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[58] Familienrücksichten veranlaßten mich, für einige Zeit nach Budapest zu übersiedeln. Aber ich war noch kontraktlich ans CarlTheater gebunden. Wie loskommen? Zunächst ging ich nach Baden bei Wien und blieb dort vierzehn Tage ohne Theaterurlaub. Zurückgekehrt, ging ich auf meinen Platz ins Orchester, als ob nichts geschehen wäre. Da sagte mein Kollege Krottenthaler (Konzertmeister), der die Theaterverhältnisse genau kannte: »Wenn Sie bleiben wollen, dann tun Sie alles, um fortzukommen, man wird Sie festhalten; wollen Sie aber gehen, dann bereuen Sie und bitten Sie ab – man wird Sie entlassen.« Und so geschah es; ich bereute, entschuldigte mein Fortsein – und wurde entlassen.[58]
1858 ging ich nach (damals noch) Pest. Wenige Klavierstunden genügten für meinen bescheidenen Unterhalt.
Nun begann eine Zeit tiefsten, ernsten Studiums. Ich nahm Richters Lehrbuch des Kontrapunktes, auch Marx und Sechter zur Vergleichung, machte gewissenhaft täglich mein Pensum. In den eineinhalb Jahren, die ich da verblieb, arbeitete ich mich gründlich durch Kontrapunkt, Kanon und Fuge in allen Formen. Und da ich empfand, daß diese Arbeiten nicht bloß aus rein theoretischen Rücksichten notwendig, dieser Drill des Kopfes, diese Vertiefung und Kräftigung der Denkfähigkeit, der kompositorischen Tätigkeit im allgemeinen, das heißt der Vertiefung der Empfindung in melodischer Beziehung nützlich, ja notwendig waren, so behielt ich sie bei bis in mein spätes Alter.
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Lebhaft unterstützt wurde diese musikalische Vertiefung durch das Studium neuer, mir gänzlich fremder Werke. Und was stürmte da alles auf mich ein!
Zunächst vertiefte ich mich in das Wohltemperierte Klavier von Johann Sebastian Bach. Welch eine neue, herrliche, ungeahnte Welt erschloß sich mir da! Wie ganz anders wirkte dies Zeichen auf mich! Nicht bloß zur Vervollkommnung meiner kontrapunktischen Studien, vielmehr zur Vertiefung meines, durch elende Possenmusik so verflachten Stils trug er das meiste bei. Das intensive Studium der großen Werke Beethovens (dritte Periode), der Symphonien, Quartette, die ich nun im Quartettspielen selbsttätig aufs gründlichste kennen lernte, schloß sich hieran. Und so stand ich mit einem Male auf eigenen Füßen; der Mendelssohnismus war überwunden.
Die erste sichtbare Frucht dieser Umwandlung waren die Klavierstücke »Sturm und Drang« und das Klaviertrio in B-Dur. Beide in den Jahren 1858 und 1859 geschrieben.[59]
Ein junger Freund und trefflicher Geiger, J. Grün, später Konzertmeister an der Wiener Hofoper und ausgezeichneter Lehrer am Konservatorium, besaß eine schöne Sammlung klassischer Partituren. Ich entlieh sie von ihm – um sie nie mehr zurückzugeben. Als er sie zurückverlangte, sagte ich ihm: »Dir, lieber Freund, nützen diese Werke gar nichts mehr, liegen tot im Kasten, mir sind sie notwendig und ich kann sie mir nicht kaufen. Willst du sie einmal verkaufen oder verschenken, kannst du sie ja immer haben, bis dahin laß sie mir.« Und der treffliche Mensch war liebenswürdig genug, dies einzusehen und – er hat sie nie mehr zurückverlangt.
Aus diesen Partituren erweiterte ich wesentlich meine Orchesterkenntnis.
Durch Zufall kaufte ich auf einer Auktion für billiges Geld eine große Zahl guter Bücher. Sie bilden den Grundstock meiner kleinen, aber guten Bücherei, die den großen Vorzug hat, daß ich alles, was sie enthält, auch gelesen habe, und der ich auch meine weitere literarische Entwicklung verdanke.
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Dieser Aufenthalt in Pest, so fruchtbar er für meine innere musikalische Durchbildung war, so wenig Förderung erhielt ich von außen. Pest war damals eine musikarme Stadt. Der werdende Künstler (wohl auch der fertige) bedarf der künstlerischen Atmosphäre, in der er atmen und gedeihen kann. Diese fehlte mir und ich fühlte, daß ich hier nicht wachse.
Da meine materielle Lage auch eine ziemlich dürftige war, so beschloß ich nach Wien zurückzukehren, da sich dort ein neues, mächtiges, künstlerisches Leben zu regen begann. Um mir die Reisekosten zu verschaffen, gab ich ein Konzert, wieder mit eigenen[60] Kompositionen (das obenerwähnte Klavierquartett, Solostücke, Lieder usw.). Der mäßige Ertrag genügte für die Reise – nicht für mehr. Sommer 60 ging ich nach Wien. ohne vorläufig zu wissen, wie ich mich dort weiterbringen würde.
In Wien oder besser in der Zeit hat sich vieles geändert. Das nackte Virtuosentum, der reine Personenkultus herrschte unumschränkt vom Jahre 1830, kaum daß Beethoven und Schubert die Augen geschlossen, bis zu seinem Erlöschen Anfang der Sechzigerjahre. Es gab keine Orchesterkonzerte mehr, die Concerts spirituels waren eingegangen, ebenso die einzigen Quartette Jansas (1847), der exiliert war. (Er hatte in London in einem Konzert zum Besten ungarischer Flüchtlinge gespielt und mußte dort bleiben. Nach etwa dreißig Jahren kehrte er zurück, spielte in einem eigenen Konzert – achtzigjährig – die Kreutzersonate noch wundervoll. Zwei Jahre darauf starb er.)
Wien war überflutet von Solokonzerten aller Art – von der Posaune bis zur Gitarre. Und merkwürdig! Im Konzertsaale, in der Stadt Franz Schuberts, hörte man kein Lied, nur Opernarien, wenn überhaupt gesungen wurde. Die Virtuosen liebten es, das ganze Programm allein zu besorgen. Im Opernhause herrschte vorwiegend Donizetti, Bellini, Rossini, Meyerbeer und regelmäßige italienische Stagione – allerdings mit großen Gesangskünstlern des bel canto. Wer nicht beispielsweise Calzolari gehört hat, kann sich freilich kaum einen Begriff dieses herrlichen bel canto machen.
Die Konzerte Franz Liszts begannen erst nach dem Theater, um zehn Uhr, im kleinen Musikvereinssaale (Tuchlauben), meist zehn bis fünfzehn Konzerte hintereinander. Es war eine Galaauffahrt einer vornehmen, aristokratischen Gesellschaft. Ebenso Thalberg, Dreyschock, Willmers, Jaell – wer zählt sie alle...[61]
Aber schon in den Fünfzigerjahren begann ein Aufdämmern, ein lebhafter Umschwung des Zeitgeschmackes.
Der ausgezeichnete Dirigent Karl Eckert, Kapellmeister an der Hofoper, nahm die seit Nicolais Abgang erloschenen philharmonischen Konzerte in dem herrlichen, stimmungsvollen kaiserlichen Redoutensaal wieder auf. Und da sollte ich einen jener Eindrücke erleben, die man als Höhepunkte seines geistigen Lebens bezeichnen darf.