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[283] »Es liegt in der Natur der Sache, daß, wenn man als ›Lebender‹ über sich und über andere schreibt, man doch sehr unfrei ist. Man könnte manche Fesseln abwerfen, wenn man Memoiren schriebe, die erst später veröffentlicht werden. Man könnte dann sich selbst im Guten wie im Schlimmen freier geben, sein innerstes Innere preisgeben; dann gäbe es wohl schärfere Lichter und Schatten. Diese fehlen und müssen fehlen, wenn man lebend über seine Erlebnisse schreibt. Ich habe schon das Gleiche bei Hasners Memoiren empfunden. Man sieht nur Lichtbilder, keine scharfen Konflikte des Selbstbiographen mit sich selbst, mit Andern, mit der Welt – kurz, keine Schatten. Ich weiß wohl, daß es nicht anders sein kann; doch im allgemeinen wirst Du mir recht geben. Man möchte hier und da auch Dissonanzen, ein Himmelssakrament! oder dergleichen. Aber das geht eben nicht, und so hat man die Empfindung: er sagt doch nicht alles! Vielleicht kommen später doch kräftigere Schatten. Du hast das Bild Deiner Lebenslandschaft mit blauem Himmel von oben angefangen zu malen; je näher Du der Erde kommst, wird es wohl scharfschattiger werden.«

Wohl hast Du Recht gehabt, Freund Billroth, der Du mir Obiges schriebst über das erste Heft meiner Erinnerungen! »Er sagt nicht alles!« Alles, was ich hier erzähle, ist vollständig so erlebt und gefühlt, ist buchstäblich getreu. Aber nicht alles, was ich erlebt und empfunden habe, erzähle ich. Jede Seele hat ihr Privatkämmerlein, ihre alleinigen, verschwiegensten Freuden und Leiden. Wir öffnen es höchstens einem alten, treuen Jugendfreunde, niemals fremden Lesern. Es hat mir nicht gefehlt an beglückenden Momenten, die keinen Dritten interessieren, noch weniger an Tagen des Kummers und bitterer Verzagtheit, die mir allein gehören. Ich würde sie nicht preisgeben, wäre ich selbst eine bedeutende Persönlichkeit, die, wie Jean Jacques Rousseau, für ihre intimsten[283] Heimlichkeiten das Interesse der ganzen Nation ansprechen durfte. Vorübergehende törichte Herzensneigungen eines immergrünen Herzens und ähnliche Privatissima – gehören die vor das Publikum? »Ja, für dergleichen,« versichert mir ein Freund, »interessieren sich die Leute gerade am meisten!« Wirklich? Nun, dann erst recht nicht. Noch weniger mag ich meine Leser an das Krankenlager und Totenbett geliebter Personen führen. Wahrlich, an den Schatten, die Freund Billroth vermißt, hat es meiner »Lebenslandschaft« nicht gefehlt, wenn ich auch dankbar bekennen muß, daß der »blaue Himmel« überwog, sowohl in der Landschaft selbst als in meinem Temperament. Eine mei ner trübsinnigen Perioden war es, die mich zu einer großen Torheit verführte. Nach einer längeren Krankheit vernichtete ich alle meine Tagebücher, die ich von meinem fünfzehnten Jahre an durch volle fünfundzwanzig Jahre mit liebevoller Sorgfalt geführt hatte. Wozu diese schmerzliche Erinnerung an entschwundene glücklichere Zeiten? Und sollten sie, wenn ich stürbe, in fremde Hände fallen? So verbrannte ich denn einen Band nach dem andern und schaute mit schmerzlichem Behagen in das Kaminfeuer, wie die geliebten Blätter rasch aufflammten und sich dann zu schwarzen funkendurchsprengten Schichten zusammenballten. Nur meine Reisetagebücher wurden verschont; sie bestanden bloß aus kurzen täglichen Notizen. Wie oft, wie schwer habe ich dieses voreilige Autodafé bereut!

Während ich diese Zeilen schreibe (1894), erhalte ich den ersten Band von Gottfried Kellers Biographie. Wie schmerzlich packen mich die Worte, mit welchen der junge Keller sein Tagebuch einleitet: »Nicht bloß in Tagen der Mutlosigkeit, nein!, auch in Tagen der festlichen Freude will ich stille Momente verweilen und ausruhen im traulichen Schmollwinkel meines Tagebuchs. Ich will die schönsten Blüten erlebter Freude hineinlegen, wie die Kinder Rosen- und Tulpenblätter in ihre Gebetbücher legen; und wie sie sich dann in späteren Zeiten wehmütig erfreuen, wenn ihnen so ein verblichenes Blumenblatt in einem alten Buche zufällig wieder in die Hände fällt: so will ich mich in meinen letzten Erdentagen erfreuen an den Bildern entschwundener Freuden.« Um diese wehmütige Freude, die beglückender ist als so manche lärmende, habe ich mich selbst gebracht.

Quelle:
Hanslick, Eduard: Aus meinem Leben. Kassel, Basel 1987, S. 283-284.
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