9

[38] In Prag war in den vierziger Jahren ein belletristisches Journal »Ost und West« entstanden, das auch über die Grenzen Österreichs hinaus sich eines gewissen Ansehens rühmen durfte. Das ganze poetische und literarische junge Prag hat sich in diesem Blatt mit Gedichten, Novellen, Kritiken seine Sporen verdient; so Alfred Meißner, Moritz Hartmann, Uffo Horn, Robert Zimmermann, Friedrich Bach u.A. Auch Robert Schumann stand auf der Liste der Mitarbeiter, hat aber, meines Wissens, keinen Beitrag geliefert. Der Redakteur, Rudolf Glaser, Skriptor an der Universitätsbibliothek, hatte eine Schwester des Dichters Karl Egon Ebert zur Frau, eine geistreiche, literarisch geschulte Dame; eine andere Schwester Eberts war an den Kompositeur Tomaschek verheiratet gewesen. So stand denn Glaser durch die Verschwägerung mit dem ersten Poeten und dem ersten Musiker Prags inmitten des Kunstlebens. Durch Freunde, die bereits mit Glück ihre Flügel in »Ost und West« erprobt hatten, ließ Glaser mich ersuchen, das Musikreferat für sein Blatt zu übernehmen. Mein Vater war anfangs dagegen; er fürchtete vor allem, die Journalistik werde meine juridischen Studien beeinträchtigen, auch wünschte er nicht, daß ich mit dem Theater zu tun bekäme. Da jedoch der Redakteur Glaser sich das Theaterreferat selbst vorbehielt, hatte ich nur über die in Prag noch recht spärlichen Konzerte zu schreiben, und beide Bedenken meines Vaters waren gehoben. Mir war meine neue Nebenbeschäftigung erwünscht als Sache des Studiums und der eigenen Fortbildung; auch beschränkte ich mich in den ersten Monaten auf kurze Berichte ohne Namensunterschrift. Nur wer es selbst erlebt hat, kennt die fieberhafte, zwischen Angst und Wonne schwebende Erwartung, sich zum erstenmale gedruckt zu sehen. Eine gute halbe Stunde vor Eröffnung des Zeitungskomptoirs (es war an einem Dezemberabend 1844)[38] schlenderte ich dort auf und nieder, um das Blatt mit meinem ersten Konzertbericht in Empfang zu nehmen. Welcher Schrecken, als ich die kurze, kleingedruckte Notiz las, die mir in meiner Handschrift dreimal so lang vorgekommen war! Freilich hatte man mir auch noch, gleich bei meinem ersten journalistischen Debüt, einen Zensurstrich versetzt. In dem von mir besprochenen Konzert war das erste Finale aus Glucks »Armida« gesungen worden. Indem ich die gänzliche Abwesenheit Glucks auf dem Prager Opernrepertoire beklagte, verglich ich die Verehrer des Meisters, die nur fragmentarische Konzertaufführungen seiner Opern zu hören bekamen, mit den ersten Christen, die ihren Gottesdienst heimlich in Katakomben abhalten mußten. Die ganze Stelle, auf die ich mir nach Art junger Anfänger etwas zugute getan, war von der Zensur gestrichen. Anspielungen auf die Religion durften nicht vorkommen. Um was diese liebe Zensur sich alles zu kümmern hatte!

Meine bescheidenen Anfänge in der Musikkritik hatten für mich das Gute, daß ich sie vollkommen sachlich hielt und sehr ernst nahm. Ich urteilte über keine Komposition, ohne sie vor der Aufführung und nochmals nach derselben zu lesen oder durchzuspielen, – eine Gewohnheit, der ich bis auf den heutigen Tag, also nahezu ein halbes Jahrhundert gewissenhaft treu geblieben bin. Meine Tätigkeit als Konzertkritiker flößte mir ein lebhafteres Interesse, als ich vordem gehabt, für symphonische und Kammermusik ein. Die tiefsten musikalischen Eindrücke hatte ich ja in der Jugend von der Oper empfangen. Mit der Gewalt, welche der »Freischütz« über mich geübt, konnte sich keine Konzertmusik messen. Ein gruseliges Wonnegefühl, ein himmlisches Schauern ließ nach einer solchen Vorstellung mich lange nicht einschlafen, und das erste beim Erwachen war, mir tastend am Klavier die zauberischen Melodien ins Gedächtnis zurückzurufen. Nach dem »Freischütz« waren Spohrs »Jessonda« und »Faust«, dann Marschners »Hans Heiling« und »Templer und Jüdin«, endlich Meyerbeers »Hugenotten« die Opern, welche mich in einen Rausch – einen sehr nachhaltigen Rausch – des Entzückens versetzten. Gegen die dramatische Charakterzeichnung, die romantische Färbung, die dämonische Glut dieser Opern erschien mir Mozart zahm und verblaßt. Seine Größe ist mir erst später völlig klar geworden. Den »Fidelio« kannte ich nur aus dem Klavierauszug; im Theater konnte er nicht gegeben werden,[39] da unsere erste dramatische Sängerin, die treffliche Henriette Großer, sich kontraktlich ausbedungen hatte, in keiner »Hosenrolle« aufzutreten. Auch Glucksche Opern existierten damals nicht für das Prager Theater. Desto beliebter waren die Opern von Weber, Spohr, Marschner, Lortzing, Auber und Halévy, endlich Meyerbeers »Robert« und »Die Hugenotten«. In meiner früheren Jugendzeit waren die Sängerinnen Podhorsky und Jenny Lutzer und der Bariton Pöck die Sterne der Oper; etwas später die Großer, der Bariton Kunz, die Tenöre Demmer und Emminger, der Bassist Strakaty. Welch tiefen, unauslöschlichen Eindruck, – unausgelöscht auch durch später erlebte bessere Darstellungen – machen die ersten Theatererlebnisse auf ein jugendlich empfängliches Gemüt! Übrigens galt die Prager Oper 1835–1845 allgemein für vorzüglich; das Orchester unter Franz Skraup war musterhaft, und Direktor Stöger ließ es an trefflicher Regie und Ausstattung nicht fehlen.

Quelle:
Hanslick, Eduard: Aus meinem Leben. Kassel, Basel 1987, S. 38-40.
Lizenz: