Auf der Straße

[109] Der moderne Verkehr stellt an Fahrer und Fußgänger einen so bedeutenden Anspruch an Aufmerksamkeit und Rücksicht, daß er in einem Ratgeber des guten Tons unbedingt zu besprechen ist.

Die Straße gibt ein genaues Bild der Daseinsbetätigung ihrer Zeit. Deutlich offenbart sich auf den Verkehrswegen, wie der Gesamtorganismus wächst. Im Straßenleben spiegelt sich die Kultur der Stadt, ihr Handel, ihr Reichtum, ihre politischen Zustände, die materiellen und sogar die geistigen Interessen ihrer Bewohner. Im Zeitalter des modernen Betriebes gewannen die Straßen der Städte für den Alltag eine Bedeutung, die ihnen im bisherigen Verlauf der Weltgeschichte nur für die Dauer wichtiger Ereignisse zukam. Nicht anders als ein großer Ameisenhaufen erscheint dem Luftschiffer die Stadt, in der kleine Wesen durcheinander wimmeln, scheinbar ohne Ordnung, ohne Regel, ohne System, doch in Wirklichkeit, wie die richtigen Ameisen, an Weg, Marschroute und bestimmte Gesetze gebunden.

Im feudalen Zeitalter konnte man sein Haus nur mit Schwert und Schild verlassen, um gegen Angriff geschützt zu sein, heute heißt es, die Augen aufmachen und die Verkehrsordnung kennen. Denn das Geheimnis[109] jeder Sicherheit ist Ordnung, jedes reibungslosen Verkehrs guter Ton. Deshalb fährt man auch am besten [in des Wortes wörtlichster Bedeutung] über die Straßen jener Städte, in denen die Polizei Ordnung hält ohne Pedanterie, und das Publikum sich gehorsam und freundlich den Regeln beugt. Rechts halten ist heute fast in allen Kulturländern Gebot und ein praktisches Verhalten des Einzelnen erleichtert das Abwickeln jeder Stauung. Älteren Leuten, welches Standes sie auch sind, muß der Jüngere, für den Verkehr besser gerüstete, stets hilfreich sein. Das ist Erfordernis des guten Tons geworden, seit die Straße in gewisser Beziehung durch Auto und Fahrrad Gefahrzonen enthält. Maschinen und Pferde, Chauffeure und Kutscher, Radfahrer und Aufsichtsorgane müssen den höchsten Anforderungen gewachsen sein, jeder Dilettantismus ist von Übel, jeder Leichtsinn bestraft sich selbst. Wer mitfährt, soll sich mit dem Wagenlenker nicht unterhalten, dessen Konzentrationsfähigkeit das Beherrschen des Blickfeldes vollkommen in Anspruch nimmt.

Seit die Tram dem Straßenleben seinen Charakter gab und den eleganten Equipagenverkehr in zweite Linie rückte, seit Rad und Auto dem schlanken Trab guter Pferde den Rekord abliefen, ist selbst die vornehmste Straße demokratisiert und bietet keinen Raum mehr für die stille Feierlichkeit vergangener Geschlechter. Wo man sich langsam fortbewegte und oft wichtige[110] Gespräche führte, dröhnt ohrenbetäubend der Lärm des Verkehrs, zwingt zu raschem Weitergehen und verändert das galante Benehmen Damen und älteren Leuten gegenüber. Dieser Verkehr erzieht zur Gewandtheit, zum raschen Erfassen der Situation und verlangt, daß man sich im Notfall über jede zeitraubende Etikette hinwegsetzt. Die moderne Welt hat den Unterschied zwischen Straße und Spazierweg geschaffen.

Die Straße dient dem Verkehr, der Park dem Schlendern, dem Spazierenfahren und -reiten. Der Verkehr besteht aber darin, von einem Ort möglichst rasch und ungehindert zu einem anderen zu gelangen. Stört jemand diesen Zweck, so verstößt er gegen den guten Ton und handelt rücksichtslos.

Es ist noch nicht lange her, daß der Spießbürger mit behaglicher Ruhe Stock und Schirm waagrecht unter den Arm steckte, stehen blieb, umständlich seine Zigarre anzündete und das Streichholz brennend aufs Pflaster warf, daß auf dem Schulweg die Knaben rauften und frohe Mädchenscharen Arm in Arm den Fahrdamm sperrten oder Studenten Straßemulk trieben. All das verschwand mit vielen romantischen Dingen und Provinzler, die ihre naive Behäbigkeit mit in die Großstadt bringen, spielen lächerliche Figur, denn das Problem des Drängens ist von neuzeitlichen Verkehrsbestimmungen aus der Welt geschafft. Wo Ordnung herrscht, führt der gute Straßenton auch die größte Menge reibungslos zusammen, d.h. aneinander vorbei[111] und zerstreut sie wieder ebenso. Darin zeigt eine Stadt, ja sogar der Staat, Größe und Kraft mit modernem Gebahren.[112]

Quelle:
Gleichen-Russwurm, Alexander von. Der gute Ton. Leipzig [o. J.], S. 109-113.
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