[40] Das Konzertrepertoire bewegte sich in dem damals üblichen bequemen Geleise. Etwas besonders Aufregendes war bis zum Jahre 1846 nicht erschienen. Es sollte nicht lange auf sich warten lassen. Hector Berlioz kam im Januar 1846 nach Prag und gab eine Reihe von Konzerten. Der Name Berlioz war dem Prager Publikum so gut wie unbekannt. Nur unser kleiner Kreis, dessen Brevier Schumanns Aufsätze in der Leipziger »Neuen Zeitschrift für Musik« bildeten, schwärmte im vorhinein für den genialen Franzosen. Wir waren voreingenommen durch die enthusiastischen Kritiken Schumanns, R. Griepenkerls, Dr. Bechers und die Schilderungen Heines. Von Berlioz' Kompositionen hatten wir nur das vierhändige Arrangement der »Lear«-Ouverture und die Lisztsche Klavierbearbeitung der »Sinfonie fantastique«, welche unermüdlich durchgepaukt wurden. Ambros und ich kamen täglich zu Berlioz in den Gasthof zum »Blauen Stern« und begleiteten ihn in die Proben; wir waren willkommen als enthusiastische Anhänger, ich überdies als brauchbarer Dolmetsch und Übersetzer. Berlioz verstand kein Wort deutsch, und das Französische war damals grade unter den Musikern Prags sehr wenig verbreitet. Berlioz kam in Begleitung einer schönen, glutäugigen Spanierin, Mariquita Rezio, die er für seine Frau ausgab. Es war daher[40] verzeihlich, daß wir sie für seine aus Heines Erzählungen uns bekannte und teure Gemahlin, die frühere Schauspielerin Miss Smithson, hielten. Als aber Ambros gleich bei der ersten Begegnung seine Freude darüber aussprach, neben Berlioz auch das Urbild der »Double idée fixe« aus der »Phantastischen Symphonie«, nämlich Miss Smithson, zu erblicken, erhielt er mit einem strafenden Blick die Antwort: »Die hier ist meine zweite Frau; Miss Smithson ist gestorben.« In Wahrheit lebte seine Frau noch, lebte lange noch, während Berlioz mit seiner schönen Spanierin Deutschland und Österreich durchzog. Der Mann mit der Löwenmähne und dem gewaltigen Adlerblick stand widerstandslos unter dem Pantoffel der Señora. Bei aller Ehrfurcht vor Berlioz berührte es uns doch komisch, wenn sie mit stolz zurückgeworfenem Kopf ihn anherrschte: »Hector, meine Mantille! Hector, meine Handschuhe!« Worauf dann Hector mit der Unterwürfigkeit eines schüchternen Liebhabers ihr schnell die Mantille umhängte und die Handschuhe brachte. Für die Besorgungen des täglichen Lebens, des geschäftlichen Verkehrs, war sie, die ebenso sparsam als er großmütig mit dem Gelde umging, ihrem unpraktischen Hector allerdings ganz nützlich. »Quel bonheur pour Hector, que je suis sa femme!« rief sie einmal, als ich ihr den Voranschlag der Konzertauslagen übersetzte, – den sie mit kühnen Federstrichen reduzierte. »Quel bonheur« war für Berlioz leider nicht ungetrübt. Im Anfang ihres Zusammenlebens quälte sie ihn mit der Prätension, in seinen Konzerten als Sängerin aufzutreten, was er – doch noch mehr Musiker als Anbeter – nach einigen mißglückten Versuchen einstellen mußte. Später, als er nach dem Tode seiner Frau die Rezio heiratete, litt er unsäglich unter der unheilbaren, entsetzlichen Krankheit, welche langsam, wie mit stumpfer Säge ihr Leben zerschnitt.
Während seines Prager Aufenthaltes war Berlioz unser einziger Gedanke, unsere einzige Beschäftigung. Ich führte ihn auch zu meinem Meister Tomaschek, dem Musikpapst von Prag, den zu besuchen jeder fremde Tonkünstler für Pflicht hielt. Als wäre es gestern, sehe ich mich mit Berlioz in sonnig glitzerndem Wintermorgen über die Moldaubrücke wandern, jenseits welcher der Generalbaß in Person residierte. Berlioz hatte sich fest in mich »eingehängt«; ich litt unter dem vernichtenden Bewußtsein dieser Auszeichnung so sehr, daß ich förmlich fürchtete, Bekannten zu begegnen.[41]
Wenige Schritte vor der kontrapunktischen Residenz eröffnete mir Berlioz mit liebenswürdiger Nonchalance, er habe in seinem Leben den Namen »Tomaschek« nicht gehört, noch weniger kenne er eine Note dieses Autors. Jetzt galt es, in gedrängtester Kürze meinem Fremden das ihm fehlende musikgeschichtliche Kapitel »Tomaschek« beizubringen. Um ihn nicht durch die vielen Titel zu verwirren, wiederholte ich ihm schließlich mit Nachdruck, daß Tomaschek auf ein (in der Tat vortreffliches) »Requiem« besonderen Wert lege. Wir traten ein, und es spielte sich eine jener halb peinlichen, halb komischen Szenen ab, welche man »Dolmetschen« nennt. Dies brockenweise Hinüber- und Herübertragen unerheblicher und doch oft schwierig wiederzugebender Sätze wurde durch die etwas verlegene Spannung zwischen dem Altkonservativen und dem Kunstrevolutionär gerade nicht erfreulicher. Glücklicherweise vergaß Berlioz sein Stichwort nicht und rühmte sofort die besondere Genugtuung, den Schöpfer des »herrlichen Requiems« persönlich kennen zu lernen. Der durch Vereinsamung etwas schroff gewordene alte Herr nahm diese Huldigung mit leichtem Kopfnicken und der Erklärung hin, Berlioz' nächstes Konzert besuchen zu wollen. Eine so seltsame und flüchtige Begegnung konnte nicht geeignet sein, in Tomascheks künstlerisches Wesen irgend welchen Einblick zu bieten. »Il a l'air bien enchanté de lui-même« war das Einzige, was Berlioz nach einigem Nachdenken über die neue Bekanntschaft äußerte.
Berlioz' Konzerte erregten in Prag einen unerhörten Enthusiasmus. Ambros schrieb darüber in der »Bohemia«; ich selbst, zum ersten Male mit voller Namensunterschrift, einen langen Aufsatz in »Ost und West«, der den Freunden ebenso sehr gefiel, als er mir heute mißfällt; so unreif und exaltiert, so unerlaubt jugendlich war er geschrieben. Das letzte Konzert, in welchem Berlioz den (sonst überall unterdrückten) fünften Satz der »Sinfonie fantastique« aufführte, habe ich trotzdem versäumt. Ich wollte – da sich mir gerade jetzt die Gelegenheit bot – doch noch lieber Wien kennen lernen, als die »Ronde de Sabbat« von Berlioz. In Wien hatte ich die freudige Überraschung, folgende darauf bezügliche launige Zeilen von Berlioz zu erhalten: »Henri IV écrivait: Pends toi, Crillon, nous avons vaincu à Arques et tu n'y étais pas. Notre Sabbat a été exécuté mardi dernier; cependant je ne vous engage pas à vous pendre, car il peut aller beaucoup mieux. Mille amitiés, et revenez nous vite!« Was in Prag unsere Begeisterung[42] für Berlioz' Musik noch befestigte und belebte, war der persönliche Umgang mit ihm, der Eindruck seiner liebenswürdigen, edlen Persönlichkeit. Sein künstlerisches Ideal erfüllte ihn völlig; die Verwirklichung dessen, was er in glühendem, nie befriedigtem Drang als schön und groß empfand, bildete sein einzig Ziel und Streben. In seiner Kunst, mag man sie nun abschätzen wie man wolle, lag eine großartige Redlichkeit. Alles Eigennützige, Kleinliche lag dem Manne mit dem Jupiterkopfe fern. Für das Große und Kühne seiner ganzen Richtung und für einzelne hohe Schönheiten seiner Musik heute noch empfänglich, bin ich doch mit den Jahren von dem maßlosen Enthusiasmus jener Prager Jugendzeit zurückgekommen.
Berlioz selbst habe ich fünfzehn Jahre später, im Sommer 1860, in Paris besucht. Diese kräftig aufrechte Gestalt, dieses königliche Haupt mit den Adleraugen, – ich sollte sie sehr verändert wiederfinden. Hätte ich Berlioz irgendwo anders als in seiner entlegenen Wohnung, rue du Calais 4, wiedergefunden, ich würde ihn schwerlich erkannt haben. Zwar hob die Blässe seines eingesunkenen Gesichts und das gänzlich gebleichte Haar den feinen Schnitt seiner Züge noch plastischer hervor, aber die Kraft und Frische von ehemals waren geschwunden. Trüb und leidend blickte sein Auge, nur in seltenen Augenblicken an das alte Feuer mahnend. Eine voluminöse Partitur lag vor Berlioz aufgeschlagen. Womit er jetzt beschäftigt sei? »Je suis occupé à souffrir,« lautete die rührend traurige Antwort. Hand in Hand mit seinem körperlichen Leiden ging eine tiefe Verstimmung des Gemüts, eine zunehmende Verbitterung und Vereinsamung. Hielt doch nur sein glänzendes Wirken als Kritiker die Pariser in Respekt; der Komponist Berlioz blieb ignoriert und verspottet. Wollte er seine Kompositionen hören, so müßte er nach Deutschland gehen. Die Tage in Prag und Wien dünkten ihn ein goldener Traum. Eben von seinem alljährlichen Sommerausflug aus Baden-Baden zurückgekehrt, erzählte Berlioz, wie sehr der Erfolg seiner dortigen Konzerte, trotz der unsäglichen Mühe der Vorbereitungen, ihn erfreue. In Paris fühle er sich dann durch den Kontrast doppelt schwer bedrückt; sein besseres Ich sei verloren »dans ce monde perdu et corrompu«. Mit Verachtung sprach er von den Musikzuständen in Paris, mit zorniger Heftigkeit gegen die »Zukunftsmusiker« in Deutschland, mit denen er nichts gemein habe. Entschieden wehrte er jeden Zuspruch, jede Hoffnung auf eine bessere[43] Zeit ab: »J'ai pris mon parti«. Unvergeßlich ist mir dieser Seufzer schmerzlichster Resignation. Und er hatte nicht zu schwarz gesehen; es war ihm nicht beschieden, einen günstigen Umschwung der öffentlichen Meinung in seinem Vaterlande zu erleben. Erst nach seinem Tode begann man ihn dort zu feiern, wobei man jetzt beinahe von einem Extrem ins andere, von Mißachtung in Vergötterung verfällt.
Als Berlioz 1866 in Wien erschien, um daselbst seine »Damnation de Faust« aufzuführen, war ich bei dem ihm zu Ehren gegebenen Bankett, sprach ihn aber nicht an, da ich von Pariser Freunden wußte, daß Berlioz sich über meine späteren, stark abgekühlten Berichte verletzt geäußert. Trotz aller vorgeblichen Gleichgültigkeit war Berlioz doch keineswegs – wenigstens nicht ausnahmslos – unempfindlich gegen Kritiken, – ebensowenig wie Richard Wagner, mit dem mir später Ähnliches bevorstand. Berlioz war eine edlere Erscheinung, ein mir weit sympathischerer Charakter als Wagner. Ich habe seiner echten, tiefen Künstlernatur, seinem warmen, trotz unsäglichen Leidens und zunehmender Verbitterung echten, ehrlichen Gemüt ein pietätvolles, dankbares Andenken bewahrt.
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