Bildungswesen

[34] Das Ideal eines nationalen Bildungswesens wäre dies: daß einem jeden Gelegenheit geboten würde, zu einem Maximum persönlicher Kultur und sozialer Leistungsfähigkeit nach dem Maß seiner Anlagen und seiner Willensenergie sich auszubilden.

Ein kleiner deutscher Junge, drei Jahre alt, fällt hin, steht wieder auf ohne die Miene zu verziehen, obwohl er sich weh getan hat und sagt der erschrockenen Mutter: »Ich bin ein Soldat, ein Soldat weint nicht.« Ein anderes mal wird er von größeren Buben verfolgt und gehänselt, richtet sich stolz auf und sagt: »Ein Herr wie ich haut nicht zu.« Dieser kleine deutsche Junge ist ein Beispiel guter Erziehung durch seine Selbstbeherrschung, er hat den guten Ton gemeistert. Schlechte Erziehung erzeugt Minderwertigkeitsgefühle, die sich in Überheblichkeit oder in peinlicher Verlegenheit äußern, gute Erziehung festigt von früh ab den Charakter, indem sie gesundes Ehrgefühl fördert und das Standesbewußtsein zur Norm richtigen Benehmens erhebt.

Indeß die Tierjungen stets eine vernünftige Erziehung zur Lebenspraxis erfahren, erziehen die Menschen ihre Jungen sehr oft unvernünftig, in Schule und Haus sind schon viele unglückliche Experimente gemacht worden, mit bester Absicht hat man Vieles verpfuscht. Das Soldatische, zu dem jeder[34] normale Knabe neigt, bietet gewiß wichtige Erziehungsmittel voll bleibendem Wert, doch der Knabe soll auch außerhalb von Reih und Glied Sicherheit in bezug auf sein Benehmen bekommen, wozu Beherschung des guten Tones beste Anleitung gibt.

Geht der gute Ton verloren, tritt (wie etwa nach dem 30jährigen Krieg) der Grobianismus ein, gegen den hinwiederum ein eher abgeschmacktes à la mode Stutzertum protestiert.

Zwischen Grobian und Zierbengel muß es eine Mittelstraße geben, auf der Wohlerzogene ruhig wandeln.

In der Mädchenerziehung hat sich viel mehr geändert als in der Knabenerziehung. Einst wurde viel Kulturgut dadurch gerettet, daß es Frauen höherer Stände bewachten, wie Vestalinnen das ewige Feuer, daß man von ihren Lippen immer wieder erfahren konnte, was sich ziemt, daß ihre Hände, die so manches Zarte schützten, zart sein sollten, seine heilende Hände. Unermeßlich sind die stillen Heilungen, die von den heilenden Händen also streng und edel erzogener weiblicher Wesen ausgingen, Jahrhunderte lang. Demungeachtet gab es auch männlich heldische Frauen, Jägerinnen, Reiterinnen, doch das eigentliche Ideal der Erziehung lag im Behüten jener Eigenschaf ten, die der Mann nicht aufzubieten vermag. Dieses Ideal verzwergte im bürgerlichen Jahrhundert dahin, daß man Mädchen oft nur zu Puppen und Püppchen erzog. Moderne Tragödien entstanden wie jene, die Ibsen in Nora, das Puppenheim behandelte.

Alltäglich tragisch gestaltete sich das Geschick durchaus unselbständiger weiblicher Wesen, die aus der Vormundschaft[35] der Eltern oder des Gatten gelöst, hilflos im Leben standen. Denn nicht nur war es nach damaligem Ermessen unstatthaft »aufgeklärt« zu sein, auch in allen praktischen Fragen und vor allem in Geldangelegenheiten mußte ein Mädchen besseren Standes unwissend sein, es galt als Verstoß gegen den guten Ton, sich für derartiges zu interessieren. Das dringende Zeitgebot selbständig zu sein hat diese Ansicht umgestoßen, und es kann heute einem weiblichen Wesen nichts dringender empfohlen werden als praktisch den Geldfragen und anderen prosaischen Angelegenheiten gegenüberzustehen, das Interesse für diese dem Interesse für Häkelmuster und Ähnliches weit voranzustellen.

Trotzdem verbietet es der gute Ton noch heute dem jungen Mädchen Gespräche über finanzielle Dinge zu führen, wenn sie sich nicht aus Notwendigkeit ergeben, wie er auch dem aufgeklärten Mädchen gebietet, nicht einzustimmen in Plaudereien und Witzeleien über ein heikles Thema. Wohlerzogenheit in dieser Beziehung ist nicht mehr durch gefährliche Unwissenheit verbürgt, sondern muß dem Taktgefühl entspringen, einem Sinn für Stil, der sich kaum in Werte fassen läßt. So gehört es zur Wohlerzogenheit, möglichst Klagen, Anklagen, Beklagen zu unterlassen, seine Redseligkeit einzudämmen, aber auch nicht der Gewohnheit stumpfen Schweigens zu verfallen.

Bei den meisten Völkern gab es jedoch für die Knaben, die künftig Krieger sein sollten, vom zarten Alter an abhärtende Erziehungsregeln, Gewöhnung an einfache Kost und Ertragen von Strapazen. Wo auch immer und sooft[36] in dieser Beziehung Verweichlichung eintrat, standen Geschichtsschreiber mit pädagogisch historischen Ermahnungen auf, ein Xenophon mit Verherrlichung der altpersischen Erziehung, ein Tacitus, der den Römern die Germanen pries, ein Rousseau, der Rückkehr zur Natur begehrte, ein Basedow und Pestalozzi. Heute ist es die Erziehung des Sports und zum Sport, die der Jugend Kraft, Ausdauer und Mut verleiht.

Philosophen und Staatsträumer gaben sich von jeher als Pädagogen und meinten offenbar, die Zukunft der Menschheit hinge von der Kunst des Erziehens ab. Sie stellten interessante Versuche an, wobei es sich ergab, daß viele bedeutende Männer sehr schlechte Schüler gewesen. Der Durchschnitt, die Mittelmäßigkeit fand jedoch stets in der Schule den richtigen Weg zu ihrer Entwicklung. Das ist natürlich und zweckentsprechend, denn das Genie steht außer der Regel. So mancher große Mann hat keine geordnete Erziehung genossen. Der Hohenstaufe Friedrich II. trieb sich als vernachlässigter Knabe bettelnd in den Gassen Palermos herum – der künftige Herrscher eines Weltreiches.

Aus solcher Lebensschule kann äußerste Härte und Rücksichtslosigkeit hervorgehen. Starke Persönlichkeiten schöpfen ihre Kraft zum Guten wie zum Bösen nicht aus Schulregeln, sondern aus dem früh begonnenen Kampf ums Dasein, Arbeit dort und da, Menschenstudien gepaart mit Bücherstudien. Ihnen lehrt das[37] Reiben und Stoßen an Widerständen das richtige Benehmen und nötige Wissen. Mit Mühe und Sparsamkeit errungene Bücher, die ein sich selbst erziehender, heranwachsender Mensch sich anschafft, geben Kraft und Saft, sie werden wirklich gelesen, wieder gelesen und stolz erfaßt.

Es besteht aber die Gefahr, daß solche warme und edle Begeisterung mehr und mehr abhanden kommt durch das Mechanisieren der Bildungsmöglichkeiten und das schöne Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler ausgemerzt wird.

Schon werden in Amerika viele Lehrkräfte maschinell ersetzt durch das Plappern des Radio, das man für vollkommen genügend hält, Kenntnisse einzulöffeln. Mag dies vielleicht gelingen und im technischen Zeitalter praktisch aussehen, es genügt nicht, wohlerzogene Menschen zu bilden, die vorbereitet sind in jeder Lebenslage den guten Ton zu bewahren, ihrer Kinderstube Ehre zu machen.

In Xenophons Kyropaedle, einem der ältesten historischen Romane, der die Kultur Altpersiens beschreibt und mit den Erfolgen des großen Kyros in Zusammenhang bringt, wird die Erziehung beschrieben. Sie ging vor allem auf den Adel der Gesinnung aus. Im Gegensatz zu Athen, wo bereits das Ansammeln von Kenntnissen, Bildungs- und Halbbildungsprobleme Hauptsache waren, schufen die Altperser eine Auslese und Erlesenheit im Erziehungswesen, die von den Knaben[38] alles Gemeine fernhielt. So war der Markt nebst allem Markten und Feilschen aus der Nähe der Schulhäuser verbannt. Das ausgesprochene Ziel der Erziehung lag darin, dem Sinn des Wohlerzogenen alles Gemeine unmöglich zu machen, als gar nicht denkbar auszuschalten. Knapp ironisch bemerkt Xenophon: »In den meisten Staaten wird Diebstahl, Raub, Mord verboten und jeder Verbrecher bestraft. Die persischen Gesetze suchen dagegen von vornherein zu verhindern, daß sich in den Bürgern das Verlangen nach einer schlechten und schimpflichen Handlung rege.« Die Kinder gingen in die Schule, »wo sie weiter nichts als Gerechtigkeit lernten. Dies wird auch von ihnen selbst als Zweck des Schulbesuches angegeben, gerade wie bei uns das Lernen der Elementarkenntnisse. Die Kinder sitzen ferner zu Gericht über ein Vergehen, um dessentwillen sich die Menschen am meisten hassen, aber am seltensten verklagen. Ich meine die Undankbarkeit. Erfahren sie, daß sich jemand undankbar benommen hat, so strafen sie ihn und zwar nicht gelind. Sie sind nämlich der Meinung, daß ein Undankbarer am ehesten seine Pflichten gegen den Himmel, die Eltern und das Vaterland und die Freunde vernachlässigt – –. Hier setzt die Fürsorge für die Wohlfahrt des Staates ein.«

In der modernsten Erziehungsmethode – ausgehend von England – beschäftigt man sich wieder mit solchen Gedankengängen angesichts der ungeheueren Gefahr, die aus der Verwahrlosung des jugendlichen Gemüts hervorgeht. Es scheint aber, als habe schon Goethe etwas von[39] dieser altpersischen Erziehungsphilosophie übernommen und den eigenen Zeitverhältnissen angepaßt. In jeder pädagogischen Provinz Wilhelm Meisters wird der Sinn auf Gerechtigkeit gelenkt und Wert gelegt auf dankbare Gesinnung, die mit Ehrfurcht zusamnnenklingt. Ehrfurcht ist Dankbarkeit für alles Edle und Schöne, dessen Verständnis in der Jugend zu wecken ist.[40]

Quelle:
Gleichen-Russwurm, Alexander von. Der gute Ton. Leipzig [o. J.], S. 34-41.
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