Die Neunte Symphonie

[62] Die Neunte Symphonie stand auf dem Programm. Ich schlich mich in die Generalprobe, zu der niemand Zutritt hatte, auf die Galerie. Der Saal im Dämmer. Klopfenden Herzens saß ich da in Erwartung. Das Stück begann – und als es endete, liefen mir in tiefster Erschütterung die Tränen über die Wangen. Kann man denn nach der Entwicklung der letzten 60 Jahre, wo selbst schon so vieles Moderne überwunden scheint, sich heute noch eine Vorstellung machen von der erschütternden Gewalt des ersten Begreifens dieses so lange für unmöglich gehaltenen Werkes? Gewiß, die gegenwärtige Generation kann nach allem, was wir künstlerisch erlebt haben, sich keine Vorstellung davon machen. Mit Wehmut gedenke ich der Worte unseres sonst so trefflichen Lehrers Gottfried Preyer: daß Beethoven bei diesem Werke nicht mehr ganz klaren Geistes war. Man wird solchen Geistern überhaupt nur ganz gerecht, wenn man sie in ihrer künstlerischen Entwicklung, auch in historischem Zusammenhange betrachtet. So wird man der Größe Raffaels sich erst ganz bewußt, wenn man ihn – mit einigen Übergängen als unmittelbaren Nachfolger Giottos und Cimabues ins Auge faßt. So auch Beethoven und speziell dieses[62] Werk in seiner Entwicklung gegenüber der G-Moll- oder Jupiter-Symphonie von Mozart – die Höhepunkte ihrer kurz vorhergegangenen Zeit. Aber welche Entwicklung in Form und dem lebensvollen, fast dramatisch bewegten Inhalt!

Nun ist allerdings die Neunte Symphonie lange vor Mendelssohn geschrieben, aber sie war tot und wir standen noch ganz im Banne Mendelssohns. Und nun denke man – von dieser Stufe aus das erste Begreifen dieses Ungeheuerlichen, Überwältigenden; das war kein Aufdämmern, sondern eine ungeahnte, erschütternde Offenbarung. Nun mag es zehnmal durchfallen, sagte ich mir, dieses Werk nimmt mir niemand mehr. Nicht das Werk – nur das Publikum kann durchfallen.

In diesen Konzerten hörte ich schon »Fee Mab« und später vieles andere von Hektor Berlioz, das mir eine neue Orchesterwelt erschloß.


*


Gegen Ende der Fünfzigerjahre trat noch ein für die musikalische Umgestaltung Wiens wichtiges Ereignis ein! Die Gründung des Quartetts Hellmesberger.

Josef Hellmesberger war ein ausgezeichneter Geiger. In jungen Jahren, 1845 oder 46, hörte ich von ihm das große E-Dur-Konzert von Vieuxtemps vortrefflich spielen.

Will man zurückschauend der ganzen Virtuosenzeit einigermaßen gerecht werden, so muß man gestehen, daß sie, so sehr sie eine Ursache oder eine Folge der so verflachten Zeit war, doch die Technik auf allen, auch Orchesterinstrumenten, auf eine außerordentliche Höhe brachte und so kunstgeschichtlich eine notwendige Mission, die vollendete Darstellung großer, schwerer Werke sowohl in der Kammer-als auch in der Orchestermusik erfüllte. Ich brauche nur Werke wie die lange unmögliche[63] Neunte Symphonie, die letzten Quartette Beethovens, die Orchesterwerke Hektor Berlioz', Richard Wagners und der hervorragenden Nachfolger hier anzuführen. Hellmesberger gab die Virtuosenlaufbahn auf und widmete seine Geige ausschließlich der edlen Kammermusik. Seine Technik mag heutzutage von manchem zwölfjährigen Wunderkinde in Schatten gestellt werden, aber er war ein Musiker, wie er mir in solcher Fülle kaum wieder begegnet ist. Diese Ansicht hat auch Brahms bewundernd oft zu mir geäußert.

Sein Spiel war von hinreißender Wärme, seine Auffassung klar, geistvoll, in das innere Wesen dringend, unterstützt von einem wundervollen, feinfühligen Gehör. Im Orchester, wo er mehrere Jahre als Konzertmeister in der Hofoper saß, war sein feinfühliges Ohr unschätzbar, er hörte im ärgsten Lärm eine falsche Note der 2. Klarinette.

Eines Tages (1862) brachte ich mein neues Streich- Quartett zur ersten Probe. Während des Spiels erscheint der Orchesterdiener mit der Frage, was er für die Orchesterprobe der Zöglinge auflegen solle? Fortspielend, sagte er dem Diener: »Legen Sie die Symphonie – Cis – Dobyhal« schrie er. – Er hatte, fortspielend, mit dem Diener redend, in dem ihm gänzlich unbekannten Stück eine falsche Note der Bratsche korrigiert, die ich in dem schnellen Tempo überhört hatte. In der ersten Aufführung meiner Frühlingshymne im Gesellschaftskonzert überspringt die Sängerin Karoline Bettelheim in der Aufregung zwei Takte Pausen. Ich, dirigierend, rufe ihr zu: »Zu früh!«; sie hört nicht. Aber Hellmesberger, der nur eine Probe mitgemacht hat, merkt sofort, was geschehen ist, gibt dem Orchester ein auffallendes Zeichen, überspringt zwei Takte, spielt die Pianostelle auffallend stark, das herrliche Orchester horchte auf – und folgte ihm. Wir waren gerettet. Nur wer eine Ahnung von der hilflosen[64] Verzweiflung des Dirigenten in solchen Momenten hat, wird auch das Dankgefühl ermessen für solche Rettung.

Diese Quartette hatten enormen Zulauf. Man hörte nun Quartettspielen in ganz anderer Weise, und zwar ebensosehr was, als auch wie gespielt wurde. Er probierte sehr viel. Bei den Generalproben waren die Zimmer von andächtig lauschenden Kunstfreunden gefüllt. Man hatte bis dahin nur Haydn, Mozart und den mittleren Beethoven. Hellmesberger wendete sich allem guten Neuen zu. Mendelssohn, Schumann, Volkmann, Raff, Brahms und anderen – und die Hauptsache, der letzte Beethoven wurde aufgeführt. Er war es, der die sieben Siegel von den Sibyllinischen Büchern brach. Diese Aufführungen waren Sensationen. Folgende kleine, die damaligen Wiener musikalischen Zustände illustrierende Episode erzählte er mir einmal. Eines Tages schickte er zu dem Verleger Witzendorf, in dessen Händen sich damals der Nachlaß Franz Schuberts befand, die Anfrage, ob nicht ein Manuskript-Quartett von Franz Schubert vorhanden sei. Witzendorf ließ zurücksagen: Er bedaure, es sei »leider« (!) nur ein Trio vorhanden.

Diese Quartette blieben durch fünfzig Jahre bildend und richtunggebend für Wien. Der Einfluß dieser edlen Kunstgattung in poesieverklärter, vollendeter Ausführung ist in seiner instruktiven Wirkung auf das Publikum gar nicht abzuschätzen.


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Noch ein anderer Umstand trug wesentlich bei zur Verbesserung des so lange verrotteten Kunstgeschmacks – von dem ich nicht sagen kann, ob er eine Folge oder nur eine Begleiterscheinung dieser Quartettaufführungen war. Fast in jedem guten Wiener Bürgerhause wurden jetzt die Kinder gut musikalisch erzogen;[65] treffliche Pianisten- und Quartettvereine allüberall. Infolgedessen hat Wien ein musikalisch-feinfühliges, hochgebildetes Publikum in Konzert und Oper, dessen kunstverständiges Urteil nur selten trügt. Allerdings gibt es auch da, wie in allen großen Städten, einen gewissen Snobismus, der bei allem, was Mode ist, an der Spitze steht, am wenigsten versteht und am meisten schreit. Aber das geht nicht in die Tiefe – der Kern ist gesund.

Die wiedererwachten Musikvereinskonzerte unter dem genial veranlagten Herbeck, ebenso die philharmonischen Konzerte unter Hans Richter, später Dessoff, nahmen glänzenden Aufschwung. Auch das längst verklungene Lied Franz Schuberts zog endlich mit Stockhausen wieder in seine Vaterstadt. Hörte man früher hie und da in Familien ein Lied von Schubert – selten genug – so war es in einer unglaublich zimperlich-gezierten, zopfigen Art. Da erschien Stockhausen! – und brachte die Seele Schuberts mit. So hatte man noch nie Lieder singen hören. Der Eindruck läßt sich nicht beschreiben. Auf Treppen und Gängen stand horchend das Publikum, das nicht mehr in den überfüllten Saal konnte. Nun wußte man wie und was Schubert sang. Mit Stockhausen kamen wieder Liederkonzerte. In einem Konzerte der trefflichen Liedersängerin Helene Magnus (Frau Dr. von Hornbostel) saß ich neben Bauernfeld. Sie sang »Alinde« von Schubert. Da wendet sich Bauernfeld mit den Worten zu mir: »Das war unser Liebling – i hab's dreißig oder vierzig Jahr nit ghört.« Es war in der Tat zum erstenmal öffentlich gesungen in Wien.


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Man kann sich heute in unserer musikalisch so gesättigten, überfluteten und wohl auch schon überreizten Gegenwart keine[66] Vorstellung machen von dem fast jungfräulichen, enthusiastischen Aufblühen dieser neuen, so reichen Zeit. Aber was drängte sich da alles zusammen! Der lang verschüttete, ausgegrabene Schubert, der noch wenig bekannte Mendelssohn, der noch gar nicht bekannte Schumann, Richard Wagner, Berlioz, die Reihe der jüngeren: Volkmann, Raff, Brahms und andere, und vor allem – der ganz letzte Beethoven! Es war, als hätte man in stickiger Luft eines festgeschlossenen Zimmers plötzlich die Fenster geöffnet und erquickende Frühlingshöhenluft strömte herein. In den dreißig Jahren von 1830-60 hörte man von größeren Chorwerken alljährlich abwechselnd nur die »Schöpfung« und die »Jahreszeiten« von Haydn, und zwar in dem akustisch unmöglichen alten Burgtheater. 1847 fand ausnahmsweise eine Festaufführung des »Elias« zu Ehren Mendelssohns in der Winterreitschule statt. Da kam die erschütternde Nachricht von seinem Tode. Tausend Ausführende standen auf dem Podium. Das Dirigentenpult in Trauerflor. Mendelssohn sollte dirigieren. An seiner Statt dirigierte Schmiedel. Ich saß an der Geige. Von der Aufführung habe ich weder einen Eindruck noch sonst eine Erinnerung behalten.

Nun hatte man den neuen Musikvereinssaal, der Singverein wurde geschaffen; es kamen endlich die nicht minder unbekannten großen Konzerte J. S. Bachs und G. F. Händels in würdiger Darstellung.

Quelle:
Goldmark, Karl: Erinnerungen aus meinem Leben. Wien, Berlin, Leipzig, München 1922, S. 62-67.
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