Besuche.

[29] Ob es sich um Antritts- oder Abschieds-, Neujahrs-und sonstige Gratulationsbesuche oder um Dank-, Kondolenz- und Krankenbesuche handelt, immer werden sie zum Prüfstein für unsere Formengewandtheit und unser gesellschaftliches Talent. – Ueber Besuchsregeln ließe sich ein Buch schreiben. Die elementarsten Kenntnisse sollten freilich schon in der Kinderstube gelehrt und namentlich geübt werden; denn nur die stete Uebung gibt unserem Auftreten jene imponierende Sicherheit und Ruhe, unseren guten Formen jene diskrete Verborgenheit, die niemals aufdringlich, sondern nur wohltuend und angenehm wirkt.

Um grobe Verstöße zu vermeiden, erkundige man sich nach der ortsüblichen Besuchsstunde, die stets von dem Zeitpunkt der Hauptmahlzeit abhängen wird. Für intimere Besuche gelten die Nachmittagsstunden von 3 bis 6 Uhr.

Außer Kranken-, Kondolenz-, Gratulations- und Dankbesuchen werden Besuche nur auf Einladung gemacht oder an Empfangstagen. Sonst muß angefragt werden, schriftlich oder telephonisch oder indem man seine Visitenkarte durch eine Dienstperson hinschickt.

Nach einer Einladung zum Speisen oder zur Jause wird man innerhalb von 8 Tagen seine Karte zur Besuchsstunde abgeben, außer man hat die betreffende Person auch eingeladen und sie hat angenommen.[30]

Für erwiesene Gefälligkeiten stattet man innerhalb einer Woche einen Dankbesuch ab, der ohne Erwiderung bleibt.

Eine Dame hat auf ihrer Visitenkarte nie die gedruckte Adresse und gibt bei Herren niemals Karten ab. Sie kann an Herren Karten schicken zu Neujahr, bei Ordensverleihung, Beförderung und Kondolenzen.

Damen können während des ganzen Monats Januar Neujahrsbesuche machen. Die ersten drei Januartage aber bleibt jede Dame zu Hause und empfängt die Besuche der Herren.

Bei Krankenbesuchen erkundigt man sich erst persönlich oder durch den Diener nach dem Befinden und ob Besuche empfangen werden. Wenn ja, mache man einen kurzen Besuch, bei dem man Blumen mitzubringen hat. Ungefähr 2 Wochen nach der Genesung muß dieser Besuch erwidert werden.

Bei Kondolenzbesuchen darf man niemals nach dem Befinden der Trauernden fragen und von dem Verstorbenen nur reden, wenn die Familie davon anfängt.

Bei all diesen Besuchen haben sich Kleidung und Mienen dem Charakter des Besuches anzupassen. Bei Kondolenzen dämpft man seine Stimme, trägt dunkle Kleidung und wenigstens schwarze Handschuhe.

Auf Gegenbesuche hat nicht zu rechnen die jüngere Person der älteren, die geringere der vornehmeren gegenüber, ebenso nicht der Untergebene dem Vorgesetzten und der Herr der Dame gegenüber.


Man unterschätze bei dieser Gelegenheit nicht die Bedeutung der Kleidung. Die Sorgfalt und Schönheit unseres Anzuges ist ja nicht bloß der Gradmesser[31] unserer Wertschätzung, die wir dem Besuchten gegenüber zum Ausdruck bringen, sondern unsere Kleidung beeinflußt auch unsere Stimmung: das Bewußtsein, daß unser Anzug in jeder Beziehung tadellos ist, erhöht die Sicherheit des Auftretens und die Leichtigkeit und Grazie der Bewegungen.

Die Beherrschung der äußeren Formen führt noch nicht zum Ziel, wenn unserem Auftreten jene innere Ruhe und Sicherheit fehlt, die aus der Selbstachtung und dem Bewußtsein unserer eigenen Würde entspringt. Dies hindert uns nicht liebenswürdig und bescheiden zu sein, bewahrt uns aber vor jenen Unsicherheiten und jener Art von Servilität, die innerlich haltlose Menschen oft an den Tag legen.

Menschen, deren Benehmen nicht getragen und geleitet wird von Takt und Würde, die sich bloß von angelernten Regeln führen lassen müssen, werden immer mehr oder weniger versagen, wenn unvorhergesehene Zwischenfälle an sie herantreten, während ein innerlich gefestigter Mensch über solche Situationen in würdiger Form hinweggleitet, selbst wenn ihm die äußeren Formen einmal nicht so geläufig sein sollten. Zu den äußeren Besuchsvorschriften gehört folgendes: Man fragt, ob die betreffende Persönlichkeit zu sprechen sei. Ist dies nicht der Fall, so gibt man dem Dienstboten seine Visitenkarte – am linken Rand eingebogene Karte bedeutet den gemachten Besuch. Regel ist, für jede Person, der wir unsern Besuch zugedacht hatten, eine Karte abzugeben. Damen hinterlassen jedoch nur für jedes weibliche Familienmitglied eine Karte. Herren geben für die jungen Mädchen einer Familie keine Karte ab, Ehepaare aber schon.[32]

Hat man ein Angehöriges der Familie vor sich, so nennt man seinen Namen und sagt: »Ich wollte mir erlauben Ihrem Herrn Vater einen Besuch zu machen. Darf ich Sie bitten ihm das zu sagen und meine Empfehlung zu übermitteln!« Mit einer eleganten Verbeugung ist die Sache abgetan. Karten hinterläßt man in diesem Fall nicht.

Sollte es vorkommen, daß uns die Person, der unser Besuch zugedacht war, selbst öffnet, so stellt man sich mit einer Verneigung vor und sagt: »Ich wollte mir erlauben Ihnen einen Besuch zu machen.« Immer hat dann der Besuchte mit ein paar liebenswürdigen Worten seiner Freude über unser Kommen Ausdruck zu geben und uns in das Empfangszimmer zu geleiten. Führt ein Dienstbote in den Salon, so kann man, wenn man vorher nicht angemeldet war, jetzt seine Karte überbringen lassen. Herren haben, bevor Sie den Salon betreten, Ueberrock, Schirm oder Stock abzulegen; sie treten mit dem Hut in der Hand ein, den sie dann auf einen geeigneten Platz niederstellen, wenn er ihnen nicht vom Hausherrn abgenommen wird.

Ist die betreffende Person bereits im Salon anwesend, so machen die Herren an der Türe eine tadellose Verbeugung, wobei sie nochmals um die Erlaubnis bitten ihre Aufwartung machen zu dürfen. Für den Besuchten ist es nun eine dankbare Aufgabe, durch die ganze Art der Begrüßung das Gespräch einzuleiten und ihm die Richtung zu geben.

Man verwechsle Ehrerbietung und vornehme Zurückhaltung nicht mit unpersönlicher Steifheit und langweiligem Wesen und Natürlichkeit nicht mit einem Sichgehenlassen in Wort und Gebärde. Besuche[33] sind eine ausgezeichnete Gelegenheit seine Gewandtheit in der Konversation zu zeigen. Je mehr unserem Wesen und unserem Sprechen der Eindruck der Selbstverständlichkeit und Ungezwungenheit anhaftet, umso besser haben wir unsere Aufgabe gelöst und umso sympathischer wird der Eindruck sein, den wir hinterlassen.

»Der Weg hat mich gerade bei Ihnen vorbeigeführt ...« oder »Ich wußte heute gar nicht recht, was ich anfangen sollte ...« Mit solchen und ähnlichen Redensarten, die in Gedankenlosigkeit oder Verlegenheit ihren Grund haben, sagt man dem Besuchten eine grobe Taktlosigkeit, indem wir ihn und seine Zeit gerade für gut genug ansehen, um unseren müßigen Stunden einen Inhalt zu geben. Nervöses Spielen der Finger mit irgend einem Gegenstand wirkt entweder lächerlich oder wird uns als infantile Unerzogenheit angekreidet.

Die Dauer unseres Besuches hängt von dem Grade der Intimität ab, die uns mit dem Besuchten verbindet. Haben wir Höhergestellten Besuch gemacht, so haben wir es Ihnen zu überlassen, das Ende der Unterhaltung zu bestimmen. Sie tun das meist mit verschleierten Worten und Gesten; von unserer Geschicklichkeit hängt es ab, dies im gegebenen Moment richtig zu verstehen. Eine Gesprächspause gilt als ein solch verhülltes Zeichen zum Aufbruch, vor allem aber die Anmeldung eines anderen Besuches. Auch wenn der Besuchte einen Moment das Zimmer verläßt und sich hernach nicht mehr setzt, so haben wir dies als Entlassung anzusehen.

Aber an dem Besucher liegt es nun, den Aufbruch nicht als zu plötzlich und brüsk erscheinen[34] zu lassen, indem er ihn durch einige Phrasen einleitet, z.B. »Ich will Sie nun nicht länger mehr stören.. ich habe die Ehre mich zu empfehlen..«

Herren verbeugen sich an der Türe noch einmal, ehe sie die Hand an die Klinke legen, und gehen rückwärts hinaus. Je vornehmer der Besucher, desto weiter hat man ihn hinaus zu geleiten. Der Besucher hat jedoch die Begleitung abzulehnen, wenn noch andere Besucher im Salon sind. – Herren setzen den Hut erst auf, wenn der Besuchte nicht mehr sichtbar ist.

Erleichtert aufzuseufzen, wenn ein Besucher weggegangen ist oder ihn als Gegenstand der Unterhaltung zu benützen, zeigt groben Bildungsmangel.

Sind schon Besucher im Salon anwesend, so wäre es diesen gegenüber taktlos, einen Neuankommenden auffallend herzlicher zu begrüßen, als man die anderen begrüßt hat. Alle unsere Gäste sind, solange sie in unserem Salon verkehren, gleichberechtigt. Unserem Takt und unserer Gewandtheit bleibt es unbenommen, Rang und Altersunterschiede durch diskrete Nuancen zum Ausdruck zu bringen. Auch die Besucher unter sich haben ihre Zu- und Abneigungen zu verschleiern.


Die Person, die abreist, hat zuerst zu schreiben. Kommt man an einen fremden Ort, wo Bekannte wohnen, so hat man bei diesen die Karte abzugeben und erst daraufhin ihren Besuch zu erwarten. Dasselbe gilt auch bei der Rückkehr vom Lande.

Hat man ein Landhaus gemietet oder gekauft, kann man bei den Nachbarn Besuch machen, ohne sie zu kennen.

Quelle:
Gratiolet, K. (d.i. Struppe, Karin): Schliff und vornehme Lebensart. Naumburg a.S. 1918, S. 29-35.
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