|
Es ist unmöglich, das innere Wesen der Krankheiten und was im Verborgenen durch sie im Körper verändert ist, zu errathen, und thöricht, auf solche hypothetische Vermuthungen und Annahmen deren Cur bauen zu wollen; es ist unmöglich, die Heilkräfte der Arzneien nach chemischen Hypothesen oder nach Geruch, Farbe oder Geschmack zu errathen, und thöricht, nach solchen hypothetischen Vermuthungen und Annahmen diese (beim Missbrauch so schädlichen) Substanzen zur Cur einer Krankheit anwenden zu wollen. Und wäre ein solches Verfahren auch noch so gebräuchlich gewesen und noch so allgemein eingeführt, auch wohl seit Jahrtausenden das einzig beliebte, so bliebe es dennoch ein widersinniges und verderbliches Verfahren, nach leeren Vermuthungen sich das Krankhafte im Innern des Körpers zu erdichten und es mit eben so erdichteten Kräften der Arzneien zu bestreiten.[3]
Erkennbar, deutlich erkennbar muss das unsern Sinnen offen da liegen, was an jeder Krankheit hinwegzunehmen sey, um sie in Gesundheit zu verwandeln, und deutlich wahrnehmbar muss jede Arznei aussprechen, was sie zuverlässig heilen könne, ehe sie gegen Krankheit angewendet werde, wenn die Arzneikunst aufhören soll, ein leichtfertiges Würfelspiel um Menschenleben zu seyn, und anfangen soll, die gewisse Retterin aus Krankheiten zu werden.
Ich werde zeigen, was sich an Krankheiten unläugbar Heilbares uns darbietet und wie die heilenden Kräfte der Arzneien deutlich wahrzunehmen und zum Heilzwecke anzuwenden sind.
Was Leben sey, ist bloss aus dessen Aeusserungen und Erscheinungen empirisch erkennbar, durch metaphysische Speculationen aber, a priori, durchaus nicht zu erdenken (construiren); was Leben an sich und in seinem innern Wesen sey, lässt sich nie von Sterblichen einsehen, noch durch Vermuthungen erreichen.
Das Leben des Menschen, so wie sein zwiefacher Zustand (Gesundheit und Krankheit) lässt sich nach keinen, bei Erklärung anderer Gegenstände gebräuchlichen Grundsätzen erklären, lässt sich mit Nichts in der Welt vergleichen, als mit sich selbst; nicht mit einem Räderwerke, nicht mit einer hydraulischen Maschine, nicht mit chemischen Processen, nicht mit Gas-Zersetzungen und Erzeugungen, nicht mit einer galvanischen Batterie, mit nichts Unlebendigem. Das Menschenleben geht in keiner Rücksicht nach rein physischen Gesetzen vor sich, die nur in unorganischen Substanzen walten. Die materiellen Stoffe, aus denen der menschliche Organismus zusammengesetzt ist, folgen in dieser lebenden Verbindung nicht mehr den Gesetzen, denen die materiellen Stoffe in[4] leblosem Zustande unterworfen sind, sondern folgen bloss den der Vitalität eignen Gesetzen; sie sind nun selbst beseelt und belebt, so wie das Ganze beseelt und belebt ist. Hier herrscht eine namenlose, allgewaltige Grundkraft, die allen Hang der Bestandtheile des Körpers, den Gesetzen des Druckes, des Stosses, der Kraft der Trägheit, der Gährung, der Fäulniss u.s.w. folgen zu wollen, aufhebt und sie bloss unter jenen wunderbaren Gesetzen des Lebens eitet und beherrscht, das ist, sie in dem zur Erhaltung des lebenden Ganzen gehörigen Zustande von Empfindung und Thätigkeit, in einem fast geistig dynamischen Zustande erhält.
Da also der Zustand des Organism's und sein Befinden bloss von dem Befinden des ihn belebenden Lebens abhängt, so folgt, dass das veränderte Befinden, was wir Krankheit nennen, ebenfalls ein nicht nach chemischen, physischen oder mechanischen Hinsichten, sondern ursprünglich bloss in seinen lebendigen Gefühlen und Thätigkeiten veränderter, das ist, ein dynamisch veränderter Zustand des Menschen, eine abgeänderte Existenz seyn müsse, durch welche dann ferner die materiellen Bestandtheile des Körpers in ihren Eigenschaften abgeändert werden, wie es der krankhaft abgeänderte Zustand des lebendigen Ganzen, in jedem einzelnen Falle erheischt.
Auch ist der Einfluss der krankhaften Schädlichkeiten, welche grösstentheils von aussen her die verschiedenen Siechthume in uns erregen, gewöhnlich so unsichtbar und so immateriell2, dass sie unmöglich unmittelbar weder die Form und Materie der Bestandtheile unsers Körpers mechanisch zu verrücken[5] oder umzuformen, noch eine schädliche scharfe Flüssigkeit in unsere Adern zu giessen vermögen, wodurch die Masse unserer Säfte chemisch verändert und verderbt werden könnte: – eine unstatthafte, durch nichts zu erweisende, crasse Vorstellung mechanischer Köpfe. Die Krankheit erregenden Ursachen wirken vielmehr mittels ihrer virtuellen Eigenschaft auf den Zustand unsers Lebens (auf unser Befinden) auf eine bloss dynamische, dem Geistigen sehr ähnliche Weise, und indem sie zunächst die Organe der höhern Ordnung und der Lebenskraft umstimmen, entsteht durch diess abgeänderte Seyn, durch diese dynamische Veränderung des lebendigen Ganzen ein abgeändertes Gefühl (Uebelbehagen, Schmerzen) und eine abgeänderte Thätigkeit (innormale Functionen) der einzelnen und gesammten Organe, wodurch dann nothwendig auch Aenderung der Säfte in unsern Gefässen und Absonderung innormaler Stoffe secundär entstehen muss, als unausbleibliche Folge des abgeänderten, vom gesunden nun abweichenden Lebenscharakters.
Diese innormalen Stoffe, die sich in Krankheiten hervorthun, sind demnach nur Producte der Krankheit selbst, die sich, so lange das Siechthum den gegenwärtigen Charakter behält, nothwendig absondern müssen, und so einen Theil der Krankheitszeichen (Symptome) bilden; sie sind bloss Effecte und folglich Aeusserungen des vorhandenen innern Uebelbefindens, und wirken (ob sie gleich oft Ansteckungszunder für andere, gesunde Personen enthalten) auf den kranken Körper, der sie hervorbrachte, durchaus nicht als Krankheit erzeugende oder unterhaltende Stoffe, das ist, nicht als materielle Krankheitsursachen, zurück3, so wenig sich ein Mensch mit dem Gifte aus[6] seinem eigenen Schanker oder mit der Trippermaterie aus seiner eigenen Harnröhre zu derselben Zeit an andern Theilen seines Körpers anstecken, oder sein Uebel damit verstärken, und eben ao wenig, als eine Viper sich mit ihrem eignen Gifte einen tödtlichen oder gefährlichen Biss beibringen kann.
Hieraus ist einleuchtend, dass die Krankheiten des Menschen, von der dynamischen und virtuellen Influenz krankhafter Schädlichkeiten erzeugt, ursprünglich bloss dynamische (fast nur auf geistige Weise bewirkte) Verstimmungen des Lebenscharakters unsers Organism's seyn können.
Man sieht leicht, dass diese dynamischen Verstimmungen des Lebenscharakters unsers Organism's, die wir Krankheiten nennen, da sie nichts Anderes, als abgeänderte Gefühle und Thätigkeiten sind, sich auch durch nichts, als durch ein Aggregat von Symptomen auszusprechen vermögen, und bloss als ein solches unserm Wahrnehmungsvermögen erkennbar sind.
Da nun bei einem für Menschenleben so bedenklichen Geschäfte, als das Curiren ist, Nichts, als ein deutlich von unserm Wahrnehmungsvermögen erkennbarer Zustand des kranken Körpers als Heilobject angenommen werden und unsre Schritte leiten darf (Vermuthungen und unerweisliche Hypothesen hier zum Führer zu wählen, würde gefährliche Thorheit, ja Frevel und Attentat gegen die Menschheit seyn); so folgt, dass, da die Krankheiten, als dynamische Verstimmungen des Lebenscharakters, sich einzig in Abänderungen der Gefühle und Thätigkeiten unsers Organism's, das ist, einzig durch ein Aggregat wahrnehmbarer[7] Symptome aussprechen, auch dieses nur allein das Heilobject in jedem Krankheitsfalle seyn könne. Denn alle Krankheitszeichen hinweggenommen, bleibt nichts, als Gesundheit übrig.
Weil nun die Krankheiten blosse dynamische Verstimmungen unsers Befindens und Lebenscharakters sind, so können sie auch von Menschen unmöglich anders vernichtet werden, als mittels Potenzen und Kräfte, welche gleichfalls dynamische Umstimmungen des menschlichen Befindens hervorzubringen im Stande sind, das ist, die Krankheiten werden durch Arzneien virtuell und dynamisch geheilt4.[8]
Diese, uns zu Gebote stehenden wirksamen Substanzen und Kräfte (Arzneien) bewirken die Heilung der Krankheiten durch dieselbe dynamische Veränderungskraft des gegenwärtigen Befindens, durch dieselbe Umstimmungskraft des Lebenscharakters unsers Organism's in Gefühlen und Thätigkeiten, durch welche sie auch den gesunden Menschen afficiren, ihn dynamisch verändern und gewisse krankhafte Symptome bei ihm hervorbringen können, deren Kenntniss, wie wir sehen werden, uns die zuverlässigste Hinweisung giebt auf die Krankheitszustände, welche von jeder besondern Arznei am gewissesten geheilt werden können. Daher kann nichts in der Welt Heilung vollbringen, keine Substanz, keine Kraft den menschlichen Organism dergestalt verändern, dass die Krankheit von ihm weiche, als eine, das Befinden des Menschen überhaupt (dynamisch) umstimmende, folglich auch das gesunde Befinden krankhaft umändernde Potenz5.
Auf der andern Seite giebt es aber auch kein Agens, keine Kraft in der Natur, die den gesunden Menschen krankhaft zu afficiren vermag, welche nicht zugleich das Vermögen besässe, gewisse Krankheitszustände zu heilen.
Da nun die Krankheit-Heilung, so wie die krankhafte Afficirung der Gesunden bei allen Arzneien unzertrennlich beisammen angetroffen wird, und beide Thätigkeiten offenbar aus einer und derselben Quelle entspringen, nämlich aus ihrer Kraft, Menschenbefinden dynamisch umzustimmen, sie daher auch unmöglich nach einem andern inwohnenden Naturgesetze bei Kranken, als bei Gesunden wirken können; so folgt, dass es dieselbe Kraft der Arznei seyn muss,[9] welche in Kranken die Krankheit heilt, als welche in Gesunden krankhafte Symptome zuwege bringt6.
Wir werden daher auch finden, dass die Heilpotenz der Arzneien und was eine jede in Krankheiten leisten könne, auf keine andre Art in der Welt sich so sicher und deutlich ausspricht und nie reiner und vollständiger zu unserer Kenntniss gelangen kann, als durch die krankhaften Phänomene und Symptome (Arten künstlicher Krankheiten), die die Arzneien bei gesunden Menschen hervorbringen, Denn haben wir nur erst die von den verschiedenen Arzneien an gesunden Menschen erregten eigenthümlichen (künstlichen) Krankheitssymptome aufgezeichnet vor uns liegen, so dürfen wir bloss reine Versuche entscheiden lassen, von welchen Arzneisymptomen gewisse Krankheitssymptome stets schnell und dauerhaft geheilt und aufgehoben werden, um jedesmal im Voraus zu wissen, welche unter allen den nach ihren eigenthümlichen Symptomen gekannten und ausgeprüften, verschiedenen Arzneien in dem jedesmaligen Krankheitsfalle das gewisseste Heilmittel sey7.[10]
Fragen wir dann die Erfahrung, welche (von den Arzneien beobachteten) künstlichen Krankheits-Elemente[11] gegen gewisse, natürliche Krankheitszustände hülfreich anzuwenden sind; fragen wir sie:
1) ob von solchen Arzneien, welche im gesunden Körper ein andersartiges (allöopathisches) Uebelbefinden erzeugen können, als die zu heilende Krankheit darbietet,
2) oder ob von denjenigen, welche einen, dem zu heilenden Krankheitsfalle entgegengesetzten (enantiopathischen, antipathischen) Zustand des Befindens im gesunden Menschen zu erregen vermögen,
3) oder ob von denjenigen Arzneien, welche einen ähnlichen (homöopathischen) Zustand, als die vorhandene natürliche Krankheit ist, erzeugen können (denn nur diese drei Anwendungsarten sind möglich), die Umstimmung in Gesundheit (Heilung) am gewissesten und dauerhaftesten zu erwarten sey, so spricht die Erfahrung ganz ohne Zweideutigkeit sich für letzteres aus.[12]
Doch schon an sich ist es einleuchtend, dass heterogen und allöopathisch wirkende Arzneien, mit Neigung, andersartige Symptomen im gesunden Menschen hervorzubringen, als die zu heilende Krankheit in sich fasst, selbst der Natur der Sache nach hier unmöglich passen und hülfreich seyn können, sondern schief wirken müssen, weil sonst jede Krankheit durch jede beliebige, auch noch so abweichende Arznei schnell, sicher und dauerhaft gehoben werden müsste; welches, da jede Arznei eine von der der übrigen abweichende Wirkung besitzt, und jede Krankheit eine von der andern abweichende Verstimmung des menschlichen Befindens nach ewigen Naturgesetzen erzeugt, einen innern Widerspruch (contradictionem in adjecto) in sich fassen und schon aus sich selbst die Unmöglichkeit eines guten Erfolgs darlegen würde, indem jede gegebene Veränderung nur von der ihr geigneten Ursache bewirkt werden kann, aber nicht per quamlibet causam. Und so bestätigt sich's auch in der Erfahrung täglich, dass die vulgäre Praxis durch Verordnung ihres Allerlei's an ungekannten Arzneien in vielfach gemischten Recepten in Krankheiten zwar mancherlei bewirkt, doch am wenigsten Heilung.
Die zweite Art, Krankheiten mit Arzneien zu behandeln, ist die Anwendung einer, die vorhandene Verstimmung des Befindens (Krankheit, oder vorzüglichstes Krankheitssymptom) enantiopathisch, antipathisch oder entgegengesetzt umstimmende Potenz (palliativ angewendete Arznei). Eine solche Anwendung kann, wie man ebenfalls leicht einsieht, deshalb keine dauerhafte Heilung der Krankheit bewirken, weil bald darauf das Uebel wiederkommen muss, und zwar in stärkerem Masse. Der Vorgang ist dieser. Nach einer bewundernswürdigen Einrichtung der Schöpfung verhalten sich die organisirten[13] lebenden Wesen nicht nach den Gesetzen der unorganisirten (todten) physischen Natur, sie nehmen die Einwirkung der Aussendinge nicht, wie diese, leidend auf, geben nicht, wie diese, den äussern Eindrücken folgsam nach, sondern streben, das Gegentheil von dieser Einwirkung entgegen zu setzen8. Der lebende menschliche Körper lässt sich zwar anfänglich von der Einwirkung physischer Potenzen[14] verändern; aber diese Veränderung ist bei ihm nicht, wie bei unorganischen Wesen, bleibend und dauernd ( – wie sie doch nothwendig seyn müsste, wenn die der Krankheit entgegengesetzt wirkende Arzneipotenz einen bleibenden Effect, eine dauerhafte Hülfe hervorbringen sollte –): vielmehr strebt der menschliche lebende Organism, das gerade Gegentheil von der ihm von aussen her zuerst beigebrachten Affection durch Antagonismus zu erzeugen9 –, so wie z.B. eine lange genug in Eiswasser gehaltene Hand nach dem Herausziehen (nicht etwa kalt beibt, oder etwa bloss die Temperatur der umgebenden Luft, wie eine steinerne [todte] Kugel thun würde, annimmt, oder allenfalls die Wärme des übrigen Körpers beibehält, nein!), je kälter das Wasser des Handbades war, und je länger es auf die gesunde Haut der Hand einwirkte, sich hintennach desto mehr entzündet und heiss wird.
Es kann also nicht fehlen, dass eine, den Symptomen der Krankheit entgegengesetzt wirkende Arznei nur auf eine sehr kurze Zeit10 das vorhandene Krankheitssymptom umstimmt, bald aber dem im lebenden Körper vorwaltenden Antagonism weichen muss, welcher[15] das Gegentheil, nämlich einen, dem durch das Palliativ hervorgebrachten, kurzdauernden, schmeichelhaften Zustande des Befindens entgegengesetzten Zustand (den mit dem ursprünglichen Uebel übereinstimmenden Zustand) entstehen lässt, der ein wahrer Zusatz zu dem nun wiederkehrenden, ungetilgten, anfänglichen Uebel ist, also die ursprüngliche Krankheit in erhöhetem Grade. Und so verschlimmert sich das Uebel jederzeit gewiss, nachdem das Palliativ – die entgegengesetzt und enantiopathisch wirkende Arznei ausgewirkt hat11.
In chronischen Krankheiten, – dem wahren Prüfsteine ächter Heilkunst, – zeigt sich die Schädlichkeit der entgegengesetzt wirkenden (Palliativ-) Mittel oft in hohem Grade, da sie bei ihrer Wiederholung, wenn sie auch nur ihren täuschenden Effect, (einen schnell vorübergehenden Schein von Wohlbefinden)[16] zuwege bringen sollen, in grösserer und immer grösserer, das Leben oft in Gefahr setzender Gabe gereicht werden müssen, die auch nicht selten wirklich tödtet12.
Es bleibt also nur eine dritte Art der Anwendung der Arzneien übrig zur wahren Hülfe, nämlich, wenn man jedesmal eine solche anwendet, welche (homöopathisch) eine dem gegenwärtigen Krankheitsfälle ähnliche, am besten, sehr ähnliche, künstliche, krankhafte Affection im Organism zu erregen für sich geneigt ist.
Dass diese Art von Arzneigebrauch die vollkommenste, die einzig beste Methode gebe und geben müsse, kann, wie schon durch unzählige Erfahrungen, auch der meiner Lehre ergebenen Aerzte und in der alltäglichen Erfahrung13 bestätigt worden ist, so auch durch Gründe leicht bewiesen werden.[17]
Es wird daher nicht schwer seyn, einzusehen, nach welchen Naturgesetzen die einzig zweckmässige Heilung der Krankheiten, die homöopathische, erfolgt und erfolgen muss.[18]
Das erste hier unverkennbare Naturgesetz ist: die Afficirbarkeit des lebenden Organismus durch natürliche Krankheiten ist ohne Vergleich geringer, als die durch Arzneien.
Es wirken täglich und stündlich ein Menge Krankheiterregungs-Ursachen auf uns ein, aber sie vemögen unser Befindens-Gleichgewicht nicht aufzuheben, die Gesunden nicht krank zu machen; die Thätigkeit der Lebenerhaltungskraft in uns pflegt den meisten zu widerstehen, der Mensch bleibt gesund. Nur wenn diese äussern Schädlichkeiten zu einem heftigen Grade gesteigert auf uns eindringen, und wir uns ihnen allzu sehr blossstellen, erkranken wir, doch auch dann nur bedeutend, wenn unser Organism gerade jetzt eine vorzüglich angreifbare, schwache Seite (Disposition) hat, die ihn aufgelegter macht, von der gegenwärtigen (einfachen oder zusammengesetzten) Krankheitsursache afficirt und in seinem Befinden verstimmt zu werden.
Besässen die feindlichen, theils psychischen, theils physischen Potenzen in der Natur, die man krankhafte Schädlichkeiten nennt, eine unbedingte Kraft, das menschliche Befinden zu verstimmen, so würden sie, da sie überall verbreitet sind, Niemand gesund lassen; Jedermann müsste krank seyn und wir würden nicht einmal eine Idee von Gesundheit haben. Da aber, im Ganzen genommen, Krankheiten nur Ausnahmen im Befinden der Menschen sind, und ein Zusammentreffen so vieler und mancherlei Umstände und Bedingungen theils von Seiten der Krankheitspotenzen, theils von Seiten des in Krankheit umzustimmenden Menschen erfordert wird, ehe eine Krankheit durch ihre Erregungsursachen entsteht, so folgt, dass der Mensch von dergleichen Schädlichkeiten so wenig afficirbar ist, dass sie ihn nie unbedingt krank machen können,[19] und dass der menschliche Organism wenigstens nur unter einer besondern Disposition von ihnen zur Krankheit verstimmt zu werden fähig sey.
Ganz anders aber verhält es sich mit den künstlichen dynamischen Potenzen, die wir Arzneien nennen. Jede wahre Arznei wirkt nämlich zu jeder Zeit, unter allen Umständen, auf jeden lebenden, beseelten Körper und erregt in ihm die ihr eigenthümlichen Symptome (selbst deutlich in die Sinne fallend, wenn die Gabe gross genug war), so dass offenbar jeder lebende menschliche Organism jederzeit und durchaus von der Arzneikrankheit behaftet und gleichsam angesteckt werden muss, welches, wie bekannt, mit den natürlichen Krankheiten gar nicht der Fall ist14.
Aus allen Erfahrungen gehet unläugbar hervor, dass der menschliche Körper bei weitem aufgelegter und geneigter ist, sich von den arzneilichen Potenzen afficiren und sein Befinden umstimmen zu lassen, als von den krankhaften Schädlichkeiten und Ansteckungsmiasmen, oder, welches dasselbe sagt, dass die arzneilichen Potenzen eine absolute, die krankhaften Affectionen aber nur eine sehr bedingte, von erstern überwiegbare Kraft besitzen, das menschliche Befinden umzustimmen.
Hieraus geht nun zwar schon die Möglichkeit der Krankheitsheilungen durch Arzneien überhaupt hervor (das ist, man sieht, dass im kranken Organism die Krankheitsaffection verwischt werden könne, wenn[20] ihm die angemessenste Umstimmung durch Arznei zu Theil würde); aber es muss, wenn die Heilung zur Wirklichkeit kommen soll, auch das zweite Naturgesetz in Erfüllung treten, nämlich eine stärkere dynamische Affection löscht die schwächere im lebenden Organism dauerhaft aus, wenn erstere der letzteren an Art ähnlich ist; denn die dynamische, von der Arznei zu erwartende Umstimmung des Befindens darf, wie ich glaube bewiesen zu haben, von der Krankheits-Verstimmung weder andersartig abweichend oder allöopathisch seyn, damit nicht, wie in der gemeinen Praxis, eine noch grössere Zerrüttung entstehe, noch darf sie derselben entgegengesetzt seyn, damit nicht eine bloss palliative Schein-Erleichterung mit nachgängiger, unausbleiblicher Verschlimmerung des ursprünglichen Uebels erfolge, sondern die Arznei muss die Tendenz besitzen, eine der Krankheit ähnliche Stimmung des Befindens für sich hervorzubringen (ähnliche Symptome im gesunden Körper erregen zu können) durch Beobachtungen erwiesen haben, wenn sie ein dauerhaft hülfreiches Heilmittel seyn soll.
Da nun die dynamischen Affectionen des Organisms (von Krankheit oder Arznei) nur durch Aeusserungen veränderter Thätigkeit und veränderten Gefühls erkennbar werden, und also auch die Aehnlichkeit seiner dynamischen Affectionen gegen einander sich bloss durch Symptomen-Aehnlichkeit aussprechen kann, der Organismus aber (als bei weitem umstimmbarer durch Arznei, denn durch Krankheit) der Affection von Arznei mehr nachgeben, das ist, sich mehr von ihr bestimmen und umstimmen lassen muss, als von der ähnlichen Affection der Krankheit, so folgt ohne Widerrede, dass er von der Krankheits-Affection frei werden müsse, wenn man eine Arznei auf ihn wirken[21] lässt, welche, in ihrer Natur von der Krankheit verschieden15, an Symptomen-Aehnlichkeit ihr möglichst nahe kommt, das heiss, homöopathisch ist; indem der Organism, als lebende, geschlossene Einheit, nicht zwei ähnliche dynamische Affectionen zugleich annehmen kann, ohne dass die schwächere der stärkern ähnlichen weichen müsste, folglich, da er geeigneter ist, von der einen (Arzneiaffection) stärker ergriffen zu werden, die andere, ähnliche, schwächere (Krankheitsaffection) nothwendig fahren lassen muss, von welcher er dann geheilt ist.
Man wähne ja nicht, dass der lebende Organism, wenn ihm bei seiner Krankheit zur Cur eine neue, ähnliche Affection durch eine Gabe homöopathischer Arznei mitgetheilt wird, hierdurch stärker, also mit einem Zusatze zu seinen Leiden belastet würde, etwa wie eine Bleiplatte, schon von einem eisernen Gewichte gedrückt, durch einen hinzugefügten Stein noch stärker gequetscht, oder ein durch Friction erhitztes Stück Kupfer durch Aufgiessung noch heissern Wassers noch heisser werden muss. Nein, nicht leidend, nicht nach den physischen Gesetzen der todten Natur verhält sich unser lebender Organism; mit Lebens-Antagonism wirkt er zurück, um als geschlossenes, lebendes Ganze seiner Krankheits-Verstimmung sich zu begeben und in sich auslöschen zu lassen, wenn eine ähnlichartige stärkere, durch homöopathische Arznei in ihm erzeugt, sich seiner bemächtigt.
Ein solcher geistig zurückwirkender ist unser lebendiger,[22] menschlicher Organism, welcher mit selbsttätiger Kraft eine schwächere Missstimmung (Krankheit) von sich ausschliesst, sobald die stärkere Potenz der homöopathischen Arznei ihn in eine andere, aber sehr ähnliche Affection setzet, oder mit andern Worten, welcher, wegen Einheit seines Lebens, nicht von zweien ähnlichen, allgemeinen Verstimmungen zugleich leiden kann, sondern die vorhergegangene dynamische Affection (Krankheit) fahren lassen muss, sobald eine, ihn umzustimmen fähigere, zweite dynamische Potenz (Arznei) auf ihn wirkt, welche in ihrer Afficirung des Befindens (ihren Symptomen) grosse Aehnlichkeit mit ersterer hat. Etwas Aehnliches geschieht beim menschlichen Gemüthe16.
So wie aber der menschliche Organism schon in gesunden Tagen afficirbarer von Arznei, als von[23] Krankheit ist, wie ich oben dargethan habe, so ist er, erkranket, ohne Vergleich afficirbarer von homöopathischer Arznei, als von jeder andern (etwa allöopathischen oder enantiopathischen), und zwar im höchsten Grade afficirbar, da er, schon von der Krankheit zu gewissen Symptomen gestimmt und aufgeregt, nun aufgelegter seyn muss, zu ähnlichen Symptomen (durch die homöopathische Arznei) umgestimmt zu werden (– so wie ähnliche eigne Seelen-Leiden das Gemüth gegen ähnliche Leidensgeschichten ungemein empfindlich machen–); es müssen daher auch nur die kleinsten Gaben derselben zur Heilung, das ist, zur Umstimmung des kranken Organismus in die ähnliche Arzneikrankheit, nöthig und nützlich seyn, auch schon desshalb nicht grösser nöthig, weil die geistige Kraft der Arznei hier nicht durch Quantität, sondern durch Potenzialität und Qualität (dynamische Angemessenheit, Homöopathie) ihren Zweck erreicht, – und nicht grösser nützlich, sondern schädlich, weil die grössere Gabe, während sie auf der einen Seite die dynamische Ueberstimmung der Krankheits-Affection nicht gewisser, als die angemessenste kleinste bewirkt, dagegen aber auf der andern Seite eine vervielfachte Arzneikrankheit an die Stelle setzt, die immer ein Uebel ist, obgleich ein in bestimmter Frist vorübergehendes.[24]
Kräftig wird daher der Organism von der Potenz eines Arzneistoffes selbst in sehr kleiner Gabe ergriffen und eingenommen, welcher das Total der Symptomen der Krankheit durch sein Bestreben, ähnliche Symptomen zu erzeugen, aufwiegen und verlöschen kann; er wird, wie gesagt, in demselben Zeitpunkte von der Krankheits-Affection frei, als die Arznei-Affection sich seiner bemächtigt, von welcher umgestimmt zu werden, er ungleich fähiger ist.
Erhalten nun die Arzneipotenzen für sich, auch in grösserer Gabe, den gesunden Organism nur einige bestimmte Tage über in Affection, so lässt sich denken, dass eine kleine, und in acuten Uebeln sehr kleine Gabe derselben (wie sie erwiesener Massen bei homöopathischer Heilung seyn muss) den Körper nur kurze Zeit, bei den kleinsten Gaben aber in acuter Krankheit nur einige Stunden über afficiren könne, da dann die an die Stelle der Krankheit getretene Arznei-Affection unvermerkt und sehr bald in reine Gesundheit übergeht.
Anders, als nach diesen ihren, hier vor Augen liegenden Gesetzen scheint die Natur der lebenden Organismen bei dauerhafter Heilung der Krankheiten durch Arzneien nicht zu wirken, und so wirkt sie in der That, so zu sagen, nach mathematischer Gewissheit. Es giebt keinen Fall dynamischer Krankheit in der Welt (den Todeskampf und, wenn es hierher gehört, das hohe Alter und die Zerstörung eines unentbehrlichen Eingeweides oder Gliedes ausgenommen), deren Symptome unter den positiven Wirkungen einer Arznei in grosser Aehnlichkeit angetroffen werden, welche nicht durch diese Arznei schnell und dauerhaft geheilt würde. Der kranke Mensch kann auf keine leichtere, schnellere, sicherere, zuverlässigere und dauerhaftere Weise unter allen denkbaren[25] Curarten17, als durch homöopathische Arznei in kleinen Gaben von seiner Krankheit frei werden.[26]
1 Dieser Aufsatz erschien in einer Zeitschrift vor 20 Jahren, in jenen drangvollen Tagen (März, 1813), wo die Deutschen keine Muse mehr hatten, zu lesen und noch weniger über wissenschaftliche Dinge nachzudenken. So wurden auch diese Worte überhört. Nun möchte er wohl eher gelesen werden, zumal in dieser weniger unvollkommenen Gestalt.
2 Etwa einige chirurgische Uebel und die Belästigungen von ungeniessbaren, fremdartigen Substanzen ausgenommen, welche zuweilen in den Speisekanal gerathen.
3 Durch Ausfegung und mechanische Entfernung dieser innormalen Stoffe, Schärfen und Afterorganisationen kann daher die Quelle derselben, die Krankheit selbst eben so wenig geheilt werden, als man einen Schnupfen durch möglichst oftes und reines Ausschnauben verkürzen oder heilen kann; er dauert keinen Tag länger, als seine Verlaufszeit mit sich bringt, wenn man die Nase auch gar nicht durch Schnauben reinigte.
4 Nicht etwa mittels angeblich auflösender oder mechanisch zertheilender, ausfegender und fortstossender Kräfte der Arzneisubstanzen, nicht mittels einer, eingebildete Krankheitsstoffe electiv aussondernden (blutreinigenden, säfteverbessernden) Thätigkeit derselben, nicht mittels einer (wie im todten, faulen Fleische wirksamen) antiseptischen Kraft derselben, nicht durch chemische oder physische Einwirkung andrer erdenklicher Art, gleich als in todten materiellen Dingen, wie sich von jeher die Schulen der Aerzte unrichtig eingebildet und erträumt haben.
Die neuern Schulen haben zwar einigermassen die Krankheiten als dynamische Verstimmungen anzusehen begonnen und sie auf gewisse Art auch dynamisch durch Arzneien zu heben beabsichtigt, aber indem sie die sensible, irritable und reproductive Thätigkeit (Dimensionen) des Lebens nicht als in modo et qualitate unendlich vielartig veränderbar erkennen, und die unzählbar verschiedenen Krankheitszeichen (diese unendlichen, einzig von uns nur im Reflex erkennbaren innern Abänderungen) nicht, wie sie es doch wahrlich sind, für das einzig untrügliche Heilobject ansehen, sondern bloss eine innormale Erhöhung und Erniedrigung ihrer Dimensionen quoad quantitatem hypothetisch annehmen und den Arzneien, womit sie heilen wollen, diese einseitige Erhöhung und Erniedrigung normal stimmen und dadurch heilen zu können, eben so willkührlich zutrauen: so haben sie ebenfalls bloss Schimären vor ihren Augen, Schimäre des Heilobjects (der Indication) und Schimäre der Arzneiverrichtungen (Indicate).
5 Folglich keine z.B. bloss nährende Substanz.
6 Der verschiedene Erfolg in diesen beiden Fällen beruht bloss auf der Verschiedenheit des zu verändernden Objects.
7 So einfach, wahr und natürlich auch dieser Satz ist, dass man hätte meinen sollen, er wäre schon längst zum Grundsatze der Erkenntniss der Heilkräfte angenommen worden, so wenig ist man doch in der That bisher, auch nicht von weitem, darauf gekommen. In den mehrern Jahrtausenden, so weit die Geschichte reicht, kam niemand auf diese naturgemässe Quelle der Erkennung der Heilkräfte der Arzneien zum Voraus und vor ihrer Anwendung in den Krankheiten selbst. In allen Jahrhunderten, bis auf diese Zeiten, wähnte man, die Heilkräfte der Arzneien nicht anders, als aus dem Erfolge ihrer Anwendung in den Krankheiten selbst erfahren zu können (ab usu in morbis); man suchte sie in den Fällen kennen zu lernen, wo eine gewisse Arznei (am öftersten ein Gemisch von verschiedenen Arzneisubstanzen) in einem genannten Krankheitsfalle hülfreich gewesen war. Allein selbst aus dem heilsamen Erfolge einer einzelnen Arzneisubstanz, und sogar (was selten geschah) in einem genau beschriebenen Krankheitsfalle, können wir nie den Fall, wo diese Arznei ferner heilsam seyn werde, kennen lernen, weil (ausgenommen die Krankheiten von feststellendem Miasm, die Pocken, die Masern, die Lustseuche, die Krätze u.s.w., oder die von sich gleichbleibenden mehrern Schädlichkeiten entspringenden, die Knotengicht u.s.w.) alle übrigen Krankheitsfälle nur einzeln, das ist, jeder unter einer abweichenden Symptomen-Verbindung in der Natur erscheinen, nie vorher genau so dagewesen sind und genau auf dieselbe Art nie wieder kommen können, folglich ein Heilmittel für diesen Fall keinen Schluss auf seine Heilsamkeit in einem andern (verschiedenen) Falle verstattet. Die gezwungene Zusammenschiebung dieser Krankheitsfälle (welche die Natur nach ihrer Weisheit unendlich verschieden hervorbringt) unter gewisse benannte Formen, wie sie die Pathologie eigenmächtig aufstellt, ist ein zu steten Täuschungen und Verwechselungen verschiedener Zustände mit einander verführendes, menschliches Machwerk, ohne Realität.
Eben so verführerisch und unzulässig, obgleich von jeher allgemein eingeführt, ist die Festsetzung allgemeiner (Heil-) Wirkungen der Arzneien nach einzelnen Erfolgen in Krankheiten, wo die Materia medica, z.B. wenn hie und da in einigen Krankheitsfällen beim Gebrauche einer (gewöhnlich mit andern gemischten) Arznei stärkere Harnabsonderung, Schweiss, Ausbruch der Monatreinigung, Nachlass von Convulsionen, eine Art Schlaf, Brustauswurf u.s.w. erfolgte, sogleich die Arznei (welcher man es unter den übrigen am meisten zuzutrauen die Ehre that) zur Würde einer Harn treibenden, einer Schweiss treibenden, einer Monatzeit wiederherstellenden, Krampf stillenden, Schlaf machenden, Brust lösenden Arznei erhob – und damit nicht nur eine fallacium causae durch Verwechselung des Wortes Bei, statt Von beging, sondern auch den ganz falschen Schluss a particulari ad universale, allen Gesetzen unsers Denkvermögens zuwiderlaufend, zog, ja sogar das Bedingte zum Unbedingten machte. Denn was nicht in jedem Krankheitsfalle Harn und Schweiss treibt, die Monatzeit und den Schlaf nicht in jedem Falle hervorbringt, nicht alle Convulsionen in jedem Falle stillt und jeden Husten zum Auswurfe bringt, kann doch bei gesundem Menschenverstande nicht für unbedingt und absolut Harn und Schweiss treibend, Monatzeit und Schlaf erregend, antispasmodisch und expectorirend ausgegeben werden! Und dennoch thut diess die gewöhnliche Materia medica. – Ueberhaupt ist es unmöglich, dass in so gemischten Erscheinungen unsers Befindens, in so vielfachen Zusammensetzungen verschiedenartiger Symptome, wie die namenlos abweichenden Krankheiten der Menschen sind, der Gebrauch eines Mittels seine reine, ursprüngliche Arzneiwirkung, und was man genau für Umstimmungen unsers Befindens von ihm zu erwarten habe, an den Tag legen könne. Diess können die Arzneien bloss im gesunden Zustande des Menschen zeigen.
8 Der ausgepresste, nicht mehr lebende, grüne Pflanzensaft, auf Leinwand gestrichen, bleicht bald am Sonnenlichte und wird vernichtet, dagegen die im Keller, den Tag entbehrende, verbleichende, lebende Pflanze an demselben Sonnenlichte gar bald ihre volle Grünheit wieder erhält. – Eine gegrabene und getrocknete (todte) Wurzel geht, in einen warmen und feuchten Erdboden gelegt, schnell in ihre völlige Zerstörung und Verrottung über, während eine lebende Wurzel in derselben warmfeuchten Erde freudige Schösslinge emportreibt. – Das in vollem, Gähren begriffene, schäumende Luftmalzbier wird bei 96 Grad Fahrenheit's Wärme schnell im Kruge zu Essig, im gesunden menschlichen Magen aber bei gleicher Wärme, unter Hemmung aller Gährung, sehr bald zu einem milden Nahrungssafte. – Das bereits riechende und halbfaule Wildpret giebt, eben so wie Rind- und andres Fleisch, von gesunden Menschen genossen, die am wenigsten riechenden Excremente; während der Chinarinde, welche die Fäulniss an leblosen Thiersubstanzen kräftig zu hemmen geneigt ist, von den gesunden Eingeweiden dergestalt entgegengewirkt wird, dass die stinkendsten Blähungen erzeugt werden. – Milde Kalkerde nimmt in der unorganischen Natur alle Säure hinweg, aber wenn sie im gesunden Magen eingenommen wird, erfolgt gewöhnlich saure Hautausdünstung. – Während die todte thierische Faser vor Fäulniss durch nichts gewisser und kräftiger, als durch Gerbestoff, verwahrt wird, werden reine Geschwüre des lebenden Menschen, wenn sie öfters mit Gerbestoff bestrichen werden, unrein, grün und faulig. – Eine in warmen Wasser gebadete Hand wird hintennach kälter, als die ungebadete andre Hand ist, und zwar desto kälter, je wärmer das Badewasser gewesen war.
9 Diess ist das Naturgesetz, nach welchem der Gebrauch jeder Arznei zwar anfänglich gewisse dynamische Veränderungen und krankhafte Symptome im lebenden menschlichen Körper erregt (primäre oder Erst-Wirkung der Arzneien), dagegen aber dann mittels eines eigenen Antagonismus (den man in vielen Fällen Selbsterhaltungs-Trieb nennen könnte) einen, jenem erstern gerade entgegengesetzten Zustand (secundäre oder Nachwirkung) erzeugt, z.B. bei den narkotischen Substanzen, Gefühllosigkeit in der ersten, und Schmerzhaftigkeit in der Nachwirkung.
10 Wie eine verbrannte Hand nicht viel länger, als während des Verweilens im kalten Wasser, kalt und schmerzlos bleibt, hintennach aber noch weit ärgern Brennschmerz fühlt.
11 So wird der Schmerz einer verbrannten Hand zwar schnell, aber nur auf einige Minuten, durch kaltes Wasser besänftigt, hinterdrein aber wird der Brandschmerz und die Entzündung ärger, als sie vorher war (die Entzündung, als Nachwirkung vom kalten Wasser, macht einen Zusatz zu der durch's kalte Wasser untilgbaren ursprünglichen Brandentzündung). – Die beschwerliche Vollheit des Unterleibes bei habitueller Hartleibigkeit scheint gleich nach der Wirkung einer Purganz wie weggezaubert, aber gleich den Tag darauf kehrt die schmerzhafte Vollheit und Spannung des Unterleibes nebst der Hartleibigkeit zurück und wird sogar die darauf folgenden Tage schlimmer, als vorher. – Der betäubte Schlaf von Mohnsaft hinterlässt die folgende Nacht desto schlafloser. – Dass aber dieser nachfolgende Zustand eine wahre Verschlimmerung ist, wird dadurch sichtbar, dass, wenn man wiederum das Palliativ dagegen brauchen will (z.B. Mohnsaft gegen habituelle Schlaflosigkeit oder chronische Durchfälligkeit), es in stärkerer Gabe, wie gegen eine verstärkte Krankheit, gereicht werden muss, wenn es auch nur auf eben so kurze Zeit, wie zuerst, seine Schein-Besänftigung hervorbringen soll.
12 Wie z.B. wo Mohnsaft in immer stärkerer Gabe zur palliativen Beschwichtigung dringender Symptome einer langwierigen Krankheit wiederholt wird.
13 Um nur einige wenige, im alltäglichen Leben vorkommende Erfahrungen anzuführen, so wird der von siedendem Wasser auf unsrer Haut entstandene, brennende Schmerz entweder, wie bei den Küchen, durch Annäherung der mässig verbrannten Hand an die Flamme, oder durch ununterbrochene Anfeuchtung mit dem, eine noch stärker brennende Empfindung verursachenden gewärmten Weingeistalkohol (oder Terpentinöl) überstimmt und vertilgt. Diese untrügliche Heilung ist unter den Lackirern und ähnlichen Künstlern eingeführt und von ihnen bewährt gefunden. Der Brennschmerz, den diese starken Geister und ihr hoher Wärmegrad erzeugen, bleibt dann nur noch einige Minuten allein übrig, indess der Organism, von der Brandentzündung homöopathisch durch sie befreit, die Verletzung der Haut bald wieder ergänzt und ein neues Oberhäutchen bildet, wodurch dann kein Weingeist mehr eindringen kann. Und so ist binnen wenigen Stunden der Brandschaden durch ein, ähnlichartigen Brennschmerz erzeugendes Mittel (hoch erwärmter Alkohol oder Terpentinöl) geheilt, wogegen er, mit den gewöhnlichen kühlenden Palliativmitteln und Salben behandelt, zu einem bösartigen Geschwür wird und viele Wochen und Monate lang unter grossen Schmerzen fortzueitern pflegt. Die geübten Tänzer wissen aus alten Erfahrungen, dass die vom Tanze auf's Aeusserste Erhitzten von der Entblössung und einem Trunke recht kalten Wassers auf den ersten Augenblick ungemein gelabet werden, hinterdrein aber unfehlbar in tödtliche Krankheit verfallen, und geben weislich den auf das Uebertriebenste erhitzten Personen, ohne dass sie eine Abkühlung durch freie Luft oder Entkleidung verstatten, ein, seiner Natur nach bluterhitzendes Getränk, Punsch oder heissen Thee mit Rum oder Arak, und so werden sie unter gelindem Auf- und Abgehen im Zimmer schnell ihres, durch Tanz erregten, hitzigen Fiebers frei. Eben so wird kein alter, erfahrner Schnitter bei übermässiger Anstrengung in der Sonnengluth ein anderes Getränk zur wohlthätigen Abkühlung zu sich nehmen, als ein Glas Branntwein; ehe eine Stunde vergeht, ist Durst und Erhitzung vergangen und das Wohlseyn wieder hergestellt. Kein erfahrner Mensch wird von Frost abgestorbene Glieder in warmes Wasser thun, oder am Feuer oder am heissen Ofen wiederherstellen wollen; Belegung mit Schnee oder Reiben mit Eiswasser ist die allbekannte homöopathische Hülfe für sie. Das von einer allzu lebhaften Freude entstandene Missbefinden (die phantastische Lustigkeit, die zitternde Unruhe und Ueberbeweglichkeit, das Herzklopfen, die Schlaflosigkeit) wird durch Kaffee schnell und dauerhaft gehoben, der ein ähnliches Uebelbefinden bei Ungewohnten erregt. Und so giebt es noch viele, alltägliche Bestätigungen der grossen Wahrheit, dass die Natur die Menschen von ihren langwierigen Uebeln durch sehr ähnliche kurze Uebel befreit haben will. Völker, Jahrhunderte hindurch in willenlose Apathie und Sklavensinn herabgesunken, erhoben ihren Geist, fühlten ihre Menschenwürde und wurden wieder Freie, nachdem sie von dem Tyrannen aus Westen nachdrücklich in den Staub getreten worden waren.
14 Selbst die pestartigen Krankheiten stecken nicht unbedingt und nicht Jeden an, und die übrigen Krankheiten lassen noch weit mehre Menschen unangetastet, wenn sie sich auch sämmtlich den Veränderungen der Witterung, der Jahreszeiten und dem Einflusse einer Menge andrer nachtheiliger Eindrücke aussetzen.
15 Ohne diese Naturverschiedenheit der Krankheitsaffection von der Arzneiaffection wäre keine Heilung möglich; wenn sie beide nicht nur ähnlich, sondern von gleicher Natur, also identisch wären, so würde Nichts (oder allenfalls eine Vermehrung des Uebels) erfolgen, so wie, wenn man einen Schanker mit fremdem Schankergift befeuchten wollte, nie davon eine Heilung erfolgen könnte.
16 Z.B. ein durch den Tod einer Gespielin betrübtes Mädchen wird, wenn man es drauf zu einer Familie führt, wo den armen, nackten Kindern so eben der Vater, ihr einziger Versorger, abgestorben ist, nicht etwa noch trauriger durch diesen erschütternden Anblick, sondern getröstet über ihr eignes, kleineres Unglück; sie wird geheilt von ihrer Trauer um ihre Freundin, weil die Einheit des Gemüthes auf einmal nur von einer einzigen ähnlichen Leidenschaft afficirt werden kann, und die Leidenschaft wieder in sich auslöschen muss, wenn eine ähnliche, sie stärker anziehende Leidenschaft sich des Gemüthes bemächtigt und zur Verlöschung der erstern als homöopathisches Mittel wirkt. Das Mädchen aber würde von dem Grame über den Verlust ihrer Gespielin z.B. nicht, wenn die Mutter über sie zornig schmälen wollte (heterogene, allöopathische Potenz) geheilet und beruhigt, vielmehr durch diesen Angriff andersartiger Kränkung nur noch kränker am Gemüthe geworden seyn; und eben so würde das trauernde Mädchen, wenn man es durch ein lustiges, jubelndes Fest nur palliativ auf einige Stunden scheinbar erheitert hätte (weil diese Afficirung hier nur entgegengesetzt, enantiopathisch war), nachgehends in ihrer Einsamkeit nur in desto tiefere Traurigkeit versunken seyn und noch stärker, als zuvor um den Tod ihrer Freundin geweint haben.
Und wie es hier im physischen ist, so ist es dort im organischen Leben. Die Einheit unsers Lebens kann sich ebenfalls nicht von zwei allgemeinen ähnlichen dynamischen Affectionen zugleich beschäftigen und einnehmen lassen; denn wenn die zweite eine ähnliche ist, so wird die erstere durch sie verdrängt, sobald der Organism von letzterer mehr ergriffen wird.
17 Selbst die in der gemeinen Praxis, in seltnen Fällen, auffallend gerathenden Curen erfolgen bloss auf eine (durch Zufall in die Recepte mit unterlaufende) homöopathisch passende, vorwirkende Arznei. Homöopathisch gegen die Krankheiten gewählt konnten die Arzneien von den Aerzten bisher nicht werden, da die positiven (bei gesunden Menschen wahrzunehmenden Wirkungen) der Arzneien von ihnen nicht aufgesucht wurden, sie ihnen daher unbekannt blieben, und selbst die, ausser meinen Schriften etwa bekannt gewordenen gar nicht als für Heilzwecke brauchbar von ihnen angesehen wurden –, ihnen auch die, zu gründlichen Heilungen erforderliche Beziehung der Arzneiwirkungen auf die ihnen ähnlichen Symptome der Krankheit (das homöopathische Heilgesetz) unbekannt war.
Ausgewählte Ausgaben von
Reine Arzneimittellehre
|
Buchempfehlung
1843 gelingt Fanny Lewald mit einem der ersten Frauenromane in deutscher Sprache der literarische Durchbruch. Die autobiografisch inspirierte Titelfigur Jenny Meier entscheidet sich im Spannungsfeld zwischen Liebe und religiöser Orthodoxie zunächst gegen die Liebe, um später tragisch eines besseren belehrt zu werden.
220 Seiten, 11.80 Euro
Buchempfehlung
Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Michael Holzinger hat sechs eindrucksvolle Erzählungen von wütenden, jungen Männern des 18. Jahrhunderts ausgewählt.
468 Seiten, 19.80 Euro