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[350] Das Jahr 1880 bescherte mir eine Reise nach Brüssel, wohin ich als österreichischer Preisrichter delegiert war zu einem Wettkampfe der Militärmusiken. Auf die Festlichkeiten, mit denen Brüssel das fünfzigjährige Jubiläum der belgischen Unabhängigkeit feierte, folgte ein Ausflug nach Antwerpen und drei ruhige Augustwochen in dem Seebade Heyst. Dieser kleinere, bescheidene Nachbar von Blankenberge und Ostende war wenige Jahre zuvor noch ein Fischerdorf; jetzt hat es sich zu einem netten Badeort erhoben. Wir verbrachten dort in Gesellschaft der Familie [350] Rodenberg und des heiteren Burgschauspielers Thimig angenehme Tage.

Auf der Heimfahrt rasteten wir zwei Tage in Wiesbaden. Ein bestimmtes künstlerisches Interesse verband sich diesmal mit dem landschaftlichen, um mich nicht abermals an der »Perle der Taunusbäder« vorbeifahren zu lassen. War mir doch soviel von dem Wiesbadener Kapellmeister Wilhelm Jahn erzählt, daß ich ihn gern einmal beobachten wollte in seiner musikalischen Werkstatt. So oft es sich in Wien um die Besetzung einer Kapellmeisterstelle am Hofoperntheater handelte, wurde der Name Jahn genannt. Wer immer dessen frühere Wirksamkeit in Prag kannte – wo Jahn mittelst allerdeutschester »Umgangssprache« die Oper in Flor gebracht – wer immer von unseren Sängern von einem Wiesbadener Gastspiele zurückkam, der zollte dem Dirigententalente des Mannes das auszeichnendste Lob. Mein erster Blick galt dem Theaterzettel. Ich hatte es glücklich getroffen: Jahn dirigierte zum erstenmale nach seiner Urlaubsreise den »Fliegenden Holländer«. Das Theater liegt am Ende einer langen Allee, dicht an dem reizenden Park, um welchen die Stadt in Gruppen von eleganten Villen und stattlichen Hotels sich behaglich ausbreitet, ein lieblich Mittelding zwischen großem Badeort und kleiner Residenz. Im Theater selbst schaute ich allerdings etwas enttäuscht um mich: ein sehr bescheidener Zuschauerraum mit wenigen Logen, fast an unseren Josephstädter Musentempel erinnernd. Dem Saale entsprach die geringe Ausdehnung der Bühne, als das kleine Schiff des Holländers keck heraufgesegelt kam, glaubte ich, es müsse an Dalands Fahrzeug anrennen, obgleich auch dieses kein »Great Eastern« war. So nahe standen sich auf der kleinen Bühne die beiden Schiffe, daß man bequem von dem einen ins andere springen konnte. Auch der Anblick des Orchesters drückte meine Erwartungen bedeutend herab. Wirklich nur drei Kontrabässe und acht Primviolinen? Ich hatte doch richtig gezählt. Aber welche Energie und Feinheit entwickelte dieses Miniatur-Orchester unter Jahns Leitung! Die schwierige Ouvertüre hatte ich kaum irgendwo besser gehört; gewaltiger wohl, aber schwerlich in so feiner Verteilung von Licht und Schatten, so musikalisch ein- und ausatmend. Jahn hält sein Orchester wie ein Glöckchen in fester Hand. Das Wiener Orchester ist eine Domglocke dagegen. Von den Darstellern leuchtete kein einziger aus dem Ensemble glänzend hervor durch Stimme oder dramatisches[351] Talent; das Ensemble war jedoch musterhaft. Die Gesamtheit der Sänger und Musiker schien verbunden durch ein eigentümlich musikalisches Etwas, das als elektrisches Fluidum von dem Blicke und der Hand des Dirigenten ausströmte. Wo solche künstlerische Übereinstimmung herrscht, da ist sie sicherlich Verdienst des Dirigenten; wohlgemerkt: eines Dirigenten, der nicht bloß auf das Orchester, sondern ebenso sehr auf den Vortrag der Sänger bestimmenden Einfluß nimmt. Jahn war selbst eine Zeit lang Opernsänger, bevor er den Taktierstab ergriff, – eine wertvolle Vorschule. Komponiert hat er nur einige Lieder. Auch das erhöht in der Regel den Wert eines Kapellmeisters, wenn er keine noch unaufgeführte oder bereits verkannte eigene Oper als Dolch im Gewande mit sich führt. Das Wiesbadener Publikum verhielt sich an jenem »Holländer«-Abende sehr kühl gegen die Sänger, begrüßte hingegen Herrn Jahn bei seinem Eintritte ins Orchester mit schmeichelhaftem Zurufe. Die Zuschauer applaudierten, die Musiker bliesen Tusch, und einige fremde Studenten, welche den lorbeerbekränzten, blonden Jahn vielleicht für den König Gambrinus hielten, machten Miene, einen Salamander zu reiben.

Ich selbst glaube nicht an Wunder, doch hörte ich im »Nonnenhof« von Kunstfreunden versichern, Jahn habe kürzlich die »Puritaner« von Bellini so meisterhaft einstudiert, daß sie nicht sehr langweilig waren. Gewiß, der Mann mußte für Wien gewonnen werden! Andererseits sah ich wohl, daß ihm das Scheiden nicht eben leicht fiel. Seitdem Wiesbaden seine Spielbank verloren und dafür eine neue Heilquelle von echtem Pilsener Bier eröffnet hat, ist es in Sonderheit für Künstlernaturen ein kleines Paradies. In diesem Paradiese besaß Jahn ein ihm ergebenes Künstlerpersonal, ein dankbares Publikum und Vorgesetzte, die sich nur vorgesetzt hatten, ihn frei schalten und walten zu lassen. Ein lohnendes, bequemes Amt, ein eigenes freundliches Haus, ein zwischen poetischer Gartenstille und wechselvoller Anregung schön abgetöntes Dasein – das alles sollte er freiwillig verlassen, um unter gar schwierigen Verhältnissen ein unruhiges, neues Leben zu beginnen? Heines goldene Mahnung: »Auch rat ich dir, baue dein Hüttchen im Tal – und nicht auf dem Gipfel!«, wen hätte sie in ähnlicher Versuchung nicht mit sanfter Hand zurückgehalten? Es war kein leichter Entschluß; aber einem Manne von Jahns Begabung und Rüstigkeit konnte er nicht erspart bleiben.[352] Zu früh, viel zu früh für ihn, das Ausruhen auf einem weichgepolsterten Glücke, das keiner Steigerung fähig, keiner Anstrengung bedürftig ist. Sein Leben lang in Wiesbaden verbleiben, heißt, künstlerisch abdizieren. Jahn mußte den großen Ruf, den er sich in einer kleinen Stadt erworben, endlich auf einem bedeutenderen Schauplatze bewähren und vermehren. Er mußte in sich die Verpflichtung fühlen, ein größeres Schiff als das seines »Holländers« zu besteigen, mehr als drei Kontrabässe zu kommandieren, von mehr als einer Zeitung kritisiert, von mehr als einer Primadonna sekkiert zu werden – kurz im Schweiße seines Angesichts Lorbeeren und »Pilsener« sich frisch in Wien zu erkämpfen. Er ist dieser moralischen Pflicht gefolgt und hat am Neujahrstage 1881 sein Amt als Direktor des Hofoperntheaters in Wien angetreten. Hier wirkt er nun bis heute mit Erfolg und hoffentlich ohne Reue.

Quelle:
Hanslick, Eduard: Aus meinem Leben. Kassel, Basel 1987, S. 350-353.
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