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[144] Immer noch gibt es, auch in der heutigen Zeit, Gruppen von Menschen, die anderen auf Gnade und Ungnade ausgeliefert erscheinen. Wohl hat die heutige soziale Gesetzgebung ihre finanzielle Lage sehr gebessert, aber oft hat man noch das Empfinden, als ob die mittelalterlichen Begriffe der Freien und Unfreien auch heute noch Inhalt hätten.
Nur wenige wissen es, daß sie, wenn sie in die Halle des Hotels treten, dem Portier, dem Kellner, dem Liftboy gegenüber einen Ton anschlagen, als hätten sie Sklaven vor sich. Wie doch das häusliche Simandl da mutig wird und die Leute herumjagt. Wie da die Frau, die sich für gut erzogen hält, über die Schulter ihre Befehle austeilt und weder »Bitte« noch »Danke« zu sagen weiß! Die richtigen Snobs finden es für besonders vornehm, so zu tun, als wüßten sie gar nicht, daß dienende Geister auch Menschen sind. Und doch gibt es nichts weniger Vornehmes, als Menschen zu verletzen, die sich nicht wehren dürfen.
So mancher glaubt, seiner Umgebung zu imponieren, wenn er seine eigene Persönlichkeit möglichst zur Geltung bringt. Er weiß nicht, daß ein solches Benehmen gewertet wird als das, was es ist: ein Scheinenwollen, was man nicht ist.
Wirklich vornehme Naturen erkennt man an ihrer zurückhaltenden ruhigen Art, mit dem Dienstpersonal zu verkehren.
Den Hausleuten gegenüber ist ein Ton am Platze, der weder argwöhnt, noch befiehlt. Wohl hat der Herr und auch die Hausfrau mit einer gewissen Bestimmtheit aufzutreten, damit der Untergebene den Ernst fühlt, an ihn glaubt und an den Willen,der ihn lenkt. Der muß da sein, und zwar zielbewußt und seiner selbst sicher, denn gut gehorchen kann man nur, wenn gut befohlen wird. Und gut befehlen kann nur der, der weiß, was er will und auf welchem Weg das Ziel erreicht wird. Respekt verschafft man sich nicht durch Poltern und Überheblichkeit, sondern durch überlegenes Wissen, Können und Selbstbeherrschung.
Hat man etwas auszusetzen, so tut man es nicht vor Dritten, das demütigt beide Teile. Ein Blick, äußerstenfalls eine ruhige Bemerkung, müßten genügen, um auf ein Versehen oder eine Ungeschicklichkeit aufmerksam zu machen.
Wir müssen uns um alle kümmern, die zu unserem Hause gehören, jeder soll sich als unser Schutzbefohlener fühlen und als Mensch verstanden. Wir haben nicht das Recht, seine Kraft restlos für uns auszunützen oder ihm seine Freistunden abzulisten.
Manche Hausfrau will auch auf die Verwendung der freien Zeit ihrer Hausgehilfen bestimmenden Einfluß nehmen. Das ist nun ein schwieriges Kapitel. Ist das Mädchen minderjährig, so hat der Dienstgeber gewiß Verantwortung zu tragen und das Recht, sich darum zu kümmern, wie es seine freie Zeit anwendet. Stößt er hier auf Widerstand, so darf er nicht versuchen, ihn gewaltsam zu brechen; läßt sich durch gütliche Vorstellungen nichts erreichen, so ist es besser, das Dienstverhältnis zu lösen, und wenn die Umstände es erfordern, die Angehörigen zu verständigen.
Volljährige Dienstnehmer sind keine Rechenschaft darüber schuldig, was sie mit ihrer freien Zeit beginnen, solange der Dienst und das Ansehen des Hauses, dem sie dienen, darunter nicht leiden. Ist der Dienstgeber mit einem Verkehr nicht einverstanden, den das Mädchen pflegt, so kann er Vorstellungen[147] erheben, allenfalls kündigen, nicht aber zur Rede stellen und verbieten.
Ich habe eine Dame gekannt, die sich darüber empörte, daß ihr Mädchen, wenn es ausging, Puder und Lippenstift gebrauchte – obwohl die Dame selbst es tat. Warum fand sie bei ihrem Mädchen unmoralisch, was sie sich selbst bedenkenlos erlaubte? Öfter, als man meint, dient die Herrschaft als Beispiel – also wollen wir lieber nicht predigen, sondern mit Beispiel vorangehen, und wenn wir von unserem Personal Tugenden verlangen, uns fragen, ob wir wohl selber, an unserem Maßstab gemessen, würdig wären, Hausgehilfinnen zu sein.
Hält unser Hausgeist uns Treue und Ehrlichkeit, dann geben wir ihm auch Treue und Ehrlichkeit zurück. Es genügt nicht, daß man Krankenkasse für ihn zahlt, wir müssen ihm auch erlauben, seine Arbeit mit Freude zu tun. Zur rechten Zeit ein Lob ist wichtig, die meisten Dienstgeber vergessen das, sie meinen, wie viele Ehemänner, daß sie genug gelobt haben, wenn sie nicht schimpfen. Wie soll man aber in einer Arbeit, die niemand zu schätzen scheint, Befriedigung finden? Jede Frau sollte sich auch des Kummers, des Leides und der Sorge ihrer Angestellten annehmen, denn sie teilen ihr tägliches Leben. Nur darf sie sich dabei nicht aufdrängen; nie soll sie sich dazu hergeben, Tratsch, Spionage und Zuträgerei zu fördern. Eine Frau, die sich so wenig beherrscht, daß sie dem Personal gegenüber Familiengeheimnisse preisgibt oder sich über Angehörige beklagt, darf nicht mehr damit rechnen, geachtet zu werden.
Grundsätzlich sollte jedermann die Arbeiten beherrschen, die er vom anderen verlangt, schon damit er nichts Unmögliches fordert.
Ist ein Befehl einmal gegeben, so muß er ausgeführt werden, sonst ist es aus mit der Autorität. Man muß es sich daher[148] gut überlegen, ehe man Anordnungen trifft, damit man nicht später gezwungen ist, sie zu widerrufen.
Der Verkehr mit den Angestellten muß immer höflich sein. Auch umgekehrt ist vom Angestellten zu verlangen, daß er sich jedermann gegenüber, nicht nur zu seinem Herrn, höflich benimmt. Diener und Stubenmädchen größerer Häuser sind oft von einem gesegneten Hochmut zu Menschen, die ihnen nicht fein genug dünken. Keine Dame kann die Nase so hoch tragen wie ihre Zofe. Dagegen hat auch jedermann die Pflicht, dafür zu sorgen, daß seinem Personal seitens der Gäste keine unbilligen Zumutungen gestellt werden. Für die Hausfrau kann sich bei solcher Gelegenheit mitunter eine schwierige Lage ergeben. Doch wird es ihr gewöhnlich möglich sein, den Wunsch des Gastes selbst an ihr Mädchen zu übermitteln. Kein wohlerzogener Gast wird sich erlauben, mit dem Mädchen zu schäkern oder ihm gar den Hof zu machen. Er wird auch das Mädchen nicht beim Vornamen nennen, weil er überhaupt nicht direkt mit ihm verkehren wird. Von dieser Strenge ausgenommen sind nur ältere Freunde des Hauses, die seit Jahren immer wieder kommen und sozusagen »zur Familie gehören«.
Die Kinder hält man streng zu einem höflichen Verkehr mit dem Personal an. Eher dürfen sie einmal einem Gast gegenüber über die Stränge schlagen als dem Mädchen gegenüber. Man darf ihnen nie gestatten, zu befehlen, noch weniger zu schreien, und geschah es doch einmal, dann muß das Kind sich entschuldigen. Je strenger man darauf besteht, desto mehr Respekt wird man seitens des Personals genießen und desto eifersüchtiger wird auch dieses darauf sehen, daß die Ehre des Hauses selbst in Kleinigkeiten gewahrt wird. Man findet in guten alten Adelsfamilien häufig die treuergebene Kammerfrau, den alten Diener, der nichts über seine Herrschaft kommen läßt, nicht[149] etwa nur deshalb, weil die Leute stolz darauf sind, in adeligen Häusern zu dienen, dazu ist die Zeit nicht mehr romantisch genug, sondern deshalb, weil diese alten Familien mit der eigenen Ehre auch die der Dienerschaft wahren, anders als das oft in bürgerlichen Häusern der Fall ist.
Eine Hausgenossin, deren Stellung oft verkannt wird, ist die »Schwester«, die Pflegerin der Kinder und Kranken. Ob weltlich oder nicht, sie war von jeher ein Objekt der Ausbeutung seitens der schutzbedürftigen Menschheit. Sie muß sich wohl den Himmel dadurch verdienen, daß man ihr das Fegefeuer auf Erden bereitet, man zwingt sie ja ins Heiligsein. Für diese aufopfernden Wesen, die edelstes Frauentum darstellen, muß ich hier ein Wort einlegen.
Eine mir bekannte Pflegerin aus hochadeligem Hause erzählte mir lachend, sie müßte in der Küche essen. Andere erzählten mir weniger lachend, daß man sie nach anstrengenden Nachtwachen tagsüber, wenn der Patient weniger Ansprüche stelle, zu schwerer Hausarbeit heranziehe. Einer brachte man sogar die Schuhe, damit sie sie putze. Ein anderesmal waren es Stickereien und seine Handarbeiten, mit denen sie sich die schlafmüden Augen verderben mußten. Mit allem Raffinement kürzt man ihnen die freie Zeit und scheint anzunehmen, eine Pflegeschwester sei dank ihrer Tracht schon mit übernatürlichen Kräften begabt.
In eine Ordination kam eine junge Dame mit ihrer schwer leidenden Mutter. »Schwester, bitte, ziehen Sie meiner Mutter die Überschuhe aus.« Daß die Schwester es tat, geschah aus Rücksicht auf die Kranke, aber ihres Amtes war es nicht. Wenn auch einmal irgendeine Handreichung nicht in ihr Arbeitsgebiet fällt, wird sie sie gerne tun, kann sie damit behilflich sein; aber man muß wissen, daß man solche Dienstleistung nicht fordern.[150]
Wir sind etwas denkfaul geworden, besonders dort, wo wir einen Vorteil davon haben.
Man nimmt eine Pflegerin für die Kinder auf, ein Mädchen mit langjährigen Studien, medizinischen Kenntnissen und so weiter, und glaubt sie dann als Mädchen für alles mißbrauchen zu dürfen. Das nimmt sich vor den Bekannten gut aus: die Pflegerin im Hause. Man erspart sich aber mit ihr womöglich die Hausgehilfin, die Näherin oder Wäscherin. Das ist eine unmögliche, unsoziale Einstellung, ein Mißbrauch, geradezu eine Sabotage des Berufes.
Die Pflegerin braucht wie der Geiger, der Feinmechaniker, der Chirurg feinfühlige Hände, sie muß geringfügige Temperaturunterschiede, kleinste Schwellungen, Spannungen und Verhärtungen der Haut wahrnehmen können, sie muß in Mund, Nase und Ohren hantieren können. Das ist mit einer arbeitsharten, gefühllos gewordenen Hand nicht zu leisten. Solche Hände aber habe ich bei Pflegerinnen gesehen, denen man zumutete, Sommer und Winter Kinderwäsche zu waschen. Dazu ist die Kinderpflegerin nicht da.
Vielleicht ist es nicht immer einfach zu ermessen, welche Dienste wir vom Untergebenen verlangen können. Eine Richtschnur kann es vielleicht sein, daß nie Macht- und Geltungsbedürfnis maßgebend sind, sondern nur die innere Einstellung zum Dienst an der Sache. Sieht man die Dinge so an, dann wird Disziplin nie in Unterwürfigkeit ausarten, der Chef wird weder als Feind noch als Gönner erscheinen, die Höflichkeit ihm gegenüber nie zur Kriecherei ausarten. Es steht dann Mann gegen Mann, einer so wichtig wie der andere, jeder aber auch entbehrlich und ersetzlich – wie der andere. Dessen sollten sich Vorgesetzte mit besonders gut entwickeltem Ichbewußtsein gelegentlich erinnern und ihr Benehmen danach einrichten, denn[151] unersetzlich sind nur ganz große Genies. Und denen fällt es nicht ein, sich durch Demütigung der Kleinen noch größer zu machen. Einer Frau gegenüber kann auch ein Vorgesetzter, ohne seinem Ansehen zu schaden, ein gewisses Mehr an Höflichkeit an den Tag legen, das natürlich nicht in Schöntun oder Vertraulichkeiten ausarten darf. Die kühle Höflichkeit des Chefs wird gerade die richtige Distanz schaffen, die für gedeihliche Zusammenarbeit notwendig ist.
Weibliche Angestellte werden ihren Vorgesetzten die Aufgabe wesentlich erleichtern durch volle Hingabe an den Dienst unter Ausschaltung aller persönlichen Eitelkeit – nicht auch der Liebenswürdigkeit. Die Sekretärin mit dem hochgeschürzten Rock, den lockenden Beinen, die Tippmamsell mit dem geschminkten Gesicht und dem aufreizenden Dekolleté überlassen wir ruhig dem Film. Diese billige Romantik muß zu Ende sein, die Wahrheit ist viel schöner. Die alte Treue zum Haus, zur gemeinsamen Arbeit, zur Betriebsgemeinschaft, der Stolz, miteinander aufzubauen, die Ritterlichkeit, die nach Ehre, nicht nach Gunst strebt.
Aus diesem Ritterlichkeitsgefühl heraus wird auch der Angestellte sich hüten, seinen Herrn bloßzustellen, seine Autorität zu untergraben, sein Ansehen zu schädigen. Es ist besser, dem Vorgesetzten es ehrlich ins Gesicht zu sagen, wenn man etwas an ihm auszusetzen hat, der Weg über Dritte ist falsch und bringt nie eine Lösung von Konflikten, er verschärft sie nur.
Wir haben auch von der Haltung des Angestellten im öffentlichen Dienst gesprochen. Da ist es schwer zu sagen, wer der »Obere« ist. Jedenfalls darf man von beiden Seiten entgegenkommendes, liebenswürdiges Betragen verlangen. Wie oft kann man sehen, daß der vor dem Schalter mit seinem Brief, seinem Paket, seinem Paß in der Hand ungeduldig zappelt, während[152] der andere hinter dem Schalter ein angeregtes Gespräch mit einem Kollegen führt oder eifrig an etwas schreibt, ohne einen Blick auf sein Opfer zu werfen. Solche, oft gar nicht bösgemeinten Beweise der absoluten Geringschätzung der Steuerzahler sind nicht geeignet, seine Geduld zu erhöhen, im Gegenteile, nichts kann so viel Erbitterung erzeugen, als solche unüberlegte Gesten. Eine gutwillige, achtungsvolle Haltung – das ist es, was der Anstand von uns fordert.[153]
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