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[20] Den ersten Unterricht in der Musik, wie in allem anderen, erteilte mir der Vater. Wir besaßen ein gutes, altmodisches Piano in Tafelform, das außer den gewöhnlichen Pedalen noch einen Fagottzug und eine »türkische Musik« hatte – ein Hauptspaß für uns Kinder. Neigung und Aufmerksamkeit für Musik zeigte ich schon mit vier oder fünf Jahren. Es gehört zu meinen frühesten und deutlichsten Erinnerungen, daß ich, in eine Ecke des Zimmers gekauert, regungslos lauschte, wenn mein Vater in der Dämmerung Klavier spielte. Die Ouvertüren zu »Don Juan« und »Figaros[20] Hochzeit«, zu »Prometheus« von Beethoven und zu »Leonore« von Tomaschek waren seine Lieblingsstücke, die er stets auswendig und mit großer Geläufigkeit spielte. Wenn ich von den beiden letzteren Stücken, die ich nur von meinem Vater gehört habe, heute auch bloß die Anfangstakte spiele, fühle ich mich vollständig in die Stimmung, in das musikalische Dämmerlicht jener ersten Kinderjahre versetzt. Allmählich wagte ich aus meinem Inkognito in der Ecke hervorzutreten und den Vater immer häufiger zu bitten, etwas zu spielen. Er legte damals keinen Wert mehr auf sein Klavierspiel und nannte es bloß ein »Ausruhen« von seiner Arbeit. Später bekamen wir älteren Geschwister einen damals gesuchten Klavierlehrer von trockenster Korrektheit in der Person eines gewissen Ed. Hofmann, eines immer keuchenden und schwitzenden dicken Mannes.

Als ich rasche Fortschritte machte, vieles nach dem Gehör nachspielte, auf dem Klavier zu phantasieren und kleine Stückchen zu komponieren begann, beschloß mein Vater, mich zu einem, gründlichen, angesehenen Musiker in die Lehre zu geben. Das konnte kein anderer sein als Wenzel Johann Tomaschek, der anerkannt bedeutendste Komponist und Lehrer, der »Musikpapst« oder »Musik-Daleilama« von Prag, wie man ihn nannte. Sehr groß und beleibt, mit dem Ausdruck magistraler Würde, erinnerte er in der Erscheinung etwas an Spohr, sogar bis auf die schlechtgemachte braune Perücke. Er war von starkem Selbstbewußtsein erfüllt. Das geflügelte Wort Dingelstedts »Sie glauben gar nicht, wieviel Lob ich vertragen kann«, es hätte auch ganz ernsthaft von Tomaschek gesprochen sein können. Aber sein Selbstgefühl entbehrte nicht der Berechtigung. Tomaschek war ein bedeutender Komponist, erfindungsreich, fruchtbar, von strenger Schulung. Seine Musik ist immer männlich und charaktervoll; innig, ohne Weichlichkeit in den Liedern, geistreich, lebendig, ohne Koketterie in seinen Klavierstücken, würdevoll, auch prächtig in den Kirchenkompositionen. Wenn ihr eine Eigenschaft abging, so war es das Einschmeichelnde, sinnlich Reizende. Es ist hier nicht der Ort, die reiche Fülle von Tomascheks Werken kritisch zu beleuchten, wohl aber glaube ich sagen zu dürfen, daß sie kaum nach Verdienst bekannt und anerkannt worden sind. Der musikalische Areopag der »Wissenden« hat zwar Tomascheks Wert seinerzeit voll gewürdigt, aber ins große Publikum, über Prag hinaus, sind seine Kompositionen selten gedrungen.[21] Das bittere Gefühl der Zurücksetzung, des Ignoriertwerdens neben Hummel, Moscheles und anderen Zeitgenossen, die er nicht an Glanz und Zierlichkeit, wohl aber an Energie, an harmonischem Reichtum und kontrapunktischer Kraft übertraf, mochte die Empfindlichkeit seiner Eigenliebe verschärft haben. Es ging Tomaschek wie noch manchen anderen Gelehrten und Künstlern, die als echte Prager zeitlebens in Prag hocken blieben. So ist der ausgezeichnete Schauspieler Rudolf Bayer (der Vater der gefeierten Marie Bayer-Bürck), damals der beste »Wallenstein«, in Deutschland unbekannt geblieben, da er nicht zu bewegen war, außerhalb Prags zu gastieren. Dasselbe war der Fall mit den Sternen der ehedem vortrefflichen Prager Oper. Tomaschek hatte es versäumt, in jungen Jahren, da er zu den stärksten Klavierspielern zählte, Kunstreisen zu unternehmen und seine Kompositionen selbst bekannt zu machen. So blieb er zeitlebens als Virtuose und Komponist eine verhätschelte Prager Lokalberühmtheit. Nach seinem Tode stand aber bereits ein ganz anderer Musikstil im Zenit. Die Romantik Mendelssohns, Schumanns, Chopins und ihrer Zeitgenossen rauschte über Tomaschek hinweg. Nur ein Genie allerersten Ranges, was Tomaschek bei allen Vorzügen doch nicht war, kann darauf zählen, die bei Lebzeiten versäumte Anerkennung nach seinem Tode zu erringen. Alexander Dreyschock und Julius Schulhoff haben noch hin und wieder den Namen ihres Meisters in ihren Konzerten aufgefrischt, seitdem ist er so gut wie verschollen.

Mein Musikunterricht bei Tomaschek währte vier Jahre; eine Stunde wöchentlich war dem Klavierspiel gewidmet, zwei der musikalischen Theorie: Harmonielehre, Kontrapunkt, Fuge, Instrumentierung und Kompositionsversuche. Im Klavier unterrichtete er nur bereits vorgeschrittene Schüler. Als unentbehrliche Grundlage studierte er mit jedem von uns das wohltemperierte Klavier von Bach. Ich erhielt als Aufgabe jedesmal eine Fuge samt Präludium, die ich in der nächsten Lektion fehlerfrei, und zwar auswendig spielen mußte. Kein Wunder, daß ich sechs bis sieben Stunden täglich am Klavier zubrachte, was an schönen Sommernachmittagen, während meine Geschwister mit den Eltern sich im Freien ergingen, mir oft schwer aufs Herz fiel. Aber Tomaschek war ein überaus strenger Lehrer; daß er überdies für die damaligen Prager Verhältnisse ein sehr teurer war, steigerte den Eifer und die Gewissenhaftigkeit des Schülers. Außer Bach[22] wurden hauptsächlich Beethovensche Sonaten (mit Ausschluß der letzten) studiert, Rhapsodien und Sonaten von Tomaschek, sämtliche Etüden von Thalberg, Chopin und Henselt, selbst einiges von Liszt. Man sieht, daß Tomaschek keineswegs ein so pedantischer, unmoderner Meister gewesen, wie er oft geschildert wird. Er wußte sehr gut, daß junge Pianisten die Werke der modernsten Klaviertechnik studieren und bewältigen müssen. Ich habe sie auch alle gut gespielt und unter Tomascheks unbarmherziger Leitung ein hübsches Kapitel von Technik gesammelt, von dem ich später lange zehren konnte, als die juridischen Studien, das Doktorat, der Staatsdienst dem eigentlichen »Üben« am Klavier für immer ein Ende machten. Die Klavierstunde hatte ich allein; an dem theoretischen Unterricht nahmen zugleich mit mir drei junge Musiker teil: Julius Schulhoff, Wilhelm Kuhe und Hanns Hampel. Schulhoff hat später als Virtuose und anmutiger Klavierkomponist halb Europa bezaubert und nur allzu vorzeitig sein öffentliches Wirken beschlossen; er lebt gegenwärtig in Berlin und ist mir bis zur Stunde ein treu anhänglicher Freund geblieben. Kuhe hat sich in Brighton angesiedelt und bei den Engländern sein Glück gemacht als Klavierlehrer, Virtuose und Konzertunternehmer. Hampel, ein kränklicher Sonderling von originellem Talent, trat nie in die Öffentlichkeit und ist in seiner Prager Verkrochenheit früh erloschen.

Meine musikalischen Kenntnisse habe ich mir in dem vierjährigen Kursus nicht ohne starke geistige Anspannung errungen, da ich gleichzeitig die philosophischen Jahrgänge an der Universität hörte und strenge Semestralprüfungen abzulegen hatte. Aber auch physische Anstrengungen durfte ich nicht scheuen. Tomaschek erteilte Unterricht nur in seiner Wohnung, die weit auf der Kleinseite, gegenüber dem Waldsteinpalais, lag. Ich hatte vom Roßmarkt eine gute halbe Stunde zu gehen, über die steinerne Brücke, was im strengen Winter, zeitlich früh, nicht verlockend war. Als ich das erstemal mit vor Kälte steifen Fingern zu der Klavierstunde kam, erhielt ich von Tomaschek einen Verweis und den Befehl, mir einen Muff anzuschaffen. Das genierte mich fast noch mehr als die Kälte, denn ein Student mit den Händen in einem Muff war eine sehr auffallende Erscheinung. Aber es half nichts. Gehorcht mußte werden, in allen Dingen. Wenn ich Tomascheks Unterricht im Klavierspiel, in der Harmonielehre und im Kontrapunkt als einen sehr gründlichen und tüchtigen rühmen[23] muß, kann ich doch die Lücken desselben nicht verschweigen, Lücken, die speziell meinem Wissensdrang sehr empfindlich waren. Wir hörten bei Tomaschek nicht das mindeste über die historische und ästhetische Seite der Musik. Das Interesse dafür, bei den älteren Musikern jener Zeit überhaupt sehr schwach, schien unserem, im rein Musikalischen aufgehenden Meister völlig zu fehlen. Nie streifte er auch nur vorübergehend die geschichtliche Entwicklung der Musik, nie hörten wir etwas von dem Leben und Wirken Bachs, dessen Klavierstücke wir doch eifrig spielten. Von den Spitzen der geistlichen, der symphonischen, der dramatischen Musik, von unserem Zusammenhang mit Italien und Frankreich nicht die leiseste Erwähnung. Ebenso fern wie historische Belehrung lagen unserem Meister ästhetische Erklärungen. Er ließ uns Beethovensche Sonaten spielen, ohne anzudeuten, worin das Schöne, das Eigentümliche derselben liege, worin ihre Form sich von derjenigen Haydns oder Mozarts unterscheide. Daß Tomaschek schlechtweg ein »Gegner Beethovens« gewesen, ist eine arge Übertreibung. Allerdings war Mozart sein Ideal, aber den früheren Beethoven stellte er ihm, namentlich als Klavierkomponisten, mindestens gleich. Die letzten Werke Beethovens scheint er so wenig gekannt zu haben wie damals irgend jemand in Prag, die letzten Quartette und die Festmesse gewiß nicht. Ich erinnere mich des gewaltigen Aufsehens, welches unter den Pragern die erste Aufführung (oder eine der ersten) der Neunten Symphonie erregte. Tomaschek war von den Anfangstakten derselben so entsetzt, daß er am liebsten gleich den Saal verlassen hätte. Er polterte den ganzen Tag darüber. Sonst hat Tomaschek, solange ich ihn kannte, kein Konzert und keine Oper mehr besucht. Er stand abseits der musikalischen Strömung. Das hatte für uns den Nachteil, daß Tomascheks Unterweisung der Aktualität entbehrte, des lebendigen Zusammenhanges mit der Gegenwart. Er konnte mit uns von keiner der neuen epochemachenden Opern oder Orchesterkompositionen sprechen, uns nicht auf die Vortragsweisen bedeutender Künstler oder auf bestimmte Instrumentaleffekte aufmerksam machen. Um mir seinen rein theoretischen Unterricht in der Instrumentierung zunutze zu machen, studierte ich fleißig in der Universitätsbibliothek die Partituren der Mozartschen Opern, welche (in Abschriften) dort vollständig vorlagen. Uns im Partiturlesen zu üben, hatten wir bei Tomaschek keine Gelegenheit; auch das[24] mußte durch eigenen Fleiß und auf eigene Faust nachgeholt werden.

Tomaschek bekleidete in Prag keinerlei Amt, keine Würde. In jüngeren Jahren war er Klavierlehrer bei dem Grafen Georg Bouquoi gewesen, den er auch im Sommer auf dessen Güter begleitete. Er war mit Dekret und auf Grund eines mit juristischer Genauigkeit abgefaßten Kontraktes zum »Kompositeur des Grafen Bouquoi« ernannt und mußte diesen Titel – eines der letzten Überbleibsel jenes patriarchalischen Verhältnisses zwischen Musikern und Kavalieren – auch unter jede seiner Kompositionen setzen. Obgleich ohne offizielle Stellung, hatte Tomaschek doch einen so großen Ruf und so festbegründetes Ansehen, daß ihm Schüler von weither, insbesondere aus Rußland und Polen zuströmten und kein namhafter Komponist oder Virtuose nach Prag kam, ohne Tomaschek seine »Aufwartung« zu machen. Auch wurde eine Einladung zu den musikalischen Soireen, die Tomaschek zeitweilig in seiner Wohnung gab, sehr geschätzt. Er ließ da meistens nur seine eigenen Kompositionen spielen. Wir mußten alles auswendig vortragen, was damals noch gar nicht Sitte war, uns aber als gute Gewöhnung sehr zu statten gekommen ist. Das Solospiel machte mir keinen Kummer, da konnte man sich helfen, falls in einer langen Sonate oder Phantasie das Gedächtnis für einen Augenblick versagte. Aber lange vierhändige Stücke vor einer großen Versammlung auswendig spielen zu müssen, wo man auch von dem Gedächtnis seines Partners abhing, hatte mir immer etwas Ängstliches. An einem dieser Gesellschaftsabende ließ Tomaschek fast seine ganze Oper »Seraphine« bei Klavierbegleitung aufführen. Die Ouvertüre spielten Schulhoff und ich auswendig. Die Gesangsstücke begleitete Tomaschek selbst. Die Titelrolle sang Tomascheks Schülerin, Fräulein Julie von Lämmel, welche später als Frau von Ladenburg in Wien eine hervorragende gesellschaftliche Rolle gespielt hat und in dem Gedächtnis ihrer zahlreichen Freunde und Verehrer fortlebt. Alexander Dreyschock, vor Schulhoffs Auftreten Tomascheks berühmtester Schüler und einer der erstaunlichsten Virtuosen – im Oktaven- und Sextenspiel noch heute unübertroffen –, zierte, von seiner ersten Kunstreise zurückkehrend, einen dieser Abende mit dem Vortrage Tomaschekscher »Rhapsodien«. Wie glänzte das breite, ernste Gesicht seines Meisters von Stolz und Freude! Daß die Programme dieser Hausunterhaltungen[25] fast ausschließlich aus Tomaschekschen Kompositionen bestanden, konnte man dem alten Herrn nicht verübeln. Er hatte ja in der Öffentlichkeit höchst selten die Freude, sich zu hören. Der ernste Charakter seiner Musik und das Schroffe, Unzugängliche seiner Persönlichkeit teilen sich in die Schuld. Als ich im Frühjahr 1850 von Wien aus meinen Vater besuchte, fand ich Tomaschek schwer krank an der Wassersucht, in seinem Bette, schwach, nach Atem ringend. Es war mir ein Trost, ihm noch zum Abschied die Hand drücken zu können. Er starb bald darauf im Alter von sechsundsiebzig Jahren. Persönlich hat er nicht viel Sympathien in Prag zurückgelassen, aber seine Schüler bewahren ihm eine dankbare Erinnerung.

Quelle:
Hanslick, Eduard: Aus meinem Leben. Kassel, Basel 1987, S. 20-26.
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