Dienstfertigkeit.

[30] Dienen lerne beizeiten das Weib nach ihrer Bestimmung,

Denn durch Dienen allein gelangt sie endlich zum Herrschen,

Zu der bestimmten Gewalt, die ihr im Hause gehört.

Dienet die Schwester dem Bruder doch früh, sie diente den Eltern,

Und ihr Leben ist immer ein ewiges Gehen und Kommen,

Oder ein Heben und Tragen, Bereiten und Schaffen für andre.

Wohl ihr, wenn sie daran sich gewöhnt, daß kein Weg ihr zu sauer

Wird, und die Stunden der Nacht ihr sind wie die Stunden des Tages,

Daß ihr niemals die Nadel zu fein und die Arbeit zu klein dünkt,

Daß sie sich ganz vergißt und leben mag nur in den andern.

Goethe.


Bleiben wir zuerst noch bei den Anforderungen stehen, welche der gute Ton im geschwisterlichen Leben fordert, so ist es die Dienstfertigkeit, welche er vor allem gebietet. Wie wohlanständig, wenn die ältere Schwester eine Bitte der jüngeren, an sie gerichtet, nicht unfreundlich zurückweist, sondern gern dem Schwesterchen bei einem schwierigen Rechenexempel hilft und ihr die zerbrochene Puppe wiederherstellt. Dahingegen, wenn sie den Bruder unsanft anfährt, der sie bittet, ihm das ebengelernte Gedicht zu überhören, und das Buch, in dem sie lieber statt dessen lesen wollte, unwirsch beiseite wirst, verkennt sie nicht nur die ihr von Gott angewiesene Stellung zu den Geschwistern, verstößt sie nicht allein gegen die geschwisterliche Liebe, sondern sie verletzt auch den guten Ton, der es fordert, nicht nur gegen Fremde des Anstands wegen, sondern zuerst gegen diejenigen, die uns am nächsten stehen, dienstfertig zu sein. Eine Jungfrau, die im Kreise jüngerer Geschwister in mütterlicher Dienstbarkeit sich ihrer annimmt, ist ein gar lieblicher, sich die Herzen gewinnender Anblick. Charlotte Buff, die durch das berühmte Buch Goethes »Werthers Leiden« unsterblich gemachte »Lotte«, verschmähte es nicht, im weißen Ballkleide, mit rosa Schleifen geschmückt, ihren kleinen hungrigen Geschwistern die Butterbrote zu streichen und auszuteilen. Und in dieser Beschäftigung traf sie zuerst Goethe und wählte sie zu der Heldin seines Romans.

Wie die Tochter den Eltern dienstbar sei, wie sie jede Gelegenheit ergreife, ihnen dieselbe zu erweisen, davon haben[30] wir schon früher gesprochen, aber auch gegen Fremde erfülle sie stets das wohlanständige Benehmen der Dienstfertigkeit; nur wenn sie es gegen ihre Nächststehenden nicht vernachlässigt, kann es ihr auch dann gelingen. Eine Tochter, welche den Eltern, eine Schwester, die den Geschwistern nicht Dienste erweist, setzt ihre zarten Rücksichten auch gegen Fremde, auch gegen die Gäste des Hauses, ebenso leicht aus den Augen. Auch von ihnen will sie nicht in ihren Lieblingsbeschäftigungen gestört sein, und empfängt sie alsdann mit unfreundlicher Miene, auch gegen sie ist sie nicht bereit, jene kleinen Dienste auszuführen, die ein zartes, wohlanständiges Benehmen ver langt. Von größeren Rücksichtnahmen und Gefälligkeiten, die ein wirkliches Opfer verlangen, wollen wir hier gar nicht sprechen. Wie kann ein Herz sich in größerer Dienstbarkeit opferfreudig zeigen, wenn schon ihre leichtesten, kleinen Pflichten ihm schwer sind?

Quelle:
Ernst, Clara: Der Jungfrau feines und taktvolles Benehmen im häuslichen, gesellschaftlichen und öffentlichen Leben. Mülheim 3[o.J.]., S. 30-31.
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