|
[61] Die Zahl der anormal veranlagten Menschen ist größer als die Leute, die mit der Kriminaljustiz keine Berührung haben, ahnen mögen. Daß die gleichgeschlechtliche Liebe unter dem männlichen und noch bedeutend mehr unter dem weiblichen Geschlecht, und zwar in jedem geschlechtsreifen Alter und unter allen Gesellschaftsklassen ungemein verbreitet ist, habe ich im elften Bande der »Interessanten Kriminalprozesse« in dem ⇒Beleidigungsprozeß Moltke-Harden eingehend nachgewiesen. Die häßlichste und gefährlichste Abart, die Sadisten oder Masochisten, die das Verlangen haben, ihre Nebenmenschen körperlich zu peinigen, oder auch, sich peinigen zu lassen, scheint glücklicherweise in der Abnahme begriffen zu sein. Es gibt aber bezüglich der geschlechtlichen Veranlagung noch so viele Abarten, daß man der gütigen Mutter Natur den Vorwurf nicht ersparen kann: sie weiche bei der Schaffung der Menschen vielfach von der Norm ab. Man kann keineswegs behaupten: die Natur hat zwei verschiedene Geschlechter (männlich und weiblich) geschaffen und alles, was von der Norm abweicht, ist unnatürlich oder »widernatürlich«, wie es im Strafgesetzbuch heißt. Der Gerichtsberichterstatter, der tagtäglich jahraus, jahrein Gelegenheit hat, die menschlichen Schwächen vor den Schranken der Justiz zu beobachten, kann sich über den mittelalterlichen Ausdruck »widernatürlich« eines mitleidigen Lächelns nicht erwehren. Der Gesetzgeber, der das Wort »widernatürlich« geprägt, hat damit eine Weltfremdheit sondergleichen der menschlichen Veranlagung gegenüber bekundet. Möge man doch endlich[61] einsehen, daß mit noch so harten Bestrafungen und Ächtunden, wie Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte, eine geschlechtliche Veranlagung nicht ausgerottet, auch nicht einmal eingedämmt werden kann. Wenn mit harten Strafen etwas zu erreichen wäre, dann wäre es bereits im Mittelalter gelungen, ein sittliches Eldorado zu schaffen. Wer einmal Gelegenheit hatte, im Preußerschen Museum die in Spiritus aufbewahrten Embryonen in Augenschein zu nehmen, der wird unmöglich feststellen können, ob sich die fünf oder sechs Monate alten Embryonen nach der männlichen oder weiblichen Seite entwickeln werden. Da die Natur bisweilen bei Schaffung der Menschen sehr unregelmäßig zu Werke geht, so entstehen männliche Wesen mit weiblichen Neigungen und weibliche Wesen mit männlichen Neigungen. Wer, wie das häufig von Unwissenden geschieht, darüber lächelnd die Nase rümpft, bezeugt, daß ihm für anormale menschliche Beschaffenheit das Verständnis fehlt. Mit demselben Recht, wie Leute über anormale Veranlagung lächeln, kann man auch Leute bespötteln, die mit einer sogenannten Hasenscharte oder einem anderen Gebrechen behaftet sind. Leute, die nicht mehr in der mittelalterlichen Anschauung befangen sind, werden Gebrechen oder anormale Veranlagung nicht als Ausgeburten der Übersättigung oder der Zügellosigkeit halten. Daß vielfach Leute erst im reiferen Alter ihr richtiges Geschlecht erkennen, zeigen treffend folgende Beispiele. Vor vielen Jahren erschien auf dem Berliner Kriminalgericht, als die Justitia in Berlin noch im Hause Molkenmarkt 3 thronte, ein hübscher, bartloser junger Mann von 22 Jahren mit schön frisiertem, goldblondem Haupthaar. Er überreichte dem Gerichtsdiener seine Vorladung. Der Gerichtsdiener warf einen Blick auf die Vorladung und sagte zu dem jungen Mann: »Sie kommen wohl für Ihre Schwester, es gibt aber bei Gericht keine Vertretung.« Nein, ich komme nicht für meine Schwester, antwortete der junge Mann, ich bin angeklagt. Na, hier steht doch unverehelichte Martha Hirschmann, versetzte der Gerichtsdiener. Das bin ich, fiel der junge Mann ein. Ich habe bis vor vierzehn Tagen Martha geheißen, weil ich Weib war. Seit vierzehn Tagen bin ich Mann und heiße Martin Hirschmann.[62] Ich habe mir auch schon eine weibliche Braut angeschafft. »Nu schlag aber eener lang,« versetzte unwirsch der Gerichtsdiener. »So wat is mir doch noch nicht vorgekommen. Wenn Sie Weib waren, da müssen Sie doch Weib bleiben.« Ich habe keine Schuld, daß ich so spät mein wahres Geschlecht erkannt habe, versetzte der junge Mann. Ich werde es jedenfalls dem Staatsanwalt melden, sagte der Gerichtsdiener mit einem lächelnden Blick auf den hübschen jungen Mann, den man allerdings für ein verkleidetes Mädchen halten konnte. In demselben Augenblick rief ein anderer Gerichtsdiener mit Stentorstimme: »Sache Hirschmann, Angeklagte und Zeugen eintreten.« Der junge Mann, der wegen Hundediebstahls angeklagt war, von Beruf Kellner, betrat die Anklagebank der fünften Kriminaldeputation des Berliner Stadtgerichts, wie es früher hieß. Der Vorsitzende, Stadtgerichtsrat Herzbruch, seine zwei Beisitzenden sowie der Staatsanwalt und der Gerichtsschreiber sahen sich verwundert den Angeklagten an. Das ist wohl eine Verwechselung, herrschte der Vorsitzende den Gerichtsdiener an. Sie sollten doch die Sache Hirschmann aufrufen. Gerichtsdiener: Herr Gerichtsrat, der junge Mann sagt: er ist die Kellnerin Martha Hirschmann. Jawohl, das stimmt, rief der Angeklagte.
Vors.: Wenn Sie glauben, Sie können sich mit dem Gerichtshof einen Scherz erlauben, dann irren Sie sich gewaltig. Wie können Sie sich erdreisten, hier als Mann zu erscheinen?
Angekl. (ein großes Dokument aus der Tasche ziehend): Hier, Herr Gerichtsrat, ist die Bescheinigung des Ministers, wonach ich berechtigt bin, als Mann zu leben und männliche Kleidung zu tragen. Der Gerichtsrat las das Schriftstück; er zeigte es seinen Beisitzenden und dem Staatsanwalt. Es war kein Zweifel, die Erzählung des jungen Mannes war durch das ministerielle Schreiben vollständig bestätigt. Die Anklage richtete sich infolgedessen gegen den Kellner Martin Hirschmann. Er behauptete, er habe den Hund nicht gestohlen, der Hund sei ihm nachgelaufen. Da das Tier herrenlos war und Hunger hatte, habe er es aus Erbarmen mitgenommen. Die Zeugen vermochten diese Behauptung nicht zu widerlegen, der junge Mann wurde infolgedessen freigesprochen.[63] »Lassen Sie sich aber nicht einfallen, nochmals derartige Sachen zu machen, das nächstemal könnte es Ihnen doch übel ergehen,« rief dem neugebackenen Jüngling der Vorsitzende zu. Mit einer vornehmen Verbeugung verließ der Angeklagte den Gerichtssaal.
Zur selben Zeit las man in einer medizinischen Zeitschrift: Bei einem Arzt im Westen Berlins erschien eine ältere Dame mit ihrer 19jährigen bildschönen Tochter. Die Mutter bat den Arzt, die Tochter zu untersuchen, da sie über Schmerzen klage. Der Arzt bat die Mutter, sich ins Wartezimmer zu begeben. Nach eingehender Untersuchung erklärte der Arzt der Mutter: Er müsse ihr eröffnen, daß die junge Dame in Wahrheit – ein Sohn – sei. Er wundere sich, daß, da die junge Dame doch schon ärztlich behandelt worden, dies nicht schon früher festgestellt worden sei. Die Mama, Gattin eines Berliner Großbankiers, traute ihren Ohren kaum. Der Arzt, ein alter Sanitätsrat, äußerte sich aber derartig bestimmt, daß jeder Zweifel ausgeschlossen war. Was der Papa zu der Metamorphose seines Sprößlings gesagt hat, vermochte man nicht zu erfahren.
Der bekannte Nervenarzt Dr. Magnus Hirschfeld (Berlin) stellte vor einigen Jahren in der Gesellschaft für soziale Medizin und Hygiene, die im Hörsaale der Lassarschen Klinik unter dem Vorsitz des Geheimen Regierungsrats Professors Dr. Mayet tagte, drei Leute vor. Der erste war ein 23jähriger Schriftsteller. Er, richtiger sie – denn sie erschien wohl in männlicher Kleidung, trug aber noch keine Hosen, sondern ein Frauenkleid – hatte ein goldenes Pincenez und rauchte sehr kokett eine Zigarette. Diese junge, sehr hübsche Dame war in heißer Liebe zu einem jungen weiblichen Wesen entbrannt. Sie war bereits »glücklicher Bräutigam« und sollte, wie Dr. Hirschfeld mitteilte, zehn Tage später als Mann erklärt werden, so daß nach weiteren vier Wochen die Hochzeit stattfinden den sollte. Alsdann führte Dr. Hirschfeld – ich war in dieser Versammlung als Berichterstatter anwesend – einen kleinen, sehr stark gebauten Mann mit hellblondem, wohlgepflegtem Schnurrbart im Alter von 45 Jahren vor. Dieser Mann war bis zum 26. Lebensjahre eine Frau. Der Mann nahm, mit Erlaubnis des Vorsitzenden, selbst das Wort und erzählte:[64] Er sei bis zum 26. Lebensjahre Anlegemädchen in einer Druckerei gewesen. Nachdem er als Mann erklärt worden war, habe er drucken gelernt und sei schon seit einer Reihe von Jahren bei einer großen Berliner Druckerei Maschinenmeister. Er sei seit 15 Jahren glücklich verheiratet. Er führe eine sehr gute Ehe und habe fünf Kinder, drei Knaben und zwei Mädchen, die, wie die Ärzte erklären, sämtlich vollständig normal sind. Das dritte, von Dr. Hirschfeld vorgestellte Individuum war eine 28jährige Wäschezuschneiderin. Es war unverkennbar, daß das Individuum männlichen Geschlechts war. Es war ihm auch gestattet, als Mann zu leben und sich männlich zu kleiden, der Mensch wollte aber von diesem Recht aus wirtschaftlichen Gründen keinen Gebrauch machen, da er alsdann genötigt gewesen wäre, sich einen neuen Erwerbszweig zu suchen.
Anfang Juni 1908 hatte sich vor der Strafkammer zu Dessau ein etwa 45 Jahre alter Eisenbahnbeamter, verheiratet und Vater von fünf Kindern, wegen Einbruchsdiebstahls zu verantworten. Der Angeklagte, ein vollständig unbescholtener Mann, der sich des besten Leumunds erfreute, unternahm des Nachts Einbruchsdiebstähle. Er stahl aber ausschließlich gebrauchte Frauenwäsche. Bei einem Einbruch, den er in der Wohnung des Dessauer Polizeidirektors unternahm, wurde er schließlich ertappt und festgenommen. Er behauptete: Eine unwiderstehliche Gewalt zwinge ihn, getragene Frauenwäsche zu stehlen und diese sich auf seinen Körper zu ziehen. Er empfinde dadurch ein großes Wohlbehagen. Es sei ihm unmöglich, das Anlegen von getragener Frauenwäsche längere Zeit zu entbehren. Dr. Magnus Hirschfeld (Berlin) war zu dieser Verhandlung als Sachverständiger geladen. Am Tage vor der Verhandlung sprach Dr. Hirschfeld mit Erlaubnis des Untersuchungsrichters den Angeklagten im Gefängnis. Auf die Frage des Dr. Hirschfeld: weshalb er sich die Frauenwäsche nicht gekauft habe, er hätte doch alsdann nicht nötig gehabt, Einbrüche zu begehen und im Gefängnis zu sitzen, erwiderte der Angeklagte: Neue Frauenwäsche nützt mir nichts, nur getragene Frauenwäsche verursacht mir Wohlbehagen. Dr. Hirschfeld erklärte den Mann für einen Fetischisten, der für seine Handlungen nicht verantwortlich[65] gemacht werden könne. Die anderen Sachverständigen erklärten aber: Der Mann sei wohl geistig minderwertig, seine freie Willensbestimmung im Sinne des § 51 des Strafgesetzbuches sei aber nicht ausgeschlossen. Daraufhin verurteilte der Gerichtshof den Angeklagten zu 5 Jahren Gefängnis.
Dem Vernehmen nach verfiel der Angeklagte nach einiger Zeit vollständig in Geisteskrankheit. Er mußte in eine Irrenanstalt übergeführt werden; in dieser soll er vor einiger Zeit gestorben sein.
Im März 1907 saß ein 21jähriger Berliner Student auf der Anklagebank einer Berliner Strafkammer. Der junge Mann gehörte einer Studentenverbindung an, in der sich die Mitglieder verpflichten müssen, jeden außerehelichen Verkehr streng zu meiden. Der junge Mann versicherte auch, daß er noch niemals mit einem weiblichen Wesen intim verkehrt habe, er sei auch nicht homosexuell, er habe aber den unwiderstehlichen Drang, Mädchen die Zöpfe abzuschneiden. Er sei nicht in Mädchen, aber in deren Zöpfe, wenn sie blond sind, geradezu sterblich verliebt. Zöpfe aus schwarzen Haaren verschmähe er. Dieser unwiderstehliche Drang habe ihn veranlaßt, mit einer scharfen Schere durch die belebtesten Straßen Berlins zu gehen und jungen Mädchen mit blonden Haaren in unbeobachteten Augenblicken die Zöpfe abzuschneiden. Eines Tages befand sich der Angeklagte in der Leipziger Straße. Vor ihm ging ein junges Mädchen mit prachtvollen hellblonden Zöpfen. Die noch sehr jugendliche Dame, Tochter eines aktiven Gardeobersten blieb mit ihren Eltern vor einem Schaufenster stehen. Der Augenblick ist günstig, dachte der Student. Ein Ruck mit der Schere, und die prächtigen Zöpfe des jungen Mädchens waren in der Hand des Studenten. In demselben Augenblick hatte aber der Oberst den kühnen Zopfabschneider am Kragen. Der junge Mann, der einige Entschuldigungsworte stammelte, wurde einem Schutzmann übergeben, das junge Mädchen aber erlitt einen Nervenchok. In der Wohnung des Zopfabschneiders fand man eine ganze Kollektion abgeschnittener blonder Zöpfe. »Wollten Sie die Zöpfe veräußern?« fragte in der Strafkammerverhandlung der Vorsitzende den Angeklagten. »Keineswegs,« antwortete der[66] junge Mann. »Ich empfand ein wollüstiges Behagen durch den bloßen Anblick, noch mehr aber durch die Berührung der Zöpfe.« Der Gerichtsarzt, Medizinalrat Dr. Leppmann, der den Angeklagten beobachtet hatte, teilte mit: Es gebe Zopfabschneider, die ausschließlich schwarze, aber auch solche, die nur alten Frauen weiße Zöpfe abschneiden. Obwohl gerade weiße Zöpfe wegen ihrer Seltenheit sehr teuer seien, pflegen die Zopfabschneider die Zöpfe nicht zu veräußern, sondern sie zwecks Wollusterregung aufzubewahren. Medizinalrat Dr. Leppmann erklärte: Der Angeklagte befinde sich in einer Geistesverfassung, daß er die Überzeugung gewonnen habe, der Angeklagte habe in einem unwiderstehlichen chen Drange gehandelt und sei für seine Taten nicht verantwortlich zu machen. Der Gerichtshof sprach infolgedessen den Angeklagten frei, zumal Familienangehörige – der junge Mann stammte aus sehr guter Familie – dem Gerichtshof die Versicherung gaben, sie würden den Angeklagten sogleich einer Heilanstalt zuführen1.
Vor langer Zeit hatte sich vor einer Berliner Strafkammer ein junger Mann zu verantworten, weil er in einem Lokal einem anderen jungen Mann den Hut, in den er sich angeblich verliebt, gestohlen hatte. Der Angeklagte wurde ebenfalls freigesprochen, weil die Gerichtsärzte erklärt hatten, der junge Mann habe unter einem unwiderstehlichen Drange gehandelt.
In seinem Werke: »Die Transvestiten« schildert Dr. M. Hirschfeld eine große Anzahl Fälle, in denen Männer den unwiderstehlichen Drang empfunden haben, in weiblicher Kleidung, aber auch Frauen in männlicher Kleidung einherzugehen. Deserteure und Verbrecher legen vielfach Frauenkleidung an. Die 17jährige Tochter einer Beamtenfamilie, so erzählt Dr. Hirschfeld in seinem interessanten Buche, machte auf einem Balle die Bekanntschaft eines jungen Seemanns, der durch seine schmucke Uniform[67] und seine angenehmen Manieren sofort ihr Herz gewann. Der hübsche Matrose war, wie er erzählte, auf längere Zeit beurlaubt. Nach einigen Wochen willigten die Eltern in eine Verlobung, die auch regelrecht bei Musik und Tanz gefeiert wurde. Eines Tages war der Seemann verschwunden. Als sich die verlassene Braut an Verwandte wendete, von denen der Bräutigam früher gelegentlich gesprochen hatte, erfuhr sie zu ihrer grenzenlosen Überraschung, daß der Auserwählte ihres Herzens – kein Mann, sondern weiblichen Geschlechts sei. Da das junge Mädchen das trotzdem nicht glauben wollte, wurde ein Zusammentreffen mit dem Bräutigam, der Berlin noch gar nicht verlassen hatte, ermöglicht. Hier erschien der Bräutigam, der keine Ahnung hatte, wer ihn erwartete, in weiblicher Kleidung. Der Verlobte war, wie sich nachträglich herausstellte, derselbe weibliche Matrose, der einen Schneidermeister im Norden Berlins mit zwei Matrosenanzügen geprellt hatte. Der Person sah man allerdings kaum an, daß sie zu Evas Geschlecht gehörte. Sie hatte männliche Gesichtszüge und kurzgeschnittenes Haar.
Der 19jährige Kellner Franz W. aus Berlin liebte es, des Abends stets in Frauenkleidern auszugehen. In dieser Verkleidung lockte er Männer an, um Diebstähle, Erpressungen und dergleichen auszuführen. Eines Abends fiel er der Kriminalpolizei in die Hände. Im Polizeipalast am Alexanderplatz wurde er zwar als männliches Individuum erkannt, da es dort aber keine besondere Garderobe für Untersuchungsgefangene fangene gibt, wurde er in seinen Frauenkleidern in das Moabiter Untersuchungsgefängnis übergeführt, woselbst er sein Kostüm natürlich sofort mit einem Gefangenenanzuge vertauschen mußte.
Ein junger Bursche in Mainz, Sohn eines Weinwirts, verschaffte sich nach seiner Entlassung aus der Schule Frauenkleider. Er hatte eine weibliche Stimme, und seine Erscheinung stand der Verkleidung nicht im Wege. Als Frau ging der noch blutjunge Mensch auf Abenteuer aus. Er richtete die überschwenglichsten Liebesbriefe an Persönlichkeiten, die er nur dem Namen nach kannte, hauptsächlich an Offiziere. Als er älter geworden war, machte er die Bekanntschaft eines sehr reichen Barons[68] von E. Diesem stellte er sich als eine verarmte Komtesse v.S. vor. Er beherrschte den Baron vollständig. Allen Annäherungen des Barons wußte er geschickt aus dem Wege zu gehen; er sei ein »anständiges Mädchen«, pflegte er zu sagen. Der Baron erfuhr schließlich, daß das »anständige Mädchen« ein verkleideter junger Mann war. Der junge Mann verschwand. Einige Wochen darauf wurde in Darmstadt eine Kellnerin wegen Diebstahls verhaftet. Es war der junge Mann, der die ganze Zeit in der Wirtschaft bedienstet war und mit einem Unteroffizier angebandelt hatte. Der Unteroffizier mußte sich versetzen lassen, weil der Spott seiner Kameraden zu groß war. Eine weitere Rolle spielte der junge Mann in einem Prozeß, dessen Schauplatz die Husarenkaserne war. Auch damals stand der junge Mann mit Offizieren auf sehr gutem Fuß. Einem Offizier, dem sich der junge Mann als adlige Dame vorgestellt hatte, stahl er eine wertvolle Brieftasche. Keiner der Offiziere wollte glauben, daß die Dame, die so glühende Liebesbriefe schreiben konnte und sich wie eine Weltdame bewegte, ein gewöhnlicher Schwindler und Dieb sei!
In einer Familie im Westen Berlins hatte sich ein hübsches Hausmädchen, das sich Rosa nannte, vermietet. Sie hatte sich das volle Vertrauen und die volle Zufriedenheit ihrer Herrschaft erworben. Eines Tages erschienen zwei Herren. Sie riefen dem Mädchen, das ihnen die Salontür geöffnet hatte, zu: »Perücke herunter«. Da Rosa zögerte, rissen ihr die Herren – es waren zwei Kriminalbeamte – die Perücke mit Gewalt vom Kopfe und – ein junger Mann mit kurzen Haaren stand vor ihnen. Der junge Mann, der wegen verschiedener Straftaten von der Polizei gesucht wurde, mußte den Beamten sofort nach dem Alexanderplatz folgen.
Am 8. September 1910 kam vor dem Laden des Hofjuweliers Baertges in Potsdam, Nauener Straße, eine hochelegante Equipage mit zwei feurigen Rappen angerollt. Der Equipage entstieg eine aufs nobelste gekleidete hübsche junge Dame. Sie trat in den Laden und stellte sich vor als »Manuela Gräfin v. Arnim, Hofdame Ihrer Majestät der Kaiserin-Königin«. Sie habe von Ihrer Majestät den Auftrag erhalten, zu dem Geburtstage der Prinzessin Viktoria[69] Luise eine Anzahl Schmuckgegenstände auszusuchen. Herr Baertges war über die ihm erwiesene hohe Ehre ungemein überrascht, zumal nur die kronprinzlichen Herrschaften zu seinen Kunden zählten. Er konnte keinerlei Mißtrauen haben, da ihm der Besuch der Hofdame vom Königlichen Hofmarschallamt kurz vorher telephonisch angezeigt war. Der telephonierende Kammerherr hatte bemerkt: Ihre Majestät habe den Wunsch geäußert, die Gräfin solle noch einige Ketten und Armbänder mitbringen. Nachdem die Hofdame Schmucksachen im Betrage von etwa 1500 Mark ausgesucht hatte, fragte Herr Baertges, ob er die Sachen ins Palais schicken solle. Die Hofdame erklärte jedoch, daß sie die ausgesuchten Gegenstände mitnehmen müsse. Sie bitte, die Sachen in die Equipage zu bringen. In diesem Augenblick betrat der Potsdamer Kriminalschutzmann Plack den Juwelierladen und forderte die Hofdame auf, sich zu legitimieren. »Das habe ich nicht nötig,« versetzte die Gräfin mit einem verächtlichen Seitenblick. »Aber wenn Sie durchaus Ihre große Neugier befriedigen wollen, dann will ich Ihnen meine Visitenkarte verabfolgen.« Mit einer verächtlichen Gebärde überreichte die Hofdame dem Beamten amten die Visitenkarte. Auf dieser stand »Manuela Gräfin v. Arnim, Hofdame Ihrer Majestät der Kaiserin-Königin.« Über dem Ganzen prangte eine Grafenkrone. Kriminalschutzmann Plack las die Karte. Dann sagte er: »Das ist alles recht nett und schön, geehrte Gräfin, die Visitenkarte befriedigt mich aber noch nicht. Ich habe Zweifel, daß Sie das sind, wofür Sie sich ausgeben, ich muß Sie deshalb auffordern, mir zur nächsten Polizeiwache zu folgen.« »Das ist ja aber eine Frechheit sondergleichen,« versetzte die junge Gräfin, die leichenblaß geworden war. »Sie scheinen nicht zu wissen, wie Sie sich einer Dame gegenüber von hohem Rang und Stand zu benehmen haben.« »Ihr Auftreten kann mir nicht imponieren,« antwortete der Schutzmann, »ich fordere Sie zum zweiten Male auf, mir zur nächsten Polizeiwache zu folgen.« »Das will ich tun, versetzte die Hofdame, aber nur in meiner Equipage. Ich warne Sie jedoch vorher. Sie werden sich überzeugen, daß Sie sich geirrt haben. Ich werde alsdann Ihre Bestrafung[70] beantragen.« »Das mögen Sie tun,« antwortete der Beamte, »ich muß aber auf meiner Aufforderung beharren, mir zur Wache zu folgen.« Die Hofdame kam schließlich, wenn auch zögernd, der Aufforderung des Beamten nach. Auf der Polizeiwache angekommen, erregte die elegant gekleidete, hübsche junge Dame kein geringes Aufsehen. Kriminalschutzmann Plack begab sich mit der Dame in ein besonderes Zimmer und forderte sie auf, sich zu entkleiden. Zögernd entsprach die Dame dem Verlangen des Schutzmanns. Und – nachdem die Dame sich ihrer Kleider entledigt hatte, stand – ein junger Mann vor dem Beamten. Er gab an: er heiße Franz Eichbaum und wohne in Groß- Lichterfelde. Er habe eine betrügerische Absicht nicht gehabt, er wollte lediglich einen Streich ausführen; ganz besonders war es ihm darum zu tun, die Rolle möglichst durchzuführen. Auf weiteres Befragen gab Eichbaum an: Nicht das Königliche Hofmarschallamt, sondern sein Freund, der Kaufmann Paul Klemmt aus Charlottenburg, habe bei Baertges angeklingelt. Eichbaum wurde zunächst in Haft genommen, und da sich Zweifel bezüglich seiner geistigen Zurechnungsfähigkeit ergaben, wurde er zwecks Beobachtung der Berliner Charité überwiesen. Die Charitéärzte erklärten: Eichbaum sei für seine Taten voll verantwortlich. Es wurde deshalb Anklage wegen versuchten Betruges, gegen Paul Klemmt wegen Beihilfe hierzu erhoben.
Am 31. März 1911 mußten Eichbaum und Klemmt auf der Anklagebank des Potsdamer Schöffengerichts erscheinen. Eichbaum, ein mittelgroßer, brünetter, hübscher junger Mann war am 12. Juli 1891 zu Schloppe in Westpreußen geboren und evangelischer Konfession. Paul Klemmt, ein großer, rotblonder, bartloser hübscher Mensch, war am 23. September 1890 in Berlin geboren, evangelischer Konfession. Es hatte sich zu der Verhandlung ein ungemein zahlreiches Damen- und Herrenpublikum aus den ersten Kreisen Potsdams eingefunden. Der Referendar Dr. jur. Prinz August Wilhelm von Preußen, der vierte Sohn des Kaisers, der dem Potsdamer Landgericht zur Ausbildung überwiesen war, hatte hinter dem Richtertisch Platz genommen. Den Vorsitz des Schöffengerichts führte Amtsgerichtsrat[71] Dr. v. Normann. Die Anklage vertrat Referendar Dr. Weinhold. Die Verteidigung führten Rechtsanwalt Dr. Max Alsberg (Berlin) für den Angeklagten Franz Eichbaum und Rechtsanwalt Dr. Werthauer (Berlin) für Paul Klemmt.
Eichbaum äußerte auf Befragen des Vorsitzenden: Sein verstorbener Vater sei Kanzleirat am Potsdamer Landgericht gewesen. Er habe in Potsdam das Viktoria-Gymnasium bis zur Obertertia besucht, sei alsdann in Berlin auf einer Fähnrichschule bis zur Oberprima gewesen, aber nicht in die Armee eingetreten. Vor einiger Zeit sei er mit einem Freunde nach Texas gegangen. Er habe seiner Mutter geschrieben, sie solle nachkommen und sich dort eine Orangenplantage kaufen. Die Mutter habe dies tun wollen und hatte sich auch bereits ein Billett nach Texas gekauft, im letzten Augenblick hatte sich aber die Sache zerschlagen.
Vors.: Was sollte die Plantage kosten?
Angekl.: 40000 Mark.
Vors.: Sind Sie pervers?
Angekl.: Nein.
Vors.: Aber Sie haben eine Neigung, in Frauenkleidern zu gehen?
Angekl.: Jawohl, ich habe diese Neigung seit meiner frühesten Jugend.
Der Angeklagte erzählte alsdann auf Befragen des Vorsitzenden: Am 7. September 1910 sei er des Abends mit seinem Freunde Klemmt in einem Weinrestaurant in der Leipziger Straße in Berlin zusammengetroffen. Er habe diesem den Vorschlag gemacht, wieder einmal einen Streich auszuführen. Der Plan sei beraten worden. Sie haben in Berlin in einem Hotel übernachtet. Am folgenden Morgen habe er sich seidene Frauenkleider, einen eleganten Damenhut usw. besorgt, habe mit seinem Freunde im Esplanade-Hotel in Berlin zu Mittag gespeist, alsdann seien sie in einem Automobil nach Potsdam gefahren. Das Automobil habe 60 Mark gekostet. In Potsdam sei sein Freund nach dem Café Weiß und er in einer gemieteten Privatequipage nach dem hiesigen Landgericht gefahren.
Vors.: Was wollten Sie auf dem Landgericht?
Angekl.: Ich erkundigte mich nach der Adresse eines Staatsanwalts.
Vors.: Was wollten Sie von dem Staatsanwalt?
Angekl.: Nichts, ich wollte nur meine Rolle als Dame so gut als möglich durchführen und dies gewissermaßen als Probe benutzen. Vom[72] Landgericht fuhr ich nach dem Marmorpalais. Ich ließ die Equipage warten und stellte mich einem mir begegnenden Herrn als Manuela Gräfin von Arnim, Hofdame der Kaiserin, vor. Von dort fuhr ich nach dem Café Weiß. Ich beschloß nun, mit Klemmt verschiedene Verkaufslokale aufzusuchen, in diesen alle möglichen Gegenstände zu bestellen und mich als Hofdame usw. auszugeben. Es kam uns darauf an, daß ich die Rolle der Hofdame unerkannt durchführte. Klemmt sollte vorher in den Verkaufslokalen, die ich besuchen wollte, antelephonieren und sagen, er sei Hofmarschall, die Gräfin Arnim werde zwecks Einkäufe im Auftrage Ihrer Majestät erscheinen. Ich fuhr zunächst in der gemieteten Equipage zu dem Hofjuwelier Baertges nach der Nauener Straße. Ich ließ die Equipage warten, betrat den Laden, stellte mich vor und ließ mir Schmuckgegenstände für die Prinzessin Viktoria Luise, deren Geburtstag bevorstand, vorlegen. Herr Baertges sagte mir sogleich nach meinem Eintritt: Das Hofmarschallamt habe bereits antelephoniert und ersucht, noch einige Ketten und Armbänder mitzubringen. Ich wußte, daß ich von einem Kriminalbeamten verfolgt werde und daß dieser Mann draußen stand. Der Beamte trat auch sehr bald in den Laden und forderte mich auf, ihm zur Polizeiwache zu folgen. Ich bemerke ausdrücklich, wir hatten keine betrügerische Absicht, wir wollten lediglich einen Streich ausführen.
Der Angeklagte Klemmt sagte auf Befragen des Vorsitzenden: Er habe in Charlottenburg die Oberrealschule bis zur Obersekunda besucht, alsdann sei er eine Zeitlang auf der Handelsschule gewesen und sei darauf in Berlin in ein Modewarengeschäft eingetreten. Er gebe zu, daß er den Hofjuwelier Baertges von einem Restaurant aus antelephoniert und sich dabei als Hofmarschall ausgegeben habe. Eine betrügerische Absicht habe ihm ebenfalls vollständig ferngelegen, sie wollten sich nur einen Scherz machen.
Schutzmann Plack bekundete darauf als Zeuge: Er habe bereits Verdacht geschöpft, als die Dame nach dem Marmorpalais fuhr. An der Stimme und an den großen Füßen habe er wahrgenommen, daß die Dame ein verkleideter Mann sei. Er sei deshalb der Dame in Zivil auf einem[73] Zweirade gefolgt. Als er den Juwelierladen betrat und den Angeklagten Eichbaum aufforderte, sich zu legitimieren, habe dieser ihm eine Visitenkarte vorgezeigt, auf der stand: »Gräfin Manuela von Arnim, Hofdame Ihrer Majestät der Kaiserin und Königin.« Eichbaum sagte sehr entrüstet: »Sie wissen wohl nicht, wie Sie sich einer Königlichen Hofdame gegenüber zu benehmen haben?« Er habe sich aber nicht verblüffen lassen, sondern die angebliche Dame aufgefordert, ihm zur Polizeiwache zu folgen.
Juwelier Baertges bekundete: Kurz nachdem vom Hofmarschallamt bei ihm antelephoniert worden war, sei eine Equipage vor seinem Laden vorgefahren. Eine sehr elegant gekleidete Dame in seidener Robe, sehr schickem Hut und tief verschleiert sei in den Laden getreten, habe sich als Gräfin von Arnim, Hofdame der Kaiserin, vorgestellt und gesagt, daß sie im Auftrage der Kaiserin Schmuckgegenstände für die Prinzessin Viktoria Luise kaufen solle. Er habe die ausgesuchten Gegenstände ins Palais schicken wollen, die Dame habe aber sofort eingewendet: Ich muß die Sachen sogleich mitnehmen.
Angekl. Eichbaum: Das ist nicht wahr, ich wollte die Sachen nicht mitnehmen.
Zeuge: Ich weiß ganz genau, daß Eichbaum sagte: Ich muß die Sachen sofort mitnehmen; ich wollte sie auch gerade in die Equipage tragen, als der Kriminalbeamte eintrat.
Oberarzt der Charité, Stabsarzt Dr. Noack (Berlin) erstattete darauf ein längeres Gutachten: Ich habe den Angeklagten Eichbaum sechs Wochen in der Königlichen Charité zu Berlin beobachtet. Nach Aussage der Mutter ist Eichbaum weibisch. Er spielte mit 13 Jahren noch mit Puppen, trug die Kleider seiner Schwester, soll immer sehr nervös und stets voll toller Streiche che gewesen sein. Er hat das Gymnasium in Potsdam und das Johannisstift bis Untertertia besucht. Alsdann wurde er, da er sich einem weiteren Schulbesuch abgeneigt zeigte, als Lehrling in das Geschäft eines Kaufmanns gegeben. Nach einiger Zeit bekam er angeblich wieder Lust zum Studium und wollte sich das Einjährig-Freiwilligen-Zeugnis erwerben. Er besuchte die Lehranstalt des Dr. Sonneck in Berlin, hat aber den Unterricht vielfach geschwänzt. Im Juli 1907 bat die Mutter, da[74] sie befürchtete, der Sohn werde vollständig einem liederlichen Lebenswandel verfallen, um Bestellung eines ganz energischen Beistandes. Anfang Oktober 1907 ist Eichbaum aus einem Eisenwarengeschäft in Warmbrunn in Schlesien, wo er als Lehrling beschäftigt war, entlaufen. Er wurde alsdann in einer Versicherungsanstalt als Schreiber beschäftigt. Im April 1900 wurde er von einer Theatergesellschaft als Schauspieler engagiert. Während seines Aufenthalts in Warmbrunn soll Eichbaum mehrere Diebstähle begangen haben, wofür er vom Landgericht in Hirschberg, Schlesien, mit Gefängnis bestraft worden ist. Er wurde außerdem wegen versuchten Betruges zu 10 Mark Geldstrafe und wegen vollendeten Betruges in zwei Fällen zu 20 Mark Geldstrafe verurteilt. Im März 1910 hatte er einen Freund in Texas besucht und den Entschluß gefaßt, sich dort eine Apfelsinenfarm zu kaufen. Die Mutter schickte 2000 Mark, um den Kauf der Farm in die Wege zu leiten. Der Angeklagte hat erzählt: Er habe schon einmal vor 6 Jahren, als er etwa 12 Jahre alt war, als Dienstmädchen verkleidet, in einem Hutgeschäft Hüte für eine Dame bestellt. Als die Hüte zu der bezeichneten Wohnung gebracht waren, sei er unterwegs weggelaufen, aber eingeholt und nach der Polizeiwache gebracht worden, wo ihn sein Vater abgeholt habe. Die in seinem Besitz gefundenen Visitenkarten, die auf den Namen der Gräfin Arnim lauten, habe er drei Tage vor dem Potsdamer Streich in Berlin drucken lassen. Schon als kleines Kind habe er den unwiderstehlichen Drang nach weiblicher Kleidung gehabt. Er glaube, es sei ein angeborener Trieb, den er wohl nie verlieren werde. Er fühle sich in weiblicher Kleidung wohler. Er habe sich von Verwandten ganze Toiletten verschafft, wie Damenstrümpfe, Jupons, Korsetts usw. Er habe keine Neigung zum weiblichen Geschlecht und weder Bälle noch Tanzstunden jemals mitgemacht. Als Gymnasiast habe er nicht wie die anderen die üblichen Liebeleien geübt, sondern sich zu Freunden hingezogen gefühlt. Er bekomme oftmals einen phantastischen Gedanken, den er sofort ausführe, ohne sich die Folgen zu überlegen. Er habe im Dresdener Kasino in Berlin Bälle von Homosexuellen[75] mitgemacht. Bei seinem Schwager, einem Pastor bei Danzig, tat er immer, was er nicht sollte, nicht aus Trotz. Aber die Aufregung, die er deshalb hatte, machte ihm Spaß. Er bekam ein halbes Jahr lang täglich Prügel, das Angstgefühl machte ihm Spaß. Als er eines Tages aus der Schule kam, habe er in einem Laden auf den Namen einer Dame Bilder bestellt. Am folgenden Tage habe er die Bilder in der Schule verschenkt. In Warmbrunn habe es ihm Spaß gemacht, Glas auf die Erde fallen zu lassen. Er kaufte Gläser und schlug sie entzwei. Da habe er, ohne zu bezahlen, eine Vase mitgenommen und sie einem Freunde geschenkt. Auf die Idee, daß das Diebstahl war, kam er gar nicht. Ferner erzählte der Angeklagte: In demselben Geschäft in Warmbrunn, wo ich die Gläser nahm, sah ich die offene Ladenkasse mit vielen Geldstücken. Ich entnahm davon mehrere und warf sie ins Wasser. Im Kurpark zu Warmbrunn stahl ich einen Geldbeutel, lediglich um zu sehen, ob es gemerkt werden wird. Ich habe am folgenden Tage den Geldbeutel unversehrt zurückgebracht. Inzwischen war aber Anzeige bei der Polizei erstattet worden. Der Gutachter kam zu dem Schluß: Eichbaum, der auch erblich belastet ist, ist zweifellos eine geistig abnorme Persönlichkeit, deren Verkleidungstrieb zum Teil auf eine krankhafte Störung der Geistestätigkeit zurückzuführen ist. Für Handlungen, die aus diesem Triebe hervorgehen, ist die Willensbestimmung nicht ausgeschlossen, aber doch in nicht unerheblichem Grade vermindert. Für die innerhalb des Verkleidungstriebes liegenden Strafhandlungen ist dagegen die freie Willensbestimmung nicht in erheblichem Maße beeinflußt.
Nervenarzt Dr. med. Magnus Hirschfeld (Berlin) bekundete darauf: Er habe den Angeklagten auf Veranlassung seiner Mutter längere Zeit beobachtet und behandelt. Der Angeklagte gehört zu den sogenannten Transvestiten, einer bestimmten Gruppe mannweiblicher Geschlechtsübergänge, deren hervorstechendstes Kennzeichen es ist, sich seelisch mehr oder weniger dem anderen Geschlecht zugehörig zu empfinden. Diesem seelischen Zwittertum suchen die Betreffenden durch die Verkleidung Ausdruck zu geben. Es gehören demnach zu den Transvestiten[76] Männer, die zeitweise als Frauen auftreten, und weibliche Personen, die als Männer leben. Solche Personen hat es zu allen Zeiten gegeben. Hinsichtlich ihres Körperbaues in der Richtung ihres Geschlechtstriebes sind die Transvestiten vielfach von normaler Beschaffenheit. Wie die drei übrigen Hauptgruppen der sexuellen Zwischenstufen: die Hermaphroditen, die Androgynen und Homosexuellen, so entwickeln sich auch die Transvestiten stets auf ererbter Grundlage. Sie scheinen ein Mittel zu sein, deren sich die Natur bedient, der Entartung vorzubeugen. Die Sucht, sich als Weib zu verkleiden, machte sich bei dem Angeklagten schon in sehr frühem Alter bemerkbar. Nach den Aussagen der Mutter sträubte er sich heftig, als er als Kind die ersten Hosen bekommen sollte. Schon bevor er in die Schule ging, band er sich mit Vorliebe Schürzen vor, zog sich die Kleider der Schwester an, die er nachschleppen ließ, und setzte sich deren Hüte auf. Der Sachverständige führte noch eine Anzahl weiblicher Eigenschaften des Angeklagten an, die auf sein seelisches Zwittertum hindeuten. Auf die Frage des Arztes, welchen Beruf er ergreifen möchte, erwiderte der Angekl.: »Ich möchte eine Dame sein und geheiratet werden.« Inwieweit die transvestitischen Neigungen im Einzelfall beherrscht werden können, hängt vor allem von dem Grade der neuropathischen Konstitution der Betreffenden ab, der damit zusammenhängenden Stärke der Hemmungen, die sehr verschieden ist. Im vorliegenden Falle ist die erbliche Belastung eine sehr beträchtliche. Mit ihr hängt die exzentrische Abenteuersucht des Angeklagten zusammen. Trotz seiner großen Jugend hat er bereits ein sehr bewegtes Leben hinter sich. So war er vor einem Jahre vier Monate in Texas, wo er sich u.a. als Serpentintänzerin produzierte; einmal war er von einem Konzert so entzückt, daß er dem Musiker 5 Tage nach Rußland nachreiste, um ihn nochmals zu hören. Auch Verkleidungskomödien, ähnlich dem Potsdamer Fall, hat er wiederholt ausgeführt. Vor allem reizte es ihn bei diesen sen Abenteuern, für eine wirkliche Dame gehalten zu werden. Das ist für die Transvestiten bezeichnend, bei denen sich die merkwürdigsten Lebensschicksale vorfinden. Der Sachverständige führte einige[77] Fälle aus seiner Erfahrung an. So wurde vor einigen Jahren in Berlin auf einem Bau ein Anstreicher sistiert, der in Wirklichkeit eine Frau war. Diese Person war jahrelang unerkannt als Mann auf einem norwegischen Walfischfänger gefahren. Vor wenigen Tagen erhielt er (Dr. Hirschfeld) die Photographie eines Transvestiten, der den größten Teil seines Lebens als Dienstmädchen verbracht hatte. In Berlin wurde vor längerer Zeit ein Polizeibeamter pensioniert, der seinen Ferienurlaub mit Vorliebe im Gebirge als Frau verlebte. Von Transvestiten aus Kriegszeiten erwähnte der Sachverständige der Tochter eines Potsdamer Gastwirtes, Eleonore Prohaska, die unter dem Namen August Renz als freiwilliger Jäger in das Lützower Freikorps trat. Ihr Geschlecht wurde erst entdeckt, als sie im Gefecht bei Göhrde tödlich verwundet wurde. Der Gutachter folgerte aus den bizarren, höchst phantastischen Streichen vieler Transvestiten, der Vorgeschichte des Angeklagten und der grotesken Art und Weise, wie er die Hofdamengeschichte in Szene setzte, daß seine Behauptung, er habe lediglich eine Verkleidungsszene ohne betrügerische Absichten aufführen wollen, in der Tat Glauben verdiene. Der Sachverständige verständige schloß: »Mir scheint diese Seite der Begutachtung auf Grund der Psychologie des Angeklagten und des vorliegenden Falles das wesentliche. Wenn ich mich aber noch kurz zu der Frage äußern soll, ob und inwieweit bei dem Angeklagten die Bedingungen des § 51 zutreffen, gleichviel ob es sich um einen schlechten Scherz oder ein betrügerisches Komplott handelt, so bin ich zunächst der Meinung, daß die sexuellen Zwischenstufen an sich ebenso für ihre Handlungen verantwortlich zu machen sind, wie die übrigen Menschen. Im vorliegenden Fall besteht aber neben dem transvestitischen Triebe eine so hochgradige Schwächung der Intelligenz und der Hemmungen, daß die Frage nach der vorhandenen Zurechnungsfähigkeit des Angeklagten nicht mit der erforderlichen Bestimmtheit bejaht werden kann. Namentlich ist in dieser Hinsicht auch seine Jugend sowie der periodische impulsive Charakter zu berücksichtigen, der bei seinen Streichen unverkennbar ist.«
Kriminalkommissar Dr. Kopp (Berlin) bekundete als Zeuge und Sachverständiger:[78] Der Angeklagte Eichbaum sei bei der Berliner Kriminalpolizei als Homosexueller bekannt. Er (Dr. Kopp) habe in seiner Praxis eine Reihe von Leuten, insbesondere Schauspieler kennengelernt, die angeblich den unwiderstehlichen Trieb hatten, sich als Frauen zu verkleiden. Er habe einen Schauspieler gekannt, der zur Hundstagszeit mit dem Ränzel auf dem Rücken, in schäbigem Rock und ausgefranzten Beinkleidern durch die Lande zog und wie ein richtiger »armer Reisender« von Haus zu Haus, Tür zu Tür um eine Gabe bettelte. Ein anderer Schauspieler empfange seine ausschließlich männlichen Gäste als Dienstmädchen verkleidet, mit einem weißen Häubchen auf dem Kopfe. In dieser Tracht wirkte er auch selbst am Kochherde und bereitete allerhand leckere Gerichte.
Kriminalpolizeiinspektor Hans v. Tresckow (Berlin): Er habe seit vielen Jahren bei der Berliner Kriminalpolizei das Dezernat für das Erpressertum. Da dies zumeist auf homosexuellem Gebiet liege, habe er von dem Leben und Treiben der Homosexuellen in Berlin volle Kenntnis. Als er den Angeklagten Eichbaum sah und ihn nur drei Worte sprechen hörte, habe er sofort die Überzeugung gewonnen, daß Eichbaum ein Homosexueller, oder wie es im Berliner Volksmunde heißt, »eine Tante« sei. Diese Art Leute haben oftmals einen unwiderstehlichen Trieb, Frauenkleider anzulegen, und geben sich die erdenklichste Mühe, die Rolle als Frauen unerkannt durchzuführen. Es sei sehr wohl möglich, daß Eichbaum unter dieser unwiderstehlichen Gewalt gehandelt habe, ohne die Absicht des Betruges gehabt zu haben.
Der Vertreter der Staatsanwaltschaft, Referendar Dr. Weinhold, hielt trotzdem die betrügerische Absicht bei beiden Angeklagten für erwiesen und beantragte je sechs Monate Gefängnis, gegen Eichbaum außerdem wegen Anmaßung des Adels 14 Tage Haft.
Verteidiger Rechtsanwalt Dr. Alsberg (Berlin) hob zu Eingang seiner Ausführungen hervor, daß die Stellung des psychiatrischen Sachverständigen im vorliegenden Falle eine ganz eigenartige sei. Im allgemeinen sei es die Aufgabe des Sachverständigen, ein wesentliches Moment der Schuldfrage zu entscheiden: die Frage nach der Zurechnungsfähigkeit. Vorliegend sei es die Aufgabe des psychiatrischen[79] Sachverständigen, eine ganz andere Frage zu entscheiden, nämlich, ob der Angeklagte seelisch so geartet sei, daß man das von ihm zu seiner Verteidigung behauptete Motiv seiner Handlungsweise für gegeben erachten könne. Dies sei zweifellos nach den Ausführungen der Sachverständigen zu bejahen. Der Zweck des Handelns des Angeklagten sei es gewesen, in der Rolle einer Dame Aufsehen zu erregen. Daraus dürfe man entnehmen, daß es ihm nicht darauf angekommen sei, sich in den Besitz der Sachen zu setzen. Die Art, wie er in Potsdam aufgetreten sei, sein Besuch bei dem Kastellan des Gerichts und im Schloß bewiesen die Richtigkeit der Behauptung des Angeklagten. Wenn er wirklich beim Juwelier davon gesprochen habe, man solle ihm die Sachen in den Wagen bringen, so sei dies aus der Verlegenheit zu erklären, in die der Angeklagte bei dem Erscheinen des Schutzmanns geraten sei. Ein Betrüger würde anders gehandelt haben und nicht die Aufmerksamkeit dadurch auf sich gelenkt haben, daß er vorher die Besuche machte. Aber selbst wenn der Angeklagte die Juwelen habe mitnehmen wollen, so folge doch daraus nicht, daß seine Absicht darauf gerichtet gewesen sei, sie zu behalten. Der von ihm in Szene gesetzte Plan wäre doch nur dann völlig gelungen, wenn der Angeklagte die Juwelen erhielt und sie dann mit Spott zurückschicken konnte. In den Fällen, in denen der Angeklagte früher gleiche Manöver in Szene gesetzt, habe er ja auch die Gegenstände, die er erhielt, zurückgesandt. Diese früheren Taten seien ein wichtiges Interpretationsmittel, um das jetzige Tun des Angeklagten zu deuten. Nach Zusammenfassung der sämtlichen, in der Verhandlung erörterten Momente kam der Verteidiger zu der Ansicht, daß zum mindesten erhebliche Zweifel an der dem Angeklagten zur Last gelegten Betrugsabsicht begründet seien.
Verteidiger Rechtsanwalt Dr. Werthauer (Berlin) schloß sich für den Angeklagten Klemmt diesen Ausführungen an, wobei er insbesondere auch noch betonte, es sei gar kein Beweis dafür erbracht, daß Klemmt von einer etwaigen betrügerischen Absicht seines Partners Kenntnis gehabt habe.
Nach kurzer Beratung des Gerichtshofes verkündete te der Vorsitzende: Der Gerichtshof[80] hält den Angeklagten Eichbaum für vollständig zurechnungsfähig und ist auch der Meinung, daß beide Angeklagten eine betrügerische Absicht hatten. Allein mit Rücksicht auf die gesamte Sachlage und die große Jugend beider Angeklagten hat der Gerichtshof die Sache milde angesehen und gegen Eichbaum wegen versuchten Betruges auf einen Monat Gefängnis erkannt. Wegen der Adelsanmaßung hat der Gerichtshof den Angeklagten freigesprochen, da die einmalige Vorstellung als Gräfin Arnim und Hofdame nicht als Anmaßung des Adelsprädikats zu betrachten ist. Der Angeklagte Klemmt mußte wegen Beihilfe zum versuchten Betruge bestraft werden. In Berücksichtigung des Umstandes, daß Klemmt noch nicht vorbestraft ist, hat der Gerichtshof es bei einer Geldstrafe von 200 Mark belassen, wofür im Nichtbeitreibungsfalle 40 Tage Gefängnis zu substituieren sind. Den Angeklagten sind außerdem die Kosten des Verfahrens auferlegt worden.
Gegen dieses Urteil legten die Verteidiger Berufung ein. Infolgedessen kam die Angelegenheit am 24. Juni 1911 vor der ersten Strafkammer des Landgerichts Potsdam zur nochmaligen Verhandlung. Den Vorsitz des Gerichtshofes führte Landgerichtsdirektor Geh. Justizrat Barchewitz. Die Anklage vertrat Staatsanwaltschaftsrat Boettger. Die Verteidigung für beide Angeklagte führte Rechtsanwalt Dr. Max Alsberg (Berlin). Außer den beiden bisherigen Sachverständigen, Stabsarzt Dr. Noack und Dr. med. Magnus Hirschfeld (Berlin) war auf Antrag der Verteidigung noch der bekannte Psychiater Professor Dr. Freiherr v. Schrenck-Notzing (München) erschienen. Referendar Dr. juris Prinz August Wilhelm von Preußen war auch in dieser Verhandlung anwesend. Die Vernehmung Eichhorns gestaltete sich ungefähr folgendermaßen:
Vors.: Wie sind Sie denn nun eigentlich zu der ganzen Geschichte gekommen?
Angekl. Eichbaum: Das kann ich heute eigentlich nicht mehr sagen. Ich war mit Klemmt eng befreundet, und da kamen wir auf diese Sache zu sprechen. Ich hatte erzählt, daß ich mich schon in meiner frühesten Jugend häufig als Mädchen verkleidet hätte und machte ihm den Vorschlag, so etwas noch einmal zu machen. Die Einzelheiten, vor allem die Verkleidung als Hofdame und die[81] Reise nach Potsdam wurden erst später besprochen. Zunächst fuhren wir zusammen ins Hotel »Monopol«, wo ich mich umzog. Von dort begab ich mich nach dem Hotel »Esplanade«, wo ich den Tee einnahm. Inzwischen hatte Klemmt eine Equipage nach dem Hotel »Esplanade« bestellt, die mich abholte und nach Potsdam brachte. In Potsdam hatten wir uns in eine Konditorei verabredet. Wir trafen fen uns etwas verspätet, aber ich merkte schon, daß ein Beamter mir auf den Fersen war. Ich verzichtete deshalb darauf, mich mit Klemmt, der inzwischen auch in die Konditorei gekommen war, an einen Tisch zu setzen, wir verständigten uns durch Zettel. Wir verabredeten, daß wir bei verschiedenen Geschäften Bestellungen für den Hof machen wollten. Wir suchten das Juweliergeschäft Baertges deshalb gerade heraus, weil es das einzige Geschäft mit Telephonanschluß war. Klemmt sollte meinen Besuch dort anmelden.
Vors.: Geld, um größere Bestellungen in einem Juweliergeschäft zu machen, hatten Sie nicht bei sich?
Angekl.: Nein, ich wollte die Sachen gar nicht behalten. Ich sah nun, daß der Beamte aus der Konditorei mir auch bis in dieses Geschäft nachgefolgt war, hinter den Ladentisch trat und dem Inhaber etwas sagte. Ich sah deshalb, daß mein Spiel wohl bald zu Ende war. Jedenfalls hatte ich nicht die Absicht, mir die Sachen anzueignen.
Vors.: Dann konnten Sie doch hinausgehen, ohne etwas mitzunehmen. Statt dessen haben Sie aber die Goldsachen im Werte von über 1400 Mark einpacken lassen und hätten sie mitgenommen, wenn der Beamte nicht dazwischengetreten wäre.
Angeklagter: Ich war in dem Moment sehr nervös und dachte, daß der Beamte jeden Augenblick sagen würde, ich sei gar keine Hofdame.
Vors.: Aber Sie sind mit dem Juwelier, der die eingepackten Sachen in der Hand hatte, bis zur Tür der Equipage gegangen?
Angekl.: Das konnte ich nicht hindern.
Vors.: Und als Sie in den Wagen einsteigen wollten, sistierte Sie der Beamte. Wenn er Sie nicht sistiert hätte, würden Sie die Sachen mitgenommen haben?
Angekl.: Jawohl, aber ich hätte sie zurückgeschickt. Ursprünglich sollten die Sachen ins Neue Palais geschickt werden. Ich wollte das auch sagen, aber ich wurde durch die Anwesenheit[82] des Beamten nervös.
Der Angeklagte wurde nunmehr ausführlich über seine feminine Veranlagung vernommen. Er äußerte, daß er schon von Jugend auf zu gewissen Zeiten einen unwiderstehlichen Drang gehabt habe, zuerst Mädchen- und später Damenkleider anzuziehen. Diese Manie sei von Zeit zu Zeit aufgetreten, und er habe dann oft gegen seinen Willen ihr Folge leisten müssen.
Vors.: Müssen Sie sich nun nicht selbst sagen, daß in diesem Falle der Schein gegen Sie spricht, d.h. daß Sie sich die Sachen aneignen wollten?
Angekl.: Das mag sein, ich habe mir aber oft vorgenommen, es nicht wieder zu tun. Wenn jedoch die Manie kam, dann konnte ich es nicht lassen.
Der Angeklagte Klemmt bestätigte im allgemeinen die Angaben seines Freundes. Es sei nie die Rede gewesen, daß die Sachen veruntreut werden sollten. Es habe sich lediglich um einen Ulk gehandelt.
Ein Beisitzer: Wenn Eichbaum sich schon in der Konditorei beobachtet glaubte, warum hat er dann nicht von dem Besuch bei dem Juwelier Abstand genommen? Das Nächstliegende war doch dann, nach Berlin zurückzufahren.
Angekl. Eichbaum: Das hätte gar keinen Reiz gehabt. Eine Bestellung als Hofdame auszuführen, hat einen ganz anderen Reiz.
Der als Zeuge vernommene Hofjuwelier Baertges bekundete, daß vom Hofmarschallamt telephonisch eine Gräfin Arnim angekündigt wurde; die Gräfin wolle die besten und teuersten Sachen aussuchen, da Ihre Majestät die Kaiserin sie zu einem Geburtstagsgeschenk für die Prinzessin Viktoria Luise verwenden wolle.
Vors.: Ist Ihnen nicht die tiefe Stimme des Angeklagten aufgefallen?
Zeuge: Das erste, was die Hofdame sagte, war, daß sie auf ihre belegte Stimme hinwies und äußerte, sie sei sehr stark erkältet. Ich wollte die Sachen am liebsten ins Neue Palais schicken, auch deshalb, weil ich nicht so teure Brillanten und kostbare Ketten auf Lager hatte, wie sie sich für die Prinzessin als Geburtstagsgeschenk eigneten. Die Hofdame sagte aber, Ihre Majestät wolle die Geschenke selbst zum Aussuchen haben.
Die Mutter des Angeklagten Eichbaum bestätigte, daß sie von jeher an ihm den Verkleidungstrieb beobachtet habe.
Ebenso bekundete eine Frau Schuhmachermeister Ernst,[83] daß der Angeklagte eines Tages in Frauenkleidern zu ihr kam und vier Paar Damenstiefel bestellte, die zu einer Gräfin geschickt werden sollten.
Stabsarzt Dr. Noack und Dr. Magnus Hirschfeld äußerten sich wie in der schöffengerichtlichen Verhandlung.
Professor Dr. Freiherr von Schrenck-Notzing (München): Ich habe den Angeklagten Eichbaum ebenfalls eine Zeitlang beobachtet. Der Angeklagte erzählte mir: Er habe noch in einem Alter mit Puppen gespielt, in dem sonst Knaben damit nicht mehr zu spielen pflegen. Auch habe er oft weibliche Handarbeiten gemacht. Er ist ein erblich belasteter abnormer Mensch von psychisch labilem Zustande, der die Folgen seiner Handlung in keiner Weise sich überlegt. Intellektuell ist er auch nicht sehr begabt. Talente entwickelt er auf Gebieten, auf denen sonst nur Frauen sich besonders hervortun, so auf dem Gebiete des Tanzes und der Musik. Seine Lieblingsschriftsteller sind Platen und Novalis. Seiner sexuellen Veranlagung nach kann er höchstens als Psychohomosexueller bezeichnet werden. Er leidet an einer gewissen Abenteuerlust, hat eine Vorliebe fürs Schauspielern und ist sehr eitel und putzsüchtig. Seine Handlungen führt er ohne viel Vorbereitungen aus, es fehlt ihm jedes logische Weiterdenken, er sieht nur das Nächstliegende; das ist ein Begabungsmangel eines Schwachsinnigen. Er ist nicht imstande, den momentan auftauchenden Impulsen zu widerstehen. Er wußte gar nicht, was er in Potsdam tat. Er war so eingenommen von dem Gedanken, Frau zu sein, daß er keine Bedenken gegen seine Handlungsweise hatte. Er mußte seinen Trieb befriedigen, auch als er sich von dem Schutzmann beobachtet glaubte. Eine derartige sexuelle Triebbefriedigung schließt aber die freie Willensbestimmung nicht aus. Beim Angeklagten war das Leitmotiv seines Handelns nicht der Gedanke, einen raffinierten Juwelendiebstahl zu begehen, sondern er erlag der Autosuggestion, ein Weib zu sein. Wenn er auch bestraft wird, dieser Trieb ist bei ihm nicht zu beseitigen. Er ist nicht ausgesprochen geisteskrank, aber vermindert zurechnungsfähig. Es ist ihm schon zu glauben, daß er nur die Absicht hatte, einen Streich auszuführen.
Staatsanwaltschaftsrat Boettger beantragte, die Berufung[84] beider Angeklagten zu verwerfen. Der Umstand, stand, daß der Angeklagte Eichbaum schon wiederholt wegen Eigentumsvergehens vorbestraft ist und die ausgesuchten Gegenstände mitnehmen wollte, lassen kaum noch einen Zweifel, daß es sich um einen versuchten Betrug handelte. Dafür spricht auch die telephonische Ankündigung des Angeklagten Klemmt: Die Gräfin v. Arnim soll noch goldene Uhren, Ketten und Armbänder mitbringen.
Der Verteidiger, Rechtsanwalt Dr. Alsberg suchte den Nachweis zu führen, daß der Angeklagte Eichbaum es lediglich auf einen Ulk abgesehen hatte. Der Verteidiger beantragte, beide Angeklagte freizusprechen.
Der Gerichtshof erkannte nach längerer Beratung auf Verwerfung der Berufung beider Angeklagten, so daß es also bei der vom Schöffengericht erkannten Strafe verblieb. Der Vorsitzende, Landgerichtsdirektor Barchewitz, führte in der Urteilsbegründung aus: Würden die Angeklagten lediglich den von ihnen behaupteten törichten, aber nicht zur Bestrafung führenden Zweck verfolgt haben, so würden sie damit aufgehört haben, als sie bemerkten, daß man Eichbaum beobachte. Daß sie ihren Plan nicht, wie sie behaupten, deshalb weiter auszuführen suchten, weil sie immer noch sehen wollten, ob nicht trotz allem Eichbaum das Narren der Leute weitergelingen würde, daß sie vielmehr einen anderen Zweck verfolgten, ergibt sich aus ihrem ferneren Verhalten. Sie suchten sich als weiteres Operationsfeld einen Juwelierladen aus. Sie geben nun zwar an, sie hätten ebenso gern z.B. einen Blumenladen gewählt. Sie hätten dies aber deshalb nicht getan, weil der Laden ein Telephon hätte haben müssen, damit die »Hofdame« durch das Telephon angemeldet werden konnte. Einen Blumenladen mit Telephon gebe es aber in Potsdam nicht. Das ist gerichtsnotorisch unrichtig. Der Angeklagte Eichbaum erwiderte auf die Frage des Juweliers, ob die Sachen nach dem Neuen Palais geschickt werden sollen, nein, er nehme sie mit. Das erstere hätte vollständig genügt, wenn es Eichbaum lediglich um das Narren des Juweliers zu tun war. Daraus, daß er erklärte: Er wolle die Sachen mitnehmen, sie sich zu diesem Zweck einpacken und zum Wagen bringen ließ, erhellt seine Absicht, die Sachen für sich zu behalten.[85] Daß er, wie er behauptet, die Absicht hatte, die Sachen wieder zurückzuschicken, hat ihm das Gericht nicht geglaubt. Es ist unverständlich, wozu er sie mitnahm, wenn er sie nicht behalten wollte. Zu seinem angeblichen alleinigen Zweck, den Juwelier zu narren, war das unnötig. Es kann nur angenommen werden, daß Eichbaum die von dem Juwelier zu erlangenden Gegenstände entweder verwerten wollte, um sich eine Einnahme zu verschaffen, oder daß er sie bei seiner Verkleidung als Frau als Schmuck verwenden wollte. Der Angeklagte Klemmt wußte das. Der Angeklagte Eichbaum ist nach den übereinstimmenden Gutachten der drei Sachverständigen erblich neuropathisch belastet und Transvestit. Nur Dr. Hirschfeld zweifelt infolgedessen an der Zurechnungsfähigkeit Eichbaums. Die beiden anderen Sachverständigen halten den Angeklagten zwar für geistig minderwertig, sind aber der Ansicht, daß seine freie Willensbestimmung nicht ausgeschlossen war. Der Gerichtshof hat sich dem Gutachten dieser beiden Sachverständigen angeschlossen. Die Angeklagten mußten deshalb wegen versuchten Betruges verurteilt werden. Bei der Strafzumessung ist dem Angeklagten Eichbaum seine geminderte Zurechnungsfähgkeit zugute gehalten worden. Strafschärfend fielen aber seine Vorstrafen und die Raffiniertheit seines Vorgehens ins Gewicht. Es muß in der Tat versucht werden, durch eine empfindliche Strafe seine geistige und sittliche Widerstandskraft zu stärken. Auch für den bloßen Betrugsversuch erschien daher die vom Schöffengericht erkannte Strafe von einem Monat Gefängnis als angemessene Sühne. Das gleiche gilt bezüglich der Strafe des Angeklagten Klemmt, bei dem lediglich mit Rücksicht auf seine bisherige Unbescholtenheit das Vorhandensein mildernden Umstandes angenommen worden ist.
Die Verteidiger legten gegen dies Urteil Revision ein. Der erste Strafsenat des Kammergerichts erkannte jedoch auf Verwerfung der Revision. Das Urteil wurde infolgedessen rechtskräftig. Ob Eichbaum die Strafe von einem Monat Gefängnis verbüßt hat, ist nicht bekannt geworden. Vor einigen Wochen wurde gemeldet: Eichbaum habe bei einem Juwelier in Wien, unter dem Vorgeben: Er sei preußischer Offizier und[86] Königlich Preußischer Kammerherr, dasselbe Betrugsmanöver wie in Potsdam versucht. Der Wiener Juwelier habe aber den Schwindel sehr bald durchschaut und Eichbaum festnehmen lassen. Eichbaum habe sich deshalb, ehe man es verhindern konnte, mit einem Revolver eine Kugel in den Kopf geschossen. Er wurde in bedenklichem Zustande als Polizeigefangener in ein Krankenhaus gebracht. Etwas weiteres ist bisher nicht zu erfahren gewesen.
1 | Wer sich für diese Materie speziell interessiert, den verweise ich auf das umfangreiche wissenschaftliche Werk: »Die sexuelle Osphresiologie«. Die Beziehungen des Geruchsinnes und der Gerüche zur menschlichen Geschlechtstätigkeit. Von Dr. Alb. Hagen (Eug. Dühren). 2. Aufl. Ferner auf »Taruffi, Hermaphrodismus und Zeugungsunfähigkeit.« Mit 40 interess. Abbild. 417 Seiten. Verlag von Herm. Barsdorf in Berlin W 30. Der Verfasser. |
Buchempfehlung
Von einem Felsgipfel im Teutoburger Wald im Jahre 9 n.Chr. beobachten Barden die entscheidende Schlacht, in der Arminius der Cheruskerfürst das römische Heer vernichtet. Klopstock schrieb dieses - für ihn bezeichnende - vaterländische Weihespiel in den Jahren 1766 und 1767 in Kopenhagen, wo ihm der dänische König eine Pension gewährt hatte.
76 Seiten, 5.80 Euro
Buchempfehlung
Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.
424 Seiten, 19.80 Euro