oder Nachweis gekriegt? (Höchstens mal einen Ver-weis!)
Paß mal Hochachtung: Erst erfaßt du diesen Zettel, so, damit marschierst du vor die Kasse 527 – alsdann ist der große Moment gekommen, wo du den im Oberschenkel hoffentlich noch fest verankerten Daumen zu lösen hast und den schmerzlich bewegten Geldsack aus der Tiefe bringst – hau den Tausender hin – nimm den Von wieder[49] auf und präsentiere ihn in strammer Haltung mit einigen unpassenden Worten hier nebenan bei der kleinen Schwarzen!
Jetzt kannst du beruhigt erst mal nach Hause gehn, kannst ein Weib nehmen, heiraten und taufen, kannst ein Haus bauen, silberne, goldene und eiserne Hochzeit feiern, kannst dir 'ne Höchstpension erdienen und den schwarzen, weißen und roten Adlerorden mit lobender Erwähnung im Kreisblatt und der Zahl 50 erringen, kurzum, du darfst als Greis in schneeigen Haaren in Begleitung deiner sämtlicher Urenkel wiederkommen – denn vor Pfingsten nimmt dir die Schwarze den Zettel doch nicht ab! – Endlich – alle Wert- und Ledigenheime seien gepriesen, endlich hast du den Bindling! Ich hab's schon immer gesagt, Geschwindigkeit ist eine Schweinerei!
Aber nun fort von diesem Ort des Grauens in jene lieblichen Gefilde, wo die Nymphe mit den Hosenträgern lauert! Hier überlasse ich dir die Führung des Kampfes, denn das ist dir ja gewohntes Gelände, und dein Hosensitz ist kein öffentliches, sondern dein Privatvergnügen.
Was, du willst nicht? Deiner ist noch k.v.? Und lässest das Fräulein ohne gute Hoffnung? Malheur pour nous, pour vous, pour Trude Wertheim! Aber weine nicht, da sind wir schon am Fahrstuhl (mit Innenbeleuchtung). – –»Wasserspülung – – –?« Mein Sohn, in welchem Granatloch hast du deine Erziehung[50] gelassen? Du schmeißest die verwickeltsten Begriffe durcheinander; dieser Fahrstuhl fährt nur am Tage und hieß zum Unterschied vom Nachtstuhl früher Lift! Und nun haben wir ihn mit deinem Gequassel glücklich verpaßt! Da fährt er hin und quietscht nur noch. Der nächste vortreten! – Uff, da wären wir oben!
Wie hat doch das schamlose Fräulein vorhin gesagt? Erst rechts, dann links, dann um die Ecke – aha, da hinten scheint das Glück zu winken, die Gegend steht so anziehend aus, da werden wohl die Anzüge sein – Tritt gefaßt! Marschrichtungspunkt der Konfirmande dort mit die gelben Flurschadenbeine! Haalt!! Verehrter Herr und Gönner, ist hier der Ort, wo mein Freund Piesicke seiner Unschuld eine neue Fassung geben kann?
Ja? – Na dann, Kriegsgenosse, mein Augenstern, entpuppe dich und hülle dich nicht in das Schweigen im Walde, sondern in diese grünlackierte, pardon, grünkarierte Kluft!
Donnerwetter – pico bello pernambuco, fein siehste aus, Karl! 'N junger Seehund ist gar nichts gegen! Bloß der Schlips muß noch ein paar Kolbenstöße kriegen, das Luder will nicht sitzen. – So, jetzt steht er dir gut!3 Aber sei[51] froh, daß du solche vierdimensionale Horchlöffel hast, sonst rutschte dir der Bindling über Bord.
Nun noch 'n hübsches Stöckchen und 'n Bibi, und ich sage: Amen! Die Sache wäre erledigt. Wertheim kann wegtreten!
3 | Der Schlips, der einem gut steht, wenn er sitzt, gehört zu den Welträtseln. Ebendahin gehört sein Kompagnon, der Kragen, nur daß dieser gut sitzt, wenn er steht! (Vgl. Kap. 12.) |
Buchempfehlung
Die beiden betuchten Wiener Studenten Theodor und Fritz hegen klare Absichten, als sie mit Mizi und Christine einen Abend bei Kerzenlicht und Klaviermusik inszenieren. »Der Augenblich ist die einzige Ewigkeit, die wir verstehen können, die einzige, die uns gehört.« Das 1895 uraufgeführte Schauspiel ist Schnitzlers erster und größter Bühnenerfolg.
50 Seiten, 3.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.
434 Seiten, 19.80 Euro