Das Vorstellen.

[26] Erst durch die gegenseitige Vorstellung ist das gesellschaftliche Verhältnis hergestellt. Wer in Gesellschaft nicht vorgestellt ist, den kennt man nicht und mit dem spricht man für gewöhnlich auch nicht. Nur auf Reisen, z.B. im Eisenbahnwagen, kann eine Unterhaltung angeknüpft werden, ohne daß man sich gleich vorstellt. Doch im übrigen Verkehr ist sie unter Gebildeten unerläßlich. Selbst wenn wir auf der Straße ansprochen werden, haben wir das Recht zu fragen: Mit wem habe ich die Ehre?

Neben dem Grüßen ist das Vorstellen und Vorgestelltwerden die häufigste Gelegenheit, sich als formgewandter Mensch einzuführen. Meist vermittelt die Vorstellung gleich den ersten und manchmal auch einzig maßgebenden Eindruck von einem Menschen. Viele empfinden die Vorstellung als einen unangenehmen Moment und werden dabei ein Gefühl der Unsicherheit und Verlegenheit nie recht los. Das kommt daher, weil sie die Situation nicht beherrschen, weil ihnen die Regeln und Formen nicht vollkommen geläufig sind.

Man stellt nicht zu hastig vor und vergißt niemals: daß

die jüngere Person der älteren,

die geringere der höheren,

der Herr der Dame,

die Unverheiratete der verheirateten Frau vorgestellt wird, auch wenn diese Witwe oder geschieden oder viel jünger ist.[27]

Der Name derjenigen Person, die man vorstellt, wird zuerst genannt; denn die nach Alter und Rang höherstehende hat das Recht früher über die andere orientiert zu werden.

Es gibt Fälle, in denen eine einseitige Vorstellung genügt, oder sogar geboten ist. Wenn sich ein Herr einer Dame selbst vorstellt, so wird diese ihren Namen nicht nennen; denn sie darf annehmen, daß der Herr sie bereits kennt, da er ein Interesse hatte, ihre Bekanntschaft zu machen. Ein Neigen des Kopfes ist ihre Erwiderung. Auch wenn sich junge Personen viel älteren oder im Range höherstehenden vorstellen lassen, so wird ihnen deren Name nicht genannt, da man voraussetzt, er sei allgemein bekannt. Die vermittelnde Person wird nur sagen: Herr Geheimrat, der junge Herr X. bittet um die Ehre, Ihnen vorgestellt zu werden, oder: Frau Gräfin, darf ich mir gestatten, Ihnen Fräulein v.R. vorzustellen? Im letzten Falle hat die junge Dame einen Knicks zu machen und zu warten, bis man ihr die Hand entgegenstreckt. Ein Herr darf nie einer Dame die Hand entgegenstrecken. Erfolgt die Vorstellung im Salon, so reicht ihm die Dame die Hand, auf der Straße kann sie dies auch unterlassen. Auch das junge Mädchen reicht Herren zuerst die Hand, es müßte denn ein sehr bedeutender Alters- oder Rangunterschied vorliegen, wie es z.B. bei hohen Staatsbeamten, hohen Geistlichen, berühmten Gelehrten und fürstlichen Personen der Fall ist.

Werden fast gleichalterige Mädchen und Frauen einander vorgestellt, so entscheidet die Stellung des Vaters oder Gatten. Bei gleichem Rang und Alter wählt man auch die Formel: Darf ich bekannt[28] machen .....? Allerdings muß dann auch ein Name zuerst genannt werden, aber die einleitende Formel betont doch die gesellschaftliche Gleichberechtigung.

In ähnlicher Weise ist auch zu verfahren, wenn man z.B. ein älteres Fräulein einer sehr jungen verheirateten Frau vorstellt. Es ist Sache der gesellschaftlichen Gewandtheit und Geistesgegenwart, bei der Vorstellung sofort jede Situation richtig zu überblicken, Alter und Rang und auch Charakter der in Betracht kommenden Personen richtig einzuschätzen, damit man keine durch grobe Verstöße verletzt. Den Anfang einer Unterhaltung erleichtert es sehr, wenn man dem Namen und Stand der vorgestellten Person noch irgend eine verbindliche Bemerkung anknüpft, z.B.: Darf ich Ihnen Frau X. vorstellen, die Mutter jener reizenden Kinder ....

Quelle:
Gratiolet, K. (d.i. Struppe, Karin): Schliff und vornehme Lebensart. Naumburg a.S. 1918, S. 26-29.
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