5

[293] Am 17. Januar 1874 wurde in Wien ein neues schmuckes Theater eröffnet: die »Komische Oper«. Nach einem vielverheißenden Anfang hat sie allerhand Drangsale durchgemacht und nach wenigen Monaten ein schnelles Ende genommen. Trotzdem möchte ich der »Komischen Oper« hier mit einigen Worten gedenken; weil die einem wahren Kunstbedürfnis entsprungene Idee dieses Unternehmens mir unsterblich scheint und fruchtbringend über Wien hinaus für ganz Deutschland. Mit der Eröffnung des neuen Hoftheaters im Jahre 1869 hatte Wien eins der prächtigsten Schauspielhäuser in Europa erhalten. Von imposanter Eignung für die großen Opern Meyerbeers, Gounods, Wagners erwies es sich doch als zu groß für die Spieloper, das musikalische Lustspiel. Man hielt sich dieses Genre im neuen Opernhaus möglichst lang vom Leibe. Aber das Publikum sehnte sich bald danach, die angestrengten Sinne in den klaren Fluten einfacher Musik zu laben. Man gab ihm zeitweilig den »Fra Diavolo«, die »Weiße Frau«, den »Postillon«. Der intime Reiz dieser heiteren Genrebilder versagte jedoch in den weiten Hallen. Da begann in einigen musikalischen Köpfen die Überzeugung aufzudämmern, daß in Wien eine eigene Unternehmung für die Komische Oper not tue. Ich hatte längst und nachdrücklich dafür plädiert. So taten sich denn einige geschäftstüchtige und vermögende Kunstfreunde zusammen, bildeten eine Aktiengesellschaft und bauten ein neues Theater am Schottenring: Die »Komische Oper«. Der Name empfahl sich als wörtliche Übersetzung von »Opéra comique« und war in demselben Sinne zu verstehen, wie von jener berühmten Bühne, welche das musikalische Lustspiel vorzugweise, aber nicht ausschließlich pflegt. Da man bei uns die strenge Klausulierung der französischen Theaterprivilegien nicht kennt, so durfte die »Komische Oper« in Wien ihr Repertoire noch viel weiter ausdehnen als eine Pariser: italienische Opern mit Rezitativen (»Barbier«, »Liebestrank« etc.) geben, sich den Luxus eines kleinen Balletts erlauben, nach Herzenslust von Grétry bis Lortzing, von Dittersdorf bis Donizetti sich ausbreiten. Die Wiener »Komische Oper« konnte unter glücklichen Verhältnissen allmählich zur »Opéra comique« von Deutschland werden.

Das neue Haus war mit vornehmer Eleganz errichtet, nicht zu groß noch zu prachtvoll. Die Eröffnungsvorstellung, Rossinis[294] »Barbier«, erregte Jubel, Minnie Hauck, früher eine Zierde des Hofoperntheaters, sang die Rosina mit glänzender Virtuosität und natürlicher Heiterkeit. In Anton Erl (jetzt Mitglied der Dresdener Hofoper) war ein ausgezeichneter Almaviva gewonnen; Sohn und musikalisches Gegenstück des ehedem in Wien gefeierten Josef Erl, des Achilles unter den Heldentenoren. Da auch der schmucke, jugendliche Hermany als Figaro und der erprobte Baßbuffo Hölzl als Basilio ihr Bestes gaben und ein allgemeines Frohgefühl die ganze Aufführung belebte, so glänzte diese Eröffnungsvorstellung als ein sehr günstiges Omen. Nur zu bald jedoch ging es abwärts. Direktor Albin Swoboda, früher ein gefeierter Operettentenor, zeigte sich seinem neuen Amte nicht gewachsen. In kurzen Zwischenräumen folgten ihm nacheinander mehrere Direktoren ohne Namen und Autorität; sie konnten den Zusammensturz der so freudig begrüßten »Komischen Oper« nicht aufhalten. Vereinzelte Glanzpunkte brachten noch die Gastvorstellungen der Patti und der Lucca. Nachdem das Haus einige Zeit leer gestanden, erwarb es Franz Jauner und eröffnete es 1880 unter dem Titel »Ringtheater«. Es sollte hauptsächlich das Volksstück und das Lustspiel pflegen, brachte aber doch eine interessante Opernvorstellung: Offenbachs nachgelassene Oper »Die Erzählungen von Hoffmann«. Die erste Aufführung dieser Oper war auch die letzte – nicht bloß des Werkes, sondern des ganzen Theaters. Am nächsten Tage (den 8. Dezember 1881) vernichtete eine furchtbare Feuersbrunst das schmucke Haus und zugleich eine große Anzahl Menschenleben. An den Wiederaufbau einer »Komischen Oper« war nach diesem Unglück nicht zu denken; es sollte keine »Fenice« aus ihrer Asche entstehen. Der entsetzliche Eindruck dieser Schreckensnacht wirkt heute noch so lähmend auf die Wiener Bevölkerung, daß kein Theater es gewagt hat, jene Oper Offenbachs trotz ihres großen Erfolges wieder aufzunehmen.

Ich hege noch immer die stille Hoffnung, es werde in günstigeren Zeiten eine eigene »Opéra comique« in Wien wieder erstehen und in den großen Deutschen Residenzen Nacheiferung wecken. Das Prinzip der Arbeitsteilung, das in Wissenschaft, Kunst und Industrie unser modernes Leben durchdringt, verlangt auch im Theaterwesen sein Recht. Eine Bühne, die wie das Wiener Hofoperntheater auf die glänzende Repräsentation der Großen Oper angewiesen ist, kann unmöglich die Spieloper in gleicher Ausdehnung[295] und mit gleichem Erfolge pflegen. Selbst wenn sie es wollte; ihre Mittel würden den Dienst versagen. Die Sänger der Großen Oper, hauptsächlich mit Rücksicht auf starke ausdauernde Stimmen und leidenschaftlichen Gesangsvortrag ausgewählt, sind in der Regel ungeeignet für die leichte Konversationsoper; sie werden es von Jahr zu Jahr mehr in dem Maße, als die musikalische Tragödie immer entschiedener Alleinherrscherin wird. Nur in einem eigenen, stabilen Theater können sich Spezialitäten für die komische Oper ausbilden; ein Stil, eine Schule des Singens und Spielens in diesem Kunstfache. Ohne die Opéra comique in Paris wären viele der reizendsten Talente niemals zur Entfaltung gekommen, wahrscheinlich hätten sie zeitlebens sich als Nebenfiguren in der Großen Oper gefristet. So verkümmern zur Stunde in Deutschland zahlreiche Künstler, welche durch die Natur ihrer Stimme und ihres Talents für die Spieloper geschaffen sind, sich aber zu mittelmäßigen Wagnersängern hinaufschrauben, weil sie nur in diesem Fach eine Karriere zu hoffen haben. Ist wieder einmal eine eigene »Komische Oper« auf solider Basis eröffnet, so dürften Talente dieser Art aus ganz Deutschland ihr zuströmen und sich zur Meisterschaft entfalten. Und gerade so, wie jeder jugendliche Gesangsdebütant sich unbedenklich der Großen Oper widmet, so komponiert in Deutschland fast jeder Musiker, dem »etwas einfällt« oder auch nichts einfällt, heroische oder tragische Opern. Wo sollte er auch eine komische Oper zur Aufführung anbringen? Und ist sie angebracht, welch' kurze, zweifelhafte Laufbahn steht ihr weiter noch in Aussicht? In Paris ist es ganz anders; das Bedürfnis nach Novitäten für die Opéra comique und für das Théâtre Lyrique hält die Produktion in Fluß, und die bloße Existenz dieser Bühnen hat manchen Komponisten, dessen anmutiges Talent an einem tragischen Stoff zerschellt wäre, dem heiteren Genre und damit einem glücklichen Wirkungskreis zugeführt. Die Wiederaufrichtung einer eigenen »Komischen Oper« würde die erschreckende Sterilität des musikalischen Lustspiels in Deutschland allmählich heilen und den kräftigsten Hebel bilden für die Komposition neuer komischer Opern.

Quelle:
Hanslick, Eduard: Aus meinem Leben. Kassel, Basel 1987, S. 293-296.
Lizenz: