7

[353] Seit Jahren verfolgen mich auf allen Reisen zwei Mißgeschicke: die Lucia und die Martha. Nicht etwa ehemalige Flammen, die mir unter kaltgewordener Asche nachzüngeln, sondern die beiden bekannten, durch ihre Popularität grausam gewordenen Opern. Wohin ich kommen mag: immer Lucia oder Martha! Da nun alte Theaterpassion mich in jeder fremden Stadt gleich nach dem Komödienzettel fragen läßt, so pflegt meine erste Empfindung in deutschen Hauptorten die des Schreckens zu sein. Im Begriffe, nach vielen Jahren wieder einmal Frankfurt am Main zu besuchen (1881), mochte ich das Vergnügen dieses Wiedersehens mir nicht gern durch die genannten beiden Damen abermals stören lassen. So unterrichtete ich denn zuvor brieflich Freund Dessoff von jener peinlichen musikalischen Verfolgung, und wie es ihm, dem mächtigen Beherrscher des neuen Frankfurter Opernhauses, wohl ein leichtes wäre, mir die bösen Feen vom Leibe zu halten. Beruhigt zog ich meiner Straßen. Die unverwüstliche Pietät, die mich immer wieder denselben alten Gasthöfen in die Arme treibt, führte mich natürlich zum »Schwan«. Im vorigen Jahrhundert, das heißt vor zwanzig Jahren, war das noch ein solid bescheidenes Haus, welches Börnes köstliche Schilderung des »Eßkünstlers« und Schopenhauers tägliche Anwesenheit an der Table d'hôte berühmt gemacht hatten. Jetzt hat der »Schwan« ein neues Kleid und einen neuen Ruhm angezogen: er[353] ist ein stolzer Palast geworden, ein historischer Palast, in welchem der Pariser Friede 1871 unterzeichnet wurde. In patriotisch gehobener Stimmung schaute ich nach der Gedenktafel – und gleich darauf in der Einfahrt nach dem Theaterzettel. Richtig, weder »Lucia« noch »Martha« blickten mir entgegen. Braver Dessoff! Hingegen ein anderes Schreckenswort, auf das ich nicht vorbereitet war, das Wort: Geschlossen. Ich war just zum Beginne der Opernferien in Frankfurt eingetroffen. So durfte ich – wie der Prophet das gelobte Land – das prächtige Opernhaus nur sehen, nicht betreten. Die Erlaubnis, es vormittags im Innern zu besehen, lockte mich nicht; wer ein Theater, sei es das schönste, am hellichten Tage, beim Scheine einer Gasflamme oder gar einer Laterne betrachtet wie einen starren Leichnam, der erfährt nur Enttäuschung und Unbehagen. Seit dem keinem Fremden erlassenen Vormittagsbesuche der »Fenice« in Venedig habe ich nie wieder vorwitzig den unheimlichen Eulenschlaf eines Theaters gestört. Von außen erinnert das neue Frankfurter Opernhaus an das Wiener; freistehend, imposant, der größten Residenzstadt würdig. Die über dem Hauptportal in Goldbuchstaben erglänzende Aufschrift: »Dem Wahren, Guten, Schönen« verdient das Lob edler Gesinnung, etwa wie ein großherziges, aber schwer zu haltendes Gelübde. Selbst in dem wohlwollendsten Kenner unserer Opernzustände erregt sie die bange Frage: Woher will der Frankfurter Theaterdirektor den nötigen Reichtum an Wahrheit, Güte und Schönheit nehmen, um damit jahraus, jahrein dies Haus zu füllen? Mich dünkt, die Aufschrift »Frankfurter Opernhaus« wäre bei aller Einfachheit nicht minder wahr, gut und schön gewesen und jedenfalls unverfänglicher.

Quelle:
Hanslick, Eduard: Aus meinem Leben. Kassel, Basel 1987, S. 353-354.
Lizenz: