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[46] In Dresden stieg ich in einem ebenso miserablen als billigen, kleinen Gasthaus in der Querstraße ab, für welches mich der zudringlich geschäftige Besitzer gleich im Bahnhof abgefangen hatte. Am nächsten Morgen eilte ich – nicht zur Sixtina, noch ins grüne Gewölbe, sondern zu Schumann. Mit welchem Herzklopfen zog ich die Klingel seiner Wohnung in der Waisenhausstraße! Schumann erhob sich etwas schwerfällig am Klavier, auf welchem Bachs Choräle aufgeschlagen waren, und reichte mir freundlich schweigend die Hand. Ich redete ein Weilchen und wartete auf seine Antwort. Nach einer Pause rief Schumann: »Wie schade, daß Sie nicht einige Tage früher gekommen sind! Mendelssohn ist gestern nach England abgereist! Wenn Sie doch Mendelssohn kennengelernt hätten!« So sehr ich dies bedauerte, heimlich mußte ich mir doch gestehen, daß ich nach der Bekanntschaft Schumanns mich noch mehr gesehnt hatte. Mendelssohns Musik hat, trotz ihres schönen Adels, mich doch niemals so tief im Innersten bewegt wie die Schumanns; auch mochte ich in Prag mit Mendelssohn etwas übersättigt worden sein. Aber in Schumanns Klavierstücke und Lieder mich zu vertiefen, bereitete mir eine Wollust, an der ich mich nicht ersättigen konnte. Von seinen größeren Werken war damals außer »Paradies und Peri« noch nichts bekannt. So sehr ich seine späteren Meisterwerke, die Streichquartette, das Klavierquartett, die Symphonien verstehen und lieben gelernt: die wunderbare Eigenart seines »Eichendorffschen Liederkreises«, seiner Humoreske, seiner Kreisleriana und Novelletten bleibt doch als etwas ganz Einziges stehen in dem Schaffen Schumanns. Nach einer Weile begann er wieder von Mendelssohn: »Sehen Sie, das hat er mir vor seiner Abreise geschenkt, das schöne Buch!« Er reichte mir einen Band hin: »Tristan und Isolde«, nicht die noch ungeborene Wagnersche Dichtung, sondern das Original von Gottfried von Straßburg, in Simrocks Übertragung, mit einer handschriftlichen Widmung Mendelssohns. Gerne hätte ich jetzt etwas über sein eigenes Leben und Schaffen gehört; aber Schumann versank immer mehr in Schweigen und schien nur aufmerksam die Wölkchen seiner Zigarre in ihrem Aufschweben zum Plafond zu verfolgen. Nach einigen vergeblichen Versuchen, ihn mit Mitteilungen aus dem Prager Musikleben zu unterhalten, begann ich mich als Soloredner[47] unbehaglich zu fühlen. Ich fürchtete, er wolle mich fortschweigen, und entschloß mich, rasch aufbrechend, das Prävenire zu spielen. Da legte er mir eine Hand auf die Schulter. »Ich muß Sie doch zu Clara führen!« Er öffnete die Tür des anstoßenden Zimmers: »Clara! Herr Hanslick aus Prag ist da; du mußt ihm etwas spielen!« – »Was soll ich spielen?« fragte Frau Schumann mit der scharfen norddeutschen Aussprache des »sp«. Um mich mit etwas ganz Neuem bekannt zu machen, wählte Schumann die »Canons für das Pedalklavier«. Mich entzückte diese meisterhafte Behandlung der Kanonform, welche nur gleichsam durchschimmert, sich nicht pedantisch vordrängt. Aber meine Sehnsucht ging nach etwas anderem, nach einem der älteren Stücke, durch die Schumann mir teuer geworden. Ich bat um etwas aus seiner »Sturm- und Drangperiode«. Dieser Ausdruck, in Anwendung auf seine ersten Kompositionen, frappierte Schumann; er wiederholte ihn lächelnd einigemale. Clara spielte einige der schönsten Nummern aus den »Davidsbündlertänzen«. Damit sollte mein genußreicher Schumann-Tag noch nicht zu Ende sein. Schumann lud mich ein, am Nachmittag mit ihm und seiner Familie einen Spaziergang in den »Großen Garten« zu machen. Clara ging mit dem ältesten Mädchen voraus, Schumann führte das zweite an der Hand, ich das jüngste, Julie, ein wunderschönes Kind, das Schumann scherzend meine Braut nannte. An einem großen Tisch, unter schattigen Bäumen, setzten wir uns zum Kaffee nieder, und ich habe sogar diesen berüchtigten sächsischen Kaffee vorzüglich gefunden, weil ich ihn an der Seite Schumanns trank. Diesen konnte ich jetzt in seinem Behagen und seiner Zärtlichkeit als Familienvater betrachten. Gesprochen hat er allerdings auch hier sehr wenig, aber sein freundlich, fast kindlich blickendes Auge und sein wie zum Pfeifen gespitzter, lächelnder Mund schienen mir von ganz eigener, rührender Beredsamkeit. Auf meine Erwähnung, daß ich begierig sei, am nächsten Abend den »Tannhäuser« zu hören, erbot sich Schumann zu meiner großen Freude, mir die eben erschienene autographierte Partitur auf einen halben Tag zu leihen. Ob er mit Wagner verkehre? »Nein,« erwiderte Schumann, »für mich ist Wagner unmöglich; er ist gewiß ein geistreicher Mensch, aber er redet in einem fort. Man kann doch nicht immer reden.«

Am nächsten Morgen eilte ich, die schwere »Tannhäuser«-Partitur unter dem Arm, zeitlich früh auf die Brühlsche Terrasse,[48] frühstückte dort und durchflog mit Feuereifer den »Tannhäuser«. Gegen Mittag besuchte ich Wagner. Er empfing mich sehr freundlich und bat mich für ein Weilchen auf dem Sofa Platz zu nehmen, da er einen Sänger probieren müsse. Es war ein junger Tenorist aus der weit verzweigten Theaterfamilie Brandes. Dieser schlug Wagner eine Menge Opern vor, aus denen er ihm vorsingen wolle, aber Wagner besaß keinen einzigen Klavierauszug irgend einer Oper. Endlich meinte er, die Arie Taminos aus der »Zauberflöte« werde er wohl auswendig begleiten können. Dies brachte er natürlich auch zuwege, wenn auch mit auffallend ungeübter Klaviertechnik. Der Tenorist wurde, wie mir schien, für gut befunden und empfahl sich. Wagner kam dann auf allerlei musikalische Zustände und Persönlichkeiten Dresdens zu sprechen, auch auf Schumann. »Wir stehen äußerlich gut miteinander; aber mit Schumann kann man nicht verkehren: er ist ein unmöglicher Mensch, er redet gar nichts. Bald nach meiner Ankunft aus Paris besuchte ich ihn, erzählte ihm eine Menge interessanter Dinge über die Pariser Oper, die Konzerte, die Komponisten, – Schumann sah mich immer unbeweglich an oder schaute in die Luft und sagte kein Wort. Da bin ich aufgesprungen und fortgelaufen. Ein unmöglicher Mensch.«

Der Abend brachte mir ein ersehntes, unvergeßliches Theatererlebnis: die Aufführung des »Tannhäuser« in dem schönen (seither abgebrannten) Dresdener Hoftheater. Wagner dirigierte, seine Nichte Johanna Wagner sang die Elisabeth, Tichatschek den Tannhäuser, Mitterwurzer (der Vater des heute gefeierten Schauspielers) den Wolfram, Dettmer den Landgrafen. Die Oper übte auf mich eine bedeutende, stellenweise berauschende Wirkung. Schumann und seine Frau saßen neben mir im Parkett, verhielten sich aber sehr schweigsam. Am nächsten Morgen machte ich eine Fußwanderung durch die sächsische Schweiz. Auf dem Felsenplateau, welches die »Bastei« heißt, traf ich Wagner und seine Nichte Johanna und konnte ihnen für den Genuß vom gestrigen Abend danken.

Von Dresden unternahm ich einen zweitägigen Ausflug nach Leipzig, das ich nicht kannte. Ich fragte Schumann zuvor, wo ich noch in Leipzig »Davidsbündler« antreffen könnte? Die seien fast alle zerstreut, meinte Schumann, doch wolle er mir ein Bierhaus angeben, wo ich abends den Professor Wenzel und noch ein oder zwei der alten Genossenschaft finden dürfte. Am Morgen,[49] da ich mich von ihm verabschiedete, gab mir Schumann zu meiner freudigen Überraschung noch ein Briefchen an den Verleger Whistling mit, dem er ein Heft Lieder von mir zur Herausgabe empfahl. Ein schöner, bezeichnender Zug seiner Herzensgüte! Ich hatte Schumann meine Lieder mit der Bitte überreicht, sie durchzusehen und mir zu sagen, ob dieselben gut genug wären, um gelegentlich gedruckt zu werden. Ihn selbst um einen Verleger anzugehen, hätte ich nicht gewagt, doch mochte er nur zu gut wissen, daß ich ohne besondere Empfehlung keinen finden würde. Über die Lieder selbst sagte er kein Wort, sondern reichte sie mir nur schweigend samt dem Empfehlungsbrief, der ja an sich schon ein nicht ungünstiges Urteil bedeutete. In Leipzig angelangt, wollte ich, nachdem ich die Stadt durchstreift hatte, die »letzten Davidsbündler« in ihrem Bierhaus aufsuchen. Ich zog den Zettel hervor, auf dem Schumann mir das Schild und die Adresse desselben aufgeschrieben, – aber ich vermochte die Bleistiftzeilen nicht zu entziffern. Niemand, dem ich den Zettel zeigte, konnte daraus klug werden. Schumanns Schrift verfiel, wenn er eilig schrieb, in wunderliche Hieroglyphen. Ich hatte dies schon einmal erfahren. Die Schlußworte seines ersten Briefes an mich nach Prag las jedermann, dem ich das Blatt zeigte: »in dieser staubigen Festung«. In Wahrheit hieß es aber: »in dieser freudigen Hoffnung«. Die Unleserlichkeit der Leipziger Adresse war für mich natürlich von bedenklicheren Folgen. Mich rettete nur der glückliche Zufall, daß man mir in einer Musikalienhandlung sagen konnte, welches Bierhaus Professor Wenzel abends zu besuchen pflege. Da konnte ich denn dem wackeren, geistreichen Mann die Grüße Schumanns überbringen und mit diesem letzten der Leipziger Davidsbündler über die glorreiche Jugendzeit der romantischen Musik sprechen. Am nächsten Morgen überbrachte ich Herrn Fr. Whistling Schumanns Brief und meine Lieder. Er ließ sie sich von mir vorspielen, fand Gefallen daran, seufzte aber mit gutem Grund bei dem Gedanken, Lieder eines unbekannten jungen Menschen in Verlag nehmen zu sollen. Er tat es dennoch, aber ich habe nie wieder davon gehört. Auf meine späteren Anfragen von Wien aus, auf meine Bitte, mir wenigstens mein Manuskript zurückzuschicken, von dem ich keine Abschrift besaß, erhielt ich keine Antwort. Ich konnte nur nachträglich in Erfahrung bringen, daß der Whistlingsche Verlag in andere Hände übergegangen sei, bei welcher Gelegenheit meine armen Lieder[50] verschwunden sein mögen. Die Welt hat nichts daran verloren; mir aber tat es leid um drei von meinem Freunde Robert Zimmermann gedichtete Sonette, die ich mit außerordentlicher Liebe komponiert hatte.

Obwohl aus mir kein Komponist geworden ist, darf ich doch die Zeit und Mühe nicht bereuen, die ich auf einen ansehnlichen Stoß von bescheidenen Kompositionsversuchen verwendet habe. »Das Komponieren,« schrieb mir einmal Ferdinand Hiller, »ist ein so hübsches Vergnügen, und so billig!« Für den Musikkritiker ist dieses »Vergnügen«, wie ich glaube, ein wertvolles Rüstzeug, wo nicht eine Vorbedingung für seine Wirksamkeit. Nicht, als ob man selbst ein bedeutender Komponist sein müsse, um die Tondichtungen anderer zu beurteilen. Aber man muß durch eigene Versuche mit der Technik dieser Kunst sich befreundet, mit ihren Schwierigkeiten gerungen haben. Der Kritiker muß selbst probiert haben – mit vollem Ernst, wenn auch mit bescheidenstem Talent, – »wie man es macht«. Der Ästhetiker Vischer sagt gelegentlich seines Romans »Auch Einer«, er habe dabei er fahren, daß man eine Kunst erst dann recht versteht, wenn man sich darin versucht hat. Niemand verlangt von einem Historiker und Kritiker der bildenden Künste, daß er als Maler selbst etwas leiste, aber wenn er nicht so viel zeichnen kann, um auf Reisen einen Tempel, eine Statue, ein Haus in seinem Skizzenbuch festzuhalten, würde ich ihn bedauern. Richtig sehen, richtig hören können ist gewiß die erste Bedingung für den Kritiker; aber volle Sicherheit erlangt er doch erst, wenn das Machen-Können, sei es auch mit bescheidenem Erfolg, hinzutritt.

Daß der Musikkritiker ein tüchtiger Pianist oder Geiger sei, ist ein allgemein anerkanntes, auch meistenteils erfülltes Verlangen. Aber es wird ihm außerdem auch sehr zum Vorteil gedeihen, wenn er selbst gesungen oder wenigstens singen gelernt hat. Wie die verschiedenen Register der Stimme zusammenhängen, welche Intervalle schwierig zu intonieren, welche Silben unbequem zu singen sind, wie der Atem einzuteilen und auszusparen sei, – das alles sollte man nicht bloß aus Büchern gelesen, sondern an sich selbst als Gesangschüler erfahren haben. An dem Baritonisten Arnold Vogel, dem späteren Gesangsprofessor am Prager Konservatorium, hatte ich als Student einen sehr tüchtigen, musikalisch gebildeten Gesangslehrer. Ich trieb das Singen nur gar zu leidenschaftlich und verdarb meine kleine Tenorstimme bald[51] gänzlich mit Opernarien, in welchen ich möglichst viele hohe b und h mit der Brust hervorschmettern konnte. Das geschah natürlich nicht in der Lektion; Vogel wußte nichts davon, hatte aber nur zu bald Gelegenheit, den irreparablen Schaden zu konstatieren. Ich hatte niemals die Idee, Sänger zu werden; aber mein bißchen Gesangsunterricht und Gesangsübung würde ich nicht gern vermissen. Es wäre Musikkritikern, die ihre Aufgabe ernst nehmen, recht sehr zu empfehlen. Vielleicht ein ungebührliches Verlangen in unseren Tagen, wo selbst namhafte Komponisten für Gesang schreiben, ohne je singen gelernt zu haben. Man merkt es auch an ihren Liedern, die dramatisch, stimmungsvoll, geistreich, kurz alles Mögliche sind, nur nicht – sangbar.

Von meinem kurzen Leipziger Aufenthalt erwähne ich sonst nur die flüchtige Bekanntschaft mit Robert Blum, der damals noch harmlos und unberühmt, an der Theaterkasse saß und Billette verkaufte. Einen politischen Beigeschmack hatte also die Bekanntschaft nicht.

Quelle:
Hanslick, Eduard: Aus meinem Leben. Kassel, Basel 1987, S. 46-52.
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