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[243] Auf dieses Kriegsjahr folgte, im Frühling 1867, die Pariser Weltausstellung.

Um London oder Paris kennenzulernen, würde ich nach meinem Geschmack nicht die Zeit einer Weltausstellung wählen. Da findet man die Stadt in einem zwar buntglänzenden, aber fremden Gewand und ihre Einwohner in einem Trubel von Geschäftigkeit und Zerstreuung durcheinandergerüttelt. Ich habe stets die reisenden Monarchen bedauert, die keinen Ort je anders als in Flaggenschmuck, Blumengewinden und mit Triumphpforten zu sehen bekommen, also niemals so, wie er wirklich aussieht. Etwas Ähnliches ist's mit den Weltausstellungen, von denen ich auch sonst kein besonderer Freund bin. Wieviel Zeit, die Wichtigerem gebührte, vertrödeln wir da mit dem unausweichlichen Besehen von tausenderlei ausgestellten Dingen, die uns nicht ernstlich interessieren. Besser sind wir schon daran, wenn eine stetige Verpflichtung uns mit der Weltausstellung verknüpft und wir als ein kleines Rädchen in der großen Maschine mitwirken. Das war mein Fall, als ich zum Jurymitglied für die musikalische Abteilung der Weltausstellung ernannt wurde. Paris war mir zum Glück nicht mehr fremd. Ich hatte im Sommer 1860 während eines dreiwöchentlichen Aufenthalts in Paris alles Merkwürdigste besichtigt, die Bekanntschaft Rossinis und Aubers gemacht, diejenige Hector Berlioz' erneuert, den besten Leistungen der Großen und der Komischen Oper angewohnt.

Die Weltausstellung von 1867 brachte mich gleich in den ersten Tagen mit interessanten Männern in Verbindung, die als meine Kollegen die musikalische Jury bildeten. Unser Präsident war General Mellinet, ein stattlicher alter Haudegen mit einer Schmarre über die ganze linke Wange; trotz seines martialischen Aussehens der gutmütigste, anspruchsloseste Mann. Die französische Regierung hatte ihn offenbar nicht wegen seiner Schlachtensiege[243] zum Juror ernannt, sondern im Interesse der Militärmusik, die ihm wertvolle Reformen verdankt. Wir hielten die vorbereitenden Sitzungen in seiner Privatwohnung, Place Vendôme, ab. Ein kleines Frühstück krönte die Beratungen, und nach demselben wurde ich meist zu Madame Mellinet gebeten, die, eine Polin von Geburt, sich gern Chopinsche Mazurkas von mir vorspielen ließ. Zum Vizepräsidenten wählten wir Ambroise Thomas, dessen neue Oper »Mignon« eben die Reihe ihrer großen Erfolge an der Opéra comique begonnen hatte. Ambroise Thomas, eine lange, hagere, etwas vorgebückte Gestalt, zeigte immer ein ernstes Gesicht. Grauer Vollbart und graues, langes Haupthaar, auf dem ein hoher schwarzer »Gibus« wie der schiefe Turm von Pisa saß. Zu seinem sanften, etwas melancholisch angehauchten Wesen paßte der bedächtig schleifende Gang. Er war mir ungemein sympathisch, mochte auch mich gut leiden. Von seinen Werken, seinen Erfolgen sprach er niemals, äußerte auch nie ein boshaftes oder geringschätziges Wort über einen seiner Kollegen. In diesem Punkt habe ich die Franzosen überhaupt musterhaft gefunden und vorteilhaft abstechend von unseren deutschen Landsleuten. Die französischen Aussteller pflegten vor der Jury zwar ihre Vorzüge beredt zu erläutern, niemals aber auf Kosten eines Konkurrenten, wie es gelegentlich recht gern die Deutschen taten. In der Pariser Presse fiel mir dieselbe Höflichkeit auf; sie schien mir nur in ihrer kritischen Milde oft zu weit zu gehen. Kritik ist doch nicht da, um alles zu rühmen, sondern um die Wahrheit zu sagen. – »Wie kann man denn diesen Mr. A. loben?« – »Er ist doch nicht ganz ohne Talent,« antwortete man mir. – »Aber Madame B., die sang doch gestern schrecklich!« – »Sie hatte wirklich keinen ihrer besten Abende, immerhin jedoch einige gute Momente.« – »Aber, meine Herren,« fuhr ich plötzlich heraus, »wenn man solche Mittelmäßigkeiten regelmäßig lobt, was soll denn geschehen, falls einer ganz schlecht ist?« – »Dann schweigt man über ihn.« – Es wäre recht wünschenswert, wenn mancher renommierte deutsche Kritiker den Franzosen von der höflichen Form des Tadels ein klein wenig ablernen wollte. In neuester Zeit finde ich allerdings die früher zu weit getriebene Nachsicht der Pariser Musikkritik zu ihrem Vorteil zurückgedämmt; insbesondere von Camille Bellaigue in der »Revue des deux mondes« erhalten wir aufrichtige, ungeschminkte Urteile auch über französische Komponisten. –[244] Das mühsamste und verantwortlichste Amt in der Jury, das des Berichterstatters, versah der alte Fétis, bekanntlich ein Arsenal von historischen Kenntnissen und musikalischer Erfahrung. Trotz seines hohen Alters und seiner starken Korpulenz war er von unermüdlichem Fleiß und peinlicher Genauigkeit. Keine Weltausstellung ist zum bestimmten Termin fertig. Trotzdem wurden wir von dem Präsidenten der Kommission wiederholt um rasche Abgabe unserer Vorschläge gedrängt. Fétis antwortete in seiner selbstbewußten Bärbeißigkeit regelmäßig: »Ich mache mir gar nichts aus dem Herrn Minister und lasse mich nicht drängen; je ne ferai pas un mauvais travail.« Fétis' Verständnis und Urteilskraft stand über jede Anfechtung; nicht ganz so seine Unbefangenheit. Mir hatte man das Amt eines Sekretärs oktroyiert, so sehr ich auch hervorhob, daß ich, als Nichtfranzose, die vielen schriftlichen Ausfertigungen kaum ganz tadellos würde zustande bringen. Man antwortete mir mit einem Kompliment; die Enthebung wäre mir lieber gewesen.

Nicht wenig überraschte es mich, von einem der französischen Jurors in gemütlich schwäbelndem Deutsch begrüßt zu werden. Eine untersetzte, behaglich gerundete Figur mit militärisch gestutztem Schnurr- und Knebelbart, die rote Rosette im Knopfloch. Es war Georges Kastner, Mitglied des Instituts und vieler gelehrter Gesellschaften. In Straßburg 1811 geboren, ist Kastner zeitlebens Deutscher von Aussehen, Bildung und Temperament geblieben, obgleich er seine sämtlichen Bücher französisch schrieb. Mit einer hübschen Wendung unterschied er seine »nationalité politique« und seine »nationalité morale«: die französische und die deutsche Seele, welche, beide stark ausgeprägt, einträchtig in dem Manne lebten. Seinem politischen Vaterlande, Frankreich, mit feurigem Patriotismus ergeben, hat Kastner niemals aufgehört, seine deutsche Muttersprache zu lieben, deutscher Kunst und Wissenschaft seine besten Stunden zu widmen. Von seiner Fruchtbarkeit macht man sich keine Vorstellung. Er hat nicht bloß mehrere Bücher über Gesangskunst, Harmonielehre, Kontrapunkt und Instrumentierung geschrieben, sondern auch vollständige Schulen (»Méthodes«) für Klavier, Violine, Violoncell, Flöte, Cornet, Waldhorn, Klarinette, Oboe, Posaune, Saxophon, ja sogar für die Pauken! Alle diese Instrumente verstand er selbst zu spielen und bewährte in seinen »Methoden« neben dem gründlichen Historiker zugleich den praktischen[245] Musiker und Lehrer. Allein die pädagogische Schriftstellerei genügte nicht lange dem von deutscher Romantik angehauchten, weit hinausschweifenden Geiste Kastners. Er ersann sich ein wunderliches, ihm ganz allein angehörendes Genre, das seiner Gelehrsamkeit und seinem Kompositionstrieb gleichzeitig volle Entfaltung gönnte: die »Livres-partitions«. Einer musikhistorischen Abhandlung (dem »livre«) ist jedesmal als zweiter Teil eine große Komposition Kastners (die »partition«) beigegeben, welche mit dem Gegenstande in einem sachlichen oder auch rein phantastischen Zusammenhange steht. Ein Beispiel: »Les sirènes«. Kastner liefert eine gelehrte Studie über den antiken Mythus der Sirenen, zieht alle verwandten Sagen anderer Völker herbei, erzählt ihre Verwertung in der Dichtkunst und Malerei und schließt endlich mit einer umfangreichen dramatischen Symphonie für Soli, Chor und Orchester unter dem Titel: »Oswalds Traum oder: Die Sirenen«. Diese Partitur füllt mehr als zweihundert, der Text einhundertsiebzig Seiten in Großquart. Ein ähnliches Doppelwerk von gleicher Anordnung ist die »Aeolsharfe«. In dem Buche »La voix de Paris« feiert der rastlose Sammelfleiß Kastners einen andern Triumph: er verzeichnet und notiert die Ausrufe der verschiedenen Pariser Verkäufer und Hausierer vom Mittelalter bis auf den heutigen Tag und verwertet diese Eindrücke schließlich in einer großen humoristischen Symphonie für Singstimmen und Instrumente. Man wird keines dieser seltsamen Werke durchsehen, ohne über die enorme Belesenheit Kastners zu staunen und zugleich die seltene Klarheit zu rühmen, womit er solchen Wust von Kenntnissen vorzutragen verstand. In seinen »Livres-partitions« haben die Abhandlungen einen unbestrittenen Wert, die Kompositionen einen sehr geringen, die Verquickung beider gar keinen. Doch ist gerade letztere höchst charakteristisch für unsern Mann, in welchem gelehrte Vielseitigkeit mit entschiedener Hinneigung zum Sonderbaren, Exzentrischen sich verband. In Kastner besaß Frankreich einen unersättlichen Polyhistor, wie sie bereits selten vorkommen und bei dem so mächtig anwachsenden Material jeder einzelnen Disziplin immer seltener werden. Im persönlichen Umgange zeigte er nichts von dem gelehrten Dünkel solcher Leute, er war immer natürlich, gut gelaunt und liebenswürdig. Auf seinem streng ehrenhaften Charakter haftete nicht der unscheinbarste Flecken. Wollte man nach Kastners Schwächen fragen – diesen menschlichen Anhängseln[246] auch des Besten –, so wäre wohl nur seine kindliche Freude an Orden und Titeln zu nennen. Durch Zusendung seiner Bücher an allerlei Souveräne und Akademien hatte Kastner ein ansehnlich Häuflein Orden und Würden ergattert. Auf zwei Porträts, die er mir verehrte – einem großen Kupferstich und einer Photographie –, präsentiert er sich in reich gestickter Uniform, mit Bändern, Kreuzen, Medaillen und Sternen behängt wie ein Indianerhäuptling. Kastners Streben nach Auszeichnungen floß aber nicht aus gewöhnlicher Eitelkeit; es entsprang einem tieferen und für ihn ehrenvollen Grunde. Er hatte als armer Musiker im Hause des reichen Häuserbesitzers Boursault – nach welchem eine ganze Straße in Paris den Namen führt – Klavierunterricht gegeben. Die einzige Tochter Boursaults verliebte sich in ihren Musiklehrer, lehnte die glänzendsten Partien ab und wurde Kastners Frau. Dieses Glück ward für den jungen Mann der Sporn zu unausgesetztem Fleiß und Ehrgeiz. Durch seine eigensten Talente und Erfolge wollte er der Welt, die ihn um die reiche Frau beneidete, imponieren. Jedes äußere Ehrenzeichen hob ihn der Familie Boursault gegenüber auf eine höhere soziale Stufe und bewies der Welt, was seiner Frau nicht erst zu beweisen war: daß sie keinen unbedeutenden Menschen geheiratet, sondern einen Mann, der aus eigener Kraft sich zu hohen Ehren aufzuschwingen vermochte.

Das musikalische Jurorsamt bei der Weltausstellung – so aufreibend durch Langeweile und Ermüdung – versah Kastner mit einer uns Jüngere beschämenden Gewissenhaftigkeit. Offenbar hatte diese letzte Überbürdung ihn empfindlicher angegriffen, als es seine rüstige Haltung und immer gute Laune vermuten ließen. Kastner starb bald nach dem Schlusse der Ausstellung, sechsundfünfzig Jahre alt, im Dezember 1867.

Von zehn bis ein Uhr dauerten in der Regel unsere Sitzungen und Rundgänge in der musikalischen Ausstellung, dann lud abwechselnd einer der Kollegen die andern zum Frühstück in einer der Restaurationen des Ausstellungsparks. Einigemal gesellte sich auch Fürst Poniatowski zu uns, ein musikalischer Dilettant, dessen Opern die Erfolge versagt blieben, die man ihm ob seiner persönlichen Liebenswürdigkeit gegönnt hätte. Wie heiter anregend und die Jurykollegen freundschaftlich verbindend, verflossen diese Frühstücke! Dann wurde meistens noch durch zwei Stunden die Prüfung der Musikinstrumente fortgesetzt.

Quelle:
Hanslick, Eduard: Aus meinem Leben. Kassel, Basel 1987, S. 243-247.
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