§. [155] 110.

Daneben sah ich, daß die Wirkungen krankhafter Schädlichkeiten, welche vorgängige Schriftsteller von arzneilichen Substanzen aufgezeichnet hatten, wenn sie in großer Menge aus Versehen, um sich oder Andre zu tödten, oder unter andern Umständen in den Magen gesunder Personen gerathen waren, mit meinen Beobachtungen beim Versuchen derselben Substanzen an mir selbst und andern gesunden Personen viel übereinkamen. Besagte Schriftsteller erzählen diese Vorgänge als Vergiftungsgeschichten und als Beweise des Nachtheils dieser heftigen Dinge, meistens nur, um davor zu warnen, theils auch, um ihre Kunst zu rühmen, wenn bei ihren, gegen diese gefährlichen Zufälle gebrauchten Mitteln allmälig wieder Genesung eingetreten war, theils endlich, wo diese so angegriffenen Personen in ihrer Cur starben, um sich mit der Gefährlichkeit dieser Substanzen, die sie dann Gifte nannten, zu entschuldigen. Keiner von diesen Beobachtern ahnete, daß diese, von ihnen bloß als Beweise der Schädlichkeit und Giftigkeit dieser Substanzen erzählten Symptome, sichere Hinweisung enthielten auf die Kraft dieser Droguen, ähnliche Beschwerden in natürlichen Krankheiten heilkräftig auslöschen zu können, daß diese ihre Krankheits-Erregungen, Andeutungen ihrer homöopathischen Heilwirkungen seyen, und daß bloß auf Beobachtung solcher Befindensveränderungen, welche die Arzneien in gesunden Körpern hervorbringen, die einzig mögliche Erforschung ihrer Arzneikräfte beruhe, indem weder durch vernünftelnde Klügelei a priori,[155] noch durch Geruch, Geschmack oder Ansehen der Arzneien, noch durch chemische Bearbeitung, noch auch durch Gebrauch einer, oder mehrer derselben in einer Mischung (Recepte) bei Krankheiten, die reinen, eigenthümlichen Kräfte der Arzneien zum Heilbehufe zu erkennen sind; man ahnete nicht, daß diese Geschichten von Arzneikrankheiten dereinst die ersten Anfangsgründe der wahren, reinen Arzneistoff-Lehre abgeben würden, die vom Anbeginn bis jetzt nur in falschen Vermuthungen und Erdichtungen bestand, das ist, so gut als gar nicht vorhanden war95.


95

Man sehe, was ich hievon gesagt habe in: Beleuchtung der Quellen der gewöhnlichen Materia medica, vor dem dritten Theile meiner reinen Arzneimittellehre.

Quelle:
Samuel Hahnemann: Organon der Heilkunst. Nach der handschriftlichen Neubearbeitung Hahnemanns für die 6. Auflage, Ulm 1958, S. 155-156.
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