[131] Eines Tages, 1879, erhielt ich einen Brief aus Turin. Der Sohn des Impresario (Deponi) des dortigen königlichen Theaters schrieb mir, er habe die »Königin von Saba« aus dem Klavierauszuge kennen gelernt, sei begeistert, sein Vater wolle die Oper aufführen. Ich hatte natürlich nichts dagegen. Nach Wochen erscheint der Kapellmeister (Pedrotti), der Maler, der Maschinenmeister des dortigen Theaters im Auftrage der Verlagsfirma Lucca in Mailand, die die Oper für Italien erwerben wolle.[131]
Die genannten Herren kamen nach Wien, zu sehen und zu hören. Die Darstellung war – die Darsteller hatten zum Teil gewechselt – äußerst schlecht und verschlampt. Pedrotti hielt sich nicht daran, die Aufführung in Turin wurde vereinbart, ich schloß den Vertrag mit der Firma Lucca in Mailand, der mich auch verpflichtete, die Oper in Italien zu inszenieren, da es in Italien keine eigentlichen Regisseure gibt. Es hängt dies mit dem Wesen des Stagione-Theaters zusammen. Orchester und Chor sind meist stabil; die Sänger (Solisten) werden für eine bestimmte Oper gewählt und verpflichtet, aber der Regisseur nach unseren Begriffen existiert nicht. Gewöhnlich besorgt dies der Ballettmeister (!!). In Rom war es der Feuilletonist (»appendeciste«) einer größeren Zeitung (!). Möglicherweise ist es heute nach dreißig Jahren schon anders. Vor zwei Jahren (1908) führte ich mein »Wintermärchen« selbst in Turin auf – ich fand noch keinen Regisseur daselbst, wohl aber einen jungen Kapellmeister (Seraphi), der nicht bloß ein trefflicher Dirigent, sondern auch ein ganz genialer Regisseur war.
Im Winter 1880 kam ich nach Turin. Ich fand ziemlich gute Kräfte. Chor und Orchester sehr gut, Assad, Königin, beide schon etwas passé, aber treffliche Künstler. Sulamith große Stimme, aber unintelligent. In Pedrotti fand ich einen liebenswürdigen Menschen und tüchtig gebildeten Musiker, nicht mehr jung, aber voll Feuer und Enthusiasmus, original und ganz Italiener. (Er schrieb die viel gegebene Oper »Tutti in meschera«.) Bei der Stelle »Magische Töne« (Assad, zweiter Akt) schwamm er bei der Probe in Entzücken und, sich an die Musiker wendend, rief er ein-über das anderemal: »Quel melodia! una vera Belliviana!« Wurde irgend ein Fehler gemacht, so donnerte er: »Corpo di madonississisima.« Zwei Musiker schwätzten bei einer zarten Gesangsstelle. Pedrotti schreit sie an: »Non avete [132] vergogna per un maestro straniero?« (Schämt ihr euch nicht vor dem fremden Meister?) In der ersten Vorstellung machten zwei Herren in der ersten Parkettreihe, die nur durch eine Schnur vom Orchester getrennt ist, bei den fremden Harmonien des Lockrufes Astarots laut die Bemerkung: »Das ist ja falsch.« Pedrotti dreht sich wütend um und schreit sie mit den Worten an: »Das ist nicht wahr, ihr versteht nichts.« – Im Vorspiel zum zweiten Akt (Nachtstück und Festmusik) hatte ich das zweite Stück falsch mit »mäßig« bezeichnet; es wurde schon in Wien weggelassen. Pedrotti wollte es jedoch spielen und spielte es.
Bei der ersten Aufführung kam er ins Feuer, er wollte vorwärts, aber die Pauke hielt das ganze Orchester zurück, sie wollte nicht folgen. Da haut er so heftig auf das Messingplättchen des Pultes (in Italien allgemein üblich) und hetzt das ganze Orchester in ein so tolles, rasend schnelles Tempo, daß die Bläser mit ihren nachschlagenden Noten kaum folgen konnten. Ich stand händeringend hinter dem Vorhang und dachte, da gibt's Zischen und Pfeifen. Aber es kam anders. Das Publikum sprang auf, applaudierte und schrie wie rasend: »Bis.« Die Bläser hatten kaum Zeit, das Wasser aus ihren Instrumenten zu schütten. Es wurde wiederholt und so durch sechzehn folgende Abende. Nun wußte ich, wie es gemacht wird – auch anderwärts.
Das Theater ist akustisch schlecht und dmnps, aber das Publikum im Gegensatz zu vielen anderen italienischen Städten sehr ernsthast. Es ging ihm vielleicht bei erstem Anhören manches verloren, aber es hatte Respekt vor deutscher Musik Von der Verschiedenheit deutscher und italienischer Theater und ebenso des Publikums sollte ich noch manches Charakteristische und Heitere erleben.
Die Dekorationen wurden nach Angabe des Buches gemalt, wurden aber erst, wie fast immer, in der Generalprobe aufgestellt. Der Vorhang zur Tempelszene hebt sich, und ich sehe zu meinem Entsetzen den Vorhof des Tempels – offenen Himmel – gemalt, statt des Innenraumes mit seinen siebenarmigen Leuchtern und dem mystischen, sich später öffnenden Allerheiligsten, der Bundeslade. Der Maler hat im Gegensatze zum Buche sich einfach an das bekannte Bild Raffaels, »Sposalizio«, gehalten. Wir waren einen Tag vor der Aufführung, es war nichts zu machen und – es machte auch nichts. Das Allerheiligste mit der Bundeslade öffnete sich – unter freiem Himmel (!). Niemand nahm hieran Anstoß.
Auch mit meinem Italienisch kam ich damals noch oft ins Gedränge. Die Stadt, die den Theatern Subvention zahlt, hat einen gewählten Aufsichtsrat, Ehrenämter. Einer dieser Räte, ein hervorragender Maler, war mit den Wiener Kostümen nicht einverstanden. Er erklärte mir dies in halbstündiger Rede, sprach aber so schnell, wie nur Italiener reden. Ich hatte schon so viel Italienisch gelernt, um meine Oper notdürftig in Szene setzen zu können, aber diesem Redestrom war ich nicht gewachsen. Vergebens gab ich mir Mühe, nur ein Wort zu erfassen, um was es sich handle. Am Schluß fragte er mich: »Avete capito?« »Kein Wort«, sagte ich gelassen. Ein wütender Blick – und weg war er.
Eine vornehme Dame, Marchesa Andrea, gab allsonntäglich nach der Messe in ihrem Hause eine Quartett-Matinee, eine Rarität in Italien. Mein B-Dur-Quartett wurde gespielt, und zwar vorzüglich. Ich saß neben der Marchesa. Auf ihre Frage, wie ich die Aufführung finde, sagte ich: »Ich bin entzückt.« Die Dame wird rot, sah verlegen weg, die Unterhaltung war zu Ende. Auf dem Heimweg erzählte ich die Geschichte Pedrotti,[134] der auch anwesend war. Er lachte fürchterlich auf und sagte: »Unglücklicher! Du sagtest statt »entzückt« »ich bin wollüstig« (dilettivo). Nun war das Lachen meinerseits.«
Meinen lieben Pedrotti sah ich später noch zweimal. Er kam zut Premiere der »Saba« nach Bologna; auf einer Reise nach Row traf ich ihn in Verona, seiner Heimat. Er wurde Direktor des Luzeums in Pesaro und hat sich bald darauf ertränkt. Ich bewahre dem Trefflichen ein treues Andenken.
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Von Turin ging ich nach Genua; ich wollte Verdi aufsuchen. Der Kapellmeister des dortigen Operntheaters, das auch die »Königin von Saba« schon erworben hatte, war von meiner Verlegerin Lucca in Mailand von dieser meiner Absicht verständigt und gebeten, dies zu vermitteln. In Genua angelangt, ging ich abends ins Theater. Man gab eine jener in Italien jährlich erscheinenden Opern, die im nächsten Jahre verschwunden sind. Das Haus war entsetzlich leer. Kaum vierzig Menschen im ganzen großen Theater. Der Kapellmeister sah und erkannte mich, kam gleich an die Brüstung, und wir verabredeten den Besuch bei Verdi.
Nun sollte ich eine Szene erleben, wie sie, wie ich glaube, nur in Italien oder im weiten Westen, Nordamerika, möglich ist, wo man im Zuschauerraum Zettel angeheftet findet mit der Bemerkung: »Es wird gebeten, auf die Schauspieler nicht zu schießen – sie tun ihr Möglichstes.« Im Parkett waren kaum zwanzig Personen, sämtliche Logen leer, bis auf eine, in welcher sich vier junge Leute befanden.
Eine junge, bildhübsche Sängerin tritt auf und singt vortrefflich. Da beginnen die vier Herren in der Loge ein leises[135] Vogelgezwitscher, das immer anwächst, stärker und stärker, bis es ein heftiges Gepfeife wird; hierauf blöken sie (immer während des Gesanges) wie Schafe und Rinder. Vom Parkett schreit man hinauf: »Alla porta!« Die oben rufen dasselbe hinunter. Es war ein Heidenskandal. Der Vorhang mußte, die Vorstellung endlich unterbrechend, fallen. Kaum war dieser unten, applaudierten und schrien die oben und auch alle anderen wie toll. Der Vorhang hebt sich wieder, die Sängerin erscheint, um zu danken, wohl auch um weiter zu singen. Aber im selben Augenblicke abermals Blöken, Grunzen, Pfeifen aus der Loge. Das arme Mädchen, das mich dauerte, ging weinend ab.
Anderen Tags erkrankte ich auf das schwerste. Der Brief kam, ich sollte zu Verdi, aber ich lag acht Tage schwer krank. Kaum aus dem Bette, verließ ich Genua, ohne Verdi gesehen zu haben.
Ich ging über Pisa, seine Herrlichkeiten zu sehen, nach Florenz, besuchte die Galerien Pitti-Uffizien, wo ich im ganzen sieben Stunden verblieb. Geschwächt und angegeissen, wie ich war, wäre ich fast rezidiv geworden.
Nach kurzem Besuche des schönen Fiesole S. Miniato ging's nach Venedig. Als ich dort angelangt in die Hotelgondel stieg, die mich vom Bahnhof abholte, stieg auch ein Herr mit mir ein. Wir fuhren im hellen Sonnenschein durch den Canale grande. Mir entschlüpfte der Ausspruch: »Ein Märchen!« »Ach, Sie sind ein Deutscher«, sprach mich der Herr an, und auch ich freute mich, einen Deutschen zu finden. Er war ein Sänger vom Hoftheater in Karlsruhe und Freund Dessoffs, damals auch dort angestellt. Anderen Tages besuchte ich die Akademie. Ich wollte, gewarnt von Florenz, nichts anderes mehr sehen als die Assunta von Tizian.
Waren es meine kunstgeübten Augen oder die geschwächten Nerven, aber ich hatte von Malerei nie einen größeren Eindruck[136] empfangen als von diesen unbeschreiblich ergreifenden, zu Gottvater in Verzückung aufblickenden Augen der hinanschwebenden Gottesmutter. Welche künstlerische Emanation des Gemütes, welche Energie der Empfindung gehört dazu, solche Vorstellung zu empfangen und welches Können, sie restlos wiederzugeben! Nassen Auges, tief erschüttert verließ ich den Saal. Ich hatte kein Verlangen, noch ein anderes Bild zu sehen – und sah auch keines.
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Im Oktober des Jahres 1880 kam die »Königin von Saba« und infolgedessen auch ich kontraktgemäß nach Bologna. Das Teatro communale ist akustisch das glänzendste, das ich überhaupt kenne. Die matte, schon ausgesungene Stimme Assads klang hier jugendfrich, den überquellenden Orchesterklang konnte ich nicht genug abdämpfen. Es ist gar nicht zu berechnen, wie weitreichend der Einfluß dieses alles verklärenden, idealisierenden Wohlklanges auf die Stimmung der Sänger, auf den Glanz, die Vollendung der Aufführung, der Kunstpflege und mithin der Kunstliebe des Publikums sich darstellt. Das Publikum Bolognas gilt auch, und, wie ich wahrnahm, mit Recht, als eines der gebildetsten in Italien.
Die Stagione sollte, wie fast überall, mit der, »Regina di Saba«, eröffnet werden. Wir probten vormittags und abends. Der Chormeister lud mich ein, die Chöre anzuhören. Ich kam, und der Chor sang die erste Szene mit der Sulamith: »Der Freund ist dein«, aber noch ohne Sulamith, der melodieführenden Oberstimme, klang es unvollständig, eindruckslos. Einige machten den schüchternen Versuch, zu applaudieren, aber da brach der ganze Chor in heftiges Zischen aus. Da ich die Ursache wußte, freute mich und imponierte mir auch diese ungeschminkte Impulsivität.[137]
Bei der nächsten Ensembleprobe sang die Sulamith diese Szene mit, und nun applaudierte der ganze Chor wie rasend.
Der stabile Chor besteht zumeist aus kleinen Handwerkern und Arbeitern, für welche das Theater nur ein Nebenverdienst ist. Der Chormeister versicherte mir, daß die Hälfte des Chores keine Noten kennt; sie lernen und singen alles a memoria. Nun denke man, welche musikalische Anlage dazu gehört, die Prügelszene aus den »Meistersingern« taktfest ohne Notenkenntnis zu erlernen.
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Acht Tage vor der Aufführung kam die Darstellerin der »Königin«, Fräulein Turolla, ein bildschönes Mädchen von kaum zwanzig Jahren. Sie war die letzte Stagione gefeierte Primadonna an der Scala in Mailand. Während schon alle Künstler mit voller Stimme sangen, markierte sie nur, verlangte hier eine Änderung, dort eine Kürzung, da eine Transposition usw., schien im ganzen etwas hochmütig. Dabei hatte ich ihre Stimme noch nicht gehört. Ich wurde verstimmt und sagte kurz: »Liebes Fräulein! Die Rolle ist für Mezzosopran geschrieben, wurde von solchen bisher überall gesungen. Sie sind für diese Rolle engagiert und mußten sie ja schon vorher gekannt haben – ich ändere nichts.«
Ziemliche Verstimmung allgemein.
Da stand sie auf – wir waren bereits im dritten Akt – und sang nun mit voller Stimme die Szene mit dem König. Und ich war so hingerissen, daß mir die Augen naß wurden. Ich nahm ihre beiden Hände und sagte: »Sie sind eine große Künstlerin; verlangen Sie, was Sie wollen, ich ändere alles, was Sie wünschen.« Da umarmte sie mich lachend mit den Worten: »Keine Rede, caro maestro, es war nur die dumme Furcht vor dem[138] strengen deutschen maestro.« Und sie war eine der herrlichsten Darstellerinnen der »Königin«, die ich kannte. Viel später kam sie auch nach Wien; sie gefiel auch hier außerordentlich, aber die so wundervolle Stimme war leider rasch verblüht.
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Im Frühling 1881 ging ich mit Brahms und Billroth nach Rom. Die beiden zu ihrem Vergnügen, ich zu meinem Mißvergnügen, zur Inszenierung meiner »Königin von Saba« am Apollo-Theater. Unser erster gemeinsamer Weg war in die Kirche Pietro di Vincolo zum Moses Michelangelos. Ich war starr vor Bewunderung. Diese erhabene Auffassung menschlicher Größe, einer Heldenseele, eines Blickes, der über Tausende gebieterisch hinwegzusehen scheint. Ich kannte das Bildwerk ja nach vielen Abbildungen, aber das ist dagegen, wie wenn man den Montblanc auf einer Ansichtskarte sieht. Ich murmelte so vor mich hin: »Hieher gehe ich jeden Tag.« Brahms, der es hörte, sagte: »Na, gehen Sie doch mal erst in den Vatikan.« Ich ging nächsten Tag in den Vatikan, und ich ging nicht mehr zum Moses. Welch ein verwirrender Reichtum des Herrlichsten. Durch vierundzwanzig Tage brachte ich täglich einige Stunden daselbst zu. Eines Tages stand ich vor der entzückenden Jünglingsgestalt, der Reincarnatione in Anschauen versunken, als plötzlich vier Männer in von Goldbrokat strotzenden Livreen, eine ebenso adjustierte Sänfte tragend, erschienen, deren Absicht ich mir nicht erklären konnte. Da öffnete sich an der Schmalseite des länglichen Saales die Wand. Man sah in einen langen Saal oder Korridor. Eine Anzahl Leute harrten hier der Audienz beim Papst. Da hinein schritten die Sänftenträger, offenbar um den Papst abzuholen. Dieser Zufall schaffte mir die günstige Gelegenheit,[139] da der Saal eine Zeitlang offen blieb, die hier hängenden berühmten »Areazzi«, Gobelins nach Raffaels Entwürfen (ausgeführt von seinen Schülern), zu sehen.
Eines Nachmittags fuhren wir hinaus in die Campagna, ein frisch aufgedecktes vorchristliches Grab zu besehen. Wir stiegen hinab in zwei Grabkammern, die nur zwei große leere Granitsärge enthielten. Interessant waren die Wände – übersät von Figuren in Stuck, vollendete chromierte mythologische Darstellungen. Billroth meinte: »Und sowas machte damals vor zweitausend Jahren das Kunsthandwerk.« – Als wir, die engen, schmutzigfinsteren Straßen des Ghetto durchschreitend, spielende, kräftige Buben sahen, machte Brahms die Bemerkung, es müsse mit der Ungesundheit hier doch nicht so arg sein, worauf Billroth sagte, das sei kein Beweis, das sei nur die Auslese, die übrig bleibt; das Schwächliche gedeihe hier nicht und sterbe ab.
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Brahms und Billroth waren nach Sizilien gereist. Das Theater konnte nicht eröffnet werden, da der Impresario schon in der ersten Woche meiner Anwesenheit starb, ich blieb, um Rom zu genießen.
Auf eine Frage an Thorwaldsen, wie lange man in Rom bleiben müsse, um alles gesehen zu haben, meinte dieser, das könne er nicht sagen, da er erst sechsunddreißig Jahre daselbst lebe. Da ich so lange nicht Zeit hatte, beschränkte ich mich auf das Notwendigste – durch dreiundzwanzig Tage war ich, wie schon bemerkt, zwei bis vier Stunden täglich im raccio nuovo. – Ich hatte bis dahin noch nicht erfahren, daß auch die Plastik eine seelenvolle, ergreifende Kunst sei. In Wien sah es damals in dieser Kunst – wenigstens öffentlich, ziemlich dürftig aus.[140]
Als ich in diese Säle trat mit ihrem verwirrenden Reichtum der herrlichsten Werke der Antike, hatte ich das Gefühl eines Barbaren, der in europäische Kultur tritt. Auch in anderen Galerien hatte ich mich mit bildender Kunst vollgesogen. Es scheint ein weit verbreiteter Irrtum, die Sehnsucht der Nordländer nach Italien in dessen landschaftlicher Schönheit zu suchen. Darin kann es trotz Campagna und Albanergebirge mit unseren Alpenlandschaften keinen Vergleich aushalten.
In erster Reihe ist es wohl das heitere, sonnige Leben, die liebenswürdige Bevölkerung, das dolce far niente, das auch auf den Nordländer so anziehend wirkt, dann die großartigen, so reich aufgestapelten Kunstschätze; schließlich der Zauber der so eigenartigen Städte selbst. In Deutschland gleicht ein Stadtbild, trotz verschiedener Schönheiten im einzelnen, doch im allgemeinen so ziemlich dem anderen, mit wenig Ausnahmen (Nürnberg, Salzburg). In Italien ist fast jede Stadt eine Individualität für sich. Man vergleiche Pisa, Bologna (die Arkadenstadt), Venedig, Florenz, das unvergleichliche Rom, Neapel, Siena, Orvieto und andere. Welche Mannigfaltigkeit, Originalität schon des äußeren Bildes.
In Orvieto sollte ich auch ein Beispiel echt italienischer Liberalität in Glaubenssachen und religiöser Zeremonie erleben, wie sie bei uns wohl nicht denkbar wäre.
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Die berühmte römische Osterwoche kam heran mit ihrem kirchlichen Pomp und Glanz. Die Sixtinische Kapelle blieb geschlossen, denn der gefangene Papst zelebrierte nicht. Das berühmte Miserere hörte ich nicht. Aber in einer der großen Seitenkapellen der Peterskirche, um deren Besuch allein eine Reise nach Rom[141] sich lohnt, hörte ich eine Messe von Baini. Die Responsorien in den Lamentationen wurden abwechselnd von einem alten Kastraten (wohl dem letzten, ich glaube mit Namen Caraffa) und einem Tenor gesungen, einer der süßesten Stimmen, die ich je gehört habe.
Es kamen die stillen Feiertage. Da sagte mir der Kapellmeister, der meine Oper dirigieren sollte und sie schon in Bologna dirigiert hatte, der später berühmt gewordene Luigi Mancinelli (Coventgarden, London): »Hier ist nun nichts mehr los, komm mit mir nach Orvieto (zwei Bahnstunden) und bringe die Feiertage bei meiner Familie daselbst zu.« Ich ging nach Orvieto.
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Auf der horizontalen, ebenen Fläche eines Paßkegels liegt das alte etruskische Städtchen Orvieto, berühmt durch seinen Dom mit den Fresken, dem Fegefeuer Lucianos, mit der herrlichen Fassade, heilige Legenden darstellend (in breiten Bändern meterhohe chromierte Figuren in natürlichem, verschiedenfarbigem Marmor). Schon in Rom sah ich in den Stanzen ein Zwickelbild Raffaels, die Messe von Bolsena darstellend. In dem einige Stunden entfernten Bolsena hatte der Geistliche im Messelesen plötzlich bemerkt, daß Blut aus der Hostie auf das Altartuch floß. Er berichtet dies an den Papst (Raffael hat an Stelle dieses den Papst Julius II., seinen Auftraggeber, in das diesen Vorgang darstellende Zwickelbild gemalt). Der Papst kommt nach Bolsena, sieht die roten Flecken auf dem Altartuche, erklärt es für ein Wunder, für das Blut Christi und gelobt, wo auf der Heimreife die Pferde von selbst stehen bleiben werden, zum Gedächtnis dieses Wunders eine Kirche zu bauen. Die Pferde liefen bergan nach Orvieto, und die Kirche wurde hier gebaut. So die Legende.[142]
Am Nachmittag vor Ostersonntag sagte mir Mancinelli: »Gehen wir in die Kirche, es ist musikalisches Hochamt, hören wir.« Dieses war sehr feierlich. Ein Bischof zelebrierte am Hochaltar, umgeben von zahlreicher Geistlichkeit (Mönche) in den Chorstühlen zu beiden Seiten. Auf dem Chor in der Höhe die Sänger im kirchlichen Ornat. Der Tenor sang eine Arie aus Lucrezia, der Bassist antwortete als Fortsetzung (in der untern Dominante) mit einer aus Belisario. Der ganze große Altarraum war mit einer Marmorbalustrade abgeschlossen, auf der ein zerlumpter Junge rittlings saß und durch eine Papierdüte die Sänger in drolligster Weise imitierte. Niemand nahm hieran Anstoß; niemand wehrte dem Knaben.
Die Stadtbewohner, Bürger, Weinbauern standen in Gruppen zusammen, unterhielten sich laut und lebhaft über Ernte, Vieh, Wein und Marktpreise und kümmerten sich nicht im mindesten um den heiligen Vorgang am Altare. Eine junge Frau – wohl das Stärkste – saß am Boden an eine Säule gelehnt und gab ihrem Säugling die offene Brust. Auch hieran fand niemand Anstößiges.
Da kam ein junger Geistlicher und sagte meinem Begleiter: »Du, Gigi, komm mit, ich zeige dir was Interessantes.« Wir traten in eine Seitenkapelle. Wir sahen einen hohen Schrank, zu dem hinauf rechts und links hölzerne Freitreppen führten. Wir stiegen hinan. Auf dem Plateau vor dem Schrank oben angelangt, öffnete er zwei Flügeltüren des Schrankes. Wir sahen innen einen vergoldeten Kasten, er rollte diesen auf die Plattform heraus, sperrte die innern Flügeltüren dieses Schreins auf, und wir sahen eine senkrecht gespannte, alte, grobe Leinwand. Mit einer Wachskerze beleuchtete er die roten Blutflecke auf derselben. Es war das hierher gestiftete Altartuch der »Messe von Bolsena«. Während er uns den oben geschilderten[143] Vorgang vom »Wunder« erzählte, erschien der Bischof mit dem ganzen Kapitel, und er wartete, bis der junge Geistliche oben seine Erzählung beendigt hatte, dann gingen wir rechts hinunter, der Bischof links hinauf, kniete nieder und verrichtete vor dem heiligen Tuche seine Gebete. Das feierliche Hochamt galt dem Gedächtnistage dieses Wunders.
Im nächsten Jahre (1882) kam nun doch die Aufführung der »Königin von Saba« in Rom, und ich mußte abermals hin, die Oper inszenieren. Die Besetzung zu meinem Entsetzen schlecht. Dabei ereigneten sich die lächerlichsten, oft ärgerlichsten Dinge, an denen niemand Anstoß nahm. Bei der Dekorationsprobe zum Wästensturm (Samum) bemerkte ich, daß der Prospekt für die Lichtwirkung nicht entsprechend gemalt war; die dahinstürmenden optischen Flammen (glühende Sandwolken) machten keine Wirkung. Ich äußerte dies einem Theaterkomiteemitglied neben mir im Parkett. »Das macht uns gar nichts. Alles das sagt uns schon die Musik, und wenn nicht, dann wäre sie schlecht.«
Bei dem Einzugsmarsch sollten die tanzenden oder Geschenke tragenden Mohrenkinder geschwärzt als Morelli erscheinen. Hände und nackte Beine waren geschwärzt, aber die schwarzen Drahtgesichtsmasken wurden vergessen, und nun tanzten sie mit rotglühenden Gesichtern, schwarzen Händen und Beinen. Niemand verwunderte sich darüber.
In der Tempelszene habe ich zur Verstärkung der zwei mächtigen Akkorde des Halleluja, da der Chor zu schnell hinstürzt, wenn das Allerheiligste sich öffnet, acht Posaunen hinter einer niederen Parapetmauer im Tempel unsichtbar aufgestellt. Bei der Generalprobe bemerkte ich das Fehlen dieses Versatzstückes. Der Maschinenmeister beruhigte mich, es werde in der Aufführung nicht fehlen. Der Abend kam, der Vorhang rauscht in die Höhe – und aufgepflanzt stehen im Vordergrunde acht militärische[144] Bandista in ihren italienischen Uniformen, mit ihren Bombardons und Ophikleiden um den Hals gewunden – im salomonischen Tempel. Es war, um Krämpfe zu kriegen. Niemand beachtete es.
Eine sehr störende Eigenheit ergibt sich aus den besonderen italienischen Theaterverhältnissen. Es gibt keine verantwortliche Theaterleitung, es gibt keine Autorität, keinen Direktor, an den man sich im Notfalle wenden kann, denn der Impresario, zumeist nur Geschäftsmann, nimmt nur wenig, meist gar keine Ingerenz auf die Aufführung, ist selten bei den Proben. Die Folge dieses Zustandes ist auch, daß bei den Bühnen-, besonders letzten Proben die ganze hintere Bühne von Straßenpublikum gefüllt ist. Die Frauen strickend, die Männer schwatzend, sitzen und stehen herum und stören so die Probe. Und niemand wehrt es. Ich habe es oft schmerzlich empfunden – am meisten in Rom.
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Wie sehr der Erfolg in Italien von der Qualität der Sänger abhängt, sollte ich verschiedene Male erfahren. In Turin guter Erfolg – 16 Aufführungen. In Mailand (Scala) schöner Erfolg; nach einigen Jahren wiederholt – mäßig. In Rom das erstemal schwächer, nach fünfzehn Jahren wiederholt, glänzende Einnahmen. Genua gut, Venedig mäßig. Triest, erste Aufführung mit guter Besetzung außerordentlicher, im nächsten Jahre wiederholt, schlechter Erfolg. Bologna 15 Aufführungen, »Mignon« sollte folgen, versagt. »Saba« mußte wieder retten, 28 Aufführungen en suite. Im nächsten Jahre wiederholt mit gleich günstigem Erfolge. Das Schicksal von Opern ist überhaupt eigenartig. So wurde »Saba« in Wien, Budapest (ungarisch), Dresden, Hamburg, Prag weit über huntertmal, in München, Stuttgart, Bremen vier- bis achtmal gegeben. In Berlin (Hofoper) nach[145] 50 Aufführungen verschwunden, ist sie bis heute (dreißig Jahre) nicht wieder dort erschienen.
Von Rom zurückkehrend, wollte ich das herrliche Siena besuchen, ersuchte den Kondukteur, mich in Siena (Mitternacht) zu wecken. Der gute Mann vergaß und ich erwachte des Morgens in Florenz. Mein Koffer träumte in Siena weiter; ihn zu erhalten, hatte große Schwierigkeiten. Ich mußte die unfreiwillige Reise für uns beide nachzahlen, aber den Koffer erhielt ich nicht. Nachdem ich in zehn Ämter vergebens geschickt wurde, erbarmte sich ein Beamter, der sich für »Saba« in Bologna begeistert hatte, und nach drei Wochen erhielt ich meinen Koffer in Wien.
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