Vertrauen und Vertraulichkeit

[48] In der Vergesellschaftung des Menschen gehört Vertrauen zu den allerwichtigsten Dingen, und die größten Wunder, die er je geschaffen, schuf er im Zeichen des Vertrauens. Gottvertrauen, Vertrauen auf andere und Selbstvertrauen sind Pfeiler der Kultur. Gründung einer Familie, jeder Hausstand, Heimat und Heimat begriff setzen Vertrauen voraus, die Möglichkeit von Besitz und Treue ist damit verknüpft, Freundschaft und Gefolgschaft bedürfen seiner.

Von Vertrauen kommt »vertraut sein«, »Traulichkeit«, »Zutraulichkeit«, wobei auch unsere Lieblingstiere und Haustiere einbezogen werden, und die glückbringende Lebensform der Vertraulichkeit wurzelt darin. Guter Ton im vertraulichen Verkehr ist aber ein ausschlaggeben der Kulturmesser.

Man denke an den Höhlenbewohner, der gegen alles mißtranisch, wie ein wildes Tier behutsam spähend, aus seinem Schlupfwinkel tritt, dann an den bereits durch Zeremonien des guten Tons fortgeschrittenen »Wilden«, der die Möglichkeit eines höflich geregelten Verkehrs und ein gewisses Vertrauen bekundet, endlich an das gastfreie neunzehnte Jahrhundert, in dem gegenseitiges Vertrauen und Selbstvertrauen auf den Höhepunkt der Entwicklung angelangt waren. Von diesem Höhepunkt[48] ist der Mensch des 20. Jahrhunderts tragisch abgestürzt. Zum Wedererklimmen dieser Höhe ist, gleichsam als Stab und Stütze, ein Wiederbeachten des guten Tones – im öffentlichen wie im privaten Leben – unbedingt erforderlich und eine sorgfältige Auslese des Vertrauens geboten.

Nichts verbittert so sehr, nichts führt so unweigerlich herab zum verbitterten Menschenfeind als getäuschtes Vertrauen, nichts erhebt so gültig, wie Vertrauen zu erweisen und Vertrauen zu verdienen.

Man hat Versuche angestellt, Verbrecher durch Erweisen von Vertrauen zu heilen und es ist geradezu ein Kriterium, ob der Mensch eine Verbrechernatur hat oder nur durch Unglück aus Schwäche zu Übeltaten getrieben wurde, wie er auf diese Kur reagiert. Man hat auch gefunden, daß Kinder und Erwachsene, denen die Umgebung stets prinzipiell Mißtrauen entgegenbringt, dadurch demoralisiert werden. Es setzt seines Gefühl voraus, und zu einem solchen muß die Übung des guten Tones verhelfen, Vertrauen zu gewähren, soweit es sittlich notwendig und angebracht ist, dagegen bequeme Vertrauensseligkeit zu vermeiden, die unendlich viel Unheil anrichtet un privaten wie im öffentlichen Leben und ein Zeichen schlechten Tones ist.

Ein gewisser Grad von Vertraulichkeit darf nie mißbräuchlich zur Anwendung kommen, da wir uns damit hoffnungslos »vergeben«. Der englische Ausdruck für aufdringliche, ungebildete Vertraulichkeit heißt »gushing«[49] und bedeutet so viel wie übersprudeln, überlaufen, etwa wie unbewachte Milch auf dem Herd überläuft und dann unangenehm riecht. Zu solch ordinärem Benehmen gehört es, auf die Schulter zu klopfen, in die Rippen zu stoßen überhaupt mit den Händen den Worten unangenehm Nachdruck zu verleihen, »handgreiflich« zu werden.

Figürlich geschieht solches brutales Anbiedern, indem Leute, welche eine Sache gar nichts angeht, ins Vertrauen gezogen werden, intime Angelegenheiten anhören müssen, von naivem Redestrom belästigt und in Verlegenheit gebracht. Bedenklich ist meist das unüberlegte Anvertrauen, das »im Vertrauen« Zuflüstern von Dingen, die uns selbst anvertraut oder auch nur zu Ohr gekommen sind. Damit ist viel Wichtigtuen verbunden, und oft geht solch ein Klatsch, stets »im Vertrauen« weitergeflüstert, so lange um, bis er der Öffentlichkeit angehört, wo er dann viel Übel anrichtet.

Vertrauen ist eine Ehrung, die nicht jeder und jede verdient. Es sei nur mit großem Bedacht gespendet! Leider liegt es tief in der menschlichen Natur, vertraulich auszuplaudern, was verschwiegen bleiben sollte. Die Fabel hat recht, wenn sie erzählt, in Ermangelung anderer Vertrauten sei die Geschichte, König Midas habe Eselsohren, dem Schilf am Flußufer anvertraut worden und das Schilfgeflüster habe sie verraten. Ein späteres Sprichwort sagt, die Spatzen pfeifens auf dem Dach.[50]

Der gute Ton gebietet, sich stets des Vertrauens würdig zu erweisen, auch in den kleinsten, scheinbar belanglosesten Dingen, niemand durch ein zur Schau getragenes Mißtrauen zu kränken, aber auch niemand durch geschwätzig indiskrete Vertraulichkeit zu belästigen, oder in Besitz von einer Nachricht zu setzen, deren Verbreitung schädlich sein kann.

Bedeutende Menschen waren meist Schweiger und vorsichtig in ihrem Vertrauen. Von jeher gehörte zur Vornehmheit des Auftretens eine gewisse Zurückhaltung, die Gewohnheit, sich nicht billig zu geben und Scheu davor, sich und andere durch Geschwätz in unangenehme Lage zu bringen.[51]

Quelle:
Gleichen-Russwurm, Alexander von. Der gute Ton. Leipzig [o. J.], S. 48-52.
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