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[253] Rossini, Auber, Berlioz – ich sah sie alle drei wieder und kaum merklich verändert seit meinem ersten Besuch im Jahre 1860. Nur Berlioz schien noch grollender, düsterer als damals. Der Tod seines einzigen Sohnes, Louis, der fern von der Heimat auf einem Ostindienfahrer sein Ende gefunden hatte, war dem Vater schmerzlich tief in die Seele gedrungen; gleichzeitig erregten die sich täglich erneuernden Schwierigkeiten gegen die projektierte Aufführung seiner »Trojaner« Berlioz' schwärzesten Unmut. Er war so menschenfeindlich geworden, daß man ihn nicht gern mit einem Besuch behelligte. Doch brachten mich die Sitzungen des Preisgerichts über die »Friedenshymnen«, dessen Mitglieder wir beide waren, in seine unmittelbare Nähe. Entrüstet über die »besten« dieser Kompositionen, schüttelte Berlioz sein graues Löwenhaupt, schlug auf den Tisch und rief: »Wir sind nicht hier, um Gassenhauer zu krönen.« Berlioz lebte vollkommen einsam. Er behauptet, Rossini niemals gesprochen zu haben. »C'est un vieil homme, qui rit de tout et se moque de tout.« Auber nennt er »le plus grand égoïste; ce n'est pas un artiste.« Von R. Wagner, der ihm (mit Klindworth) den ersten Akt »Tristan« vorgespielt hatte, äußerte er: »Il est fou, totalement fou!« Auber, den fünfundachtzigjährigen, fand ich unverändert in[253] seiner merkwürdigen Tätigkeit und Beweglichkeit. Noch immer nach Mitternacht zu Bett und zeitig früh heraus! Im Verlaufe der vier Monate, die mir in Paris vergönnt waren, hatte ich häufig Gelegenheit, Auber sowohl in Gesellschaft als auf offiziell musikalischem Boden zu begegnen. In der großen Jury über die Preiskantaten und Friedenshymnen führte Auber das Präsidium. Zum »Ehrenpräsidenten« hatte sich Rossini willig ernennen lassen, unter der ausdrücklichen Bedingung, daß er niemals zu erscheinen und nicht das Mindeste zu tun brauche. Er erklärte sich scherzend bereit, unter den gleichen Bedingungen auch noch in andere Komitees einzutreten. Auber war keineswegs ein solcher Rossinischer Präsident auf dem Anschlagszettel, sondern ein sehr wirklicher. Die erste rohe Arbeit des Durchspielens aller zweihundert Kantaten und achthundert Hymnen machte er allerdings nicht mit – der entmenschteste Barbar hätte ihm das nicht zugemutet –, aber den zwei langen letzten Sitzungen, in welchen die besten der eingelaufenen Kompositionen gehört wurden, wohnte er aufmerksam bei. Leider beteiligte er sich an den Urteilen und Vorschlägen mit keiner Silbe, sondern beschränkte sich darauf, die Abstimmung in präziser Weise zu leiten und das Resultat kundzugeben. Unsere oben erwähnten Vorarbeiten fanden im Konservatorium neben dem Arbeitszimmer Aubers statt, in welches er nur durch unsern Saal gelangte. So konnten wir ihn denn täglich in seiner vollen Tätigkeit beobachten. Bald kam er von den Prüfungen in der Gesangs- oder Deklamationsklasse, um sich sofort zu jenen der Geiger oder Pianisten zu begeben; bald konferierte er mit Lehrern oder Beamten der Anstalt – kurz, er war unermüdlich. Nur wer dieses große und komplizierte Institut kennt, macht sich einen Begriff von der Tätigkeit, die es dem Direktor, sei es auch nur in formeller Hinsicht, auferlegt. Zu einer der Klassenprüfungen nahm mich Auber freundlich mit; er saß da mit vier Professoren am grünen Tisch, hörte ein Dutzend Schülerinnen ihre Stücke vorspielen und zeichnete nach jeder Produktion seinen Kalkül ins große Buch.

Eines Morgens, als ich etwas zu früh im Konservatorium anlangte, fand ich Auber in seinem Direktionszimmer an dem kleinen tafelförmigen Klavier sitzen, das, wenn ich nicht irre, noch von seinem Vorgänger Cherubini herstammt. An diesem Instrumente hat Auber in den letzten zwanzig Jahren sehr häufig komponiert; es diente ihm auch diesmal als Laboratorium für denGuß einer neuen Oper (Le premier jour de bonheur), die im nächsten Winter vollendet sein sollte. »C'est une imprudence dans mon âge«, – dieselben Worte, die vor mehreren Jahren der Greis zu mir gesprochen. Es stimmte mich glücklich, den Mann zu sehen, der einst die »Stumme« und den »Fra Diavolo« geschaffen und jetzt in seinem hohem Alter mit ungebrochener Lebenslust fortarbeitete. Auber hing fest, aber ohne Ängstlichkeit, am Leben, mitunter sogar nicht ohne Humor. »Der Tod scheint wirklich unter den alten Opernkomponisten aufräumen zu wollen,« sagte er, von Meyerbeers Totenfeier heimkehrend, zu einem Freunde – »jetzt kommt die Reihe an Rossini«.

Rossini, den ich zum erstenmale vor sieben Jahren in seiner Villa in Passy besucht hatte, verweilte diesmal (anfangs Mai) noch in seiner Stadtwohnung, Chaussee d'Antin Nr. 2. Dort gab er im Laufe des Winters sechs bis acht musikalische Soiréen; eine Einladung dazu bildete in Paris den Gegenstand allgemeinen Ehrgeizes. Die ausgezeichnetsten Personen bemühten sich darum oft mehr als um eine Einladung in die Tuilerien, und die Journale versäumten nicht, am folgenden Tage davon zu berichten. Ich habe dem letzten dieser Musikabende noch beiwohnen können und gestehe, mehr Ehre als Vergnügen dabei empfunden zu haben. Rossinis Wohnung reichte für die Zahl der Gäste nicht entfernt aus; die Hitze war unbeschreiblich und das Gedränge so groß, daß es jedesmal verzweifelter Anstrengungen bedurfte, wollte eine Sängerin (zumal von dem Gewicht einer Madame Sax) von ihrem Sitze zum Klavier gelangen. Eine juwelenfunkelnde Damenschar hielt den ganzen Raum des Musikzimmers dicht besetzt; an den offenen Türen standen regungslos geklemmt die Herren. Mitunter schlich ein Bedienter mit Erfrischungen durch die verschmachtenden Reihen, aber seltsamerweise sah man nur wenige (meist fremde) Gäste zugreifen. Als ich ein Schälchen Gefrorenes nahm, sah mich eine Dame meiner Bekanntschaft ganz verwundert an und flüsterte lächelnd: »Sie wagen das?« – »Warum denn nicht?« fragte ich zurück. Statt jeder Antwort wies sie unbemerkt auf die Hausfrau hin, die wirklich einen zornigen Blick auf mich geheftet hatte und den weiteren Rundgang des gefährdeten Präsentierbrettes scharf verfolgte. Sie galt für sehr geizig; wer sich in ihrer Gunst erhalten wollte, verschmachtete lieber, als daß er sich an den spärlichen Erfrischungen vergriff. Madame Rossini soll sehr schön gewesen sein, wie sich das für die ehemalige Flamme[256] eines Horace Bernet schickt. Als ich sie kennenlernte, ragte noch eine kühn gemeißelte Adlernase wie ein übrig gebliebener Turm aus dem Schutt ihrer früheren Schönheit. Den Rest bedeckten Brillanten.

Im Juni besuchte ich den verehrten alten Meister noch zweimal in Passy; einmal allein, das andere Mal in Begleitung von Schulhoff und dem Hauptmann von Arbter. Dieser liebenswürdige Offizier (jetzt General und Chef des berühmten Militärisch-Geographischen Instituts) hatte von Wien den Auftrag übernommen, Rossini die Photographien des Freskobildes zu überbringen, welches Schwind zu Ehren Rossinis für das Foyer des neuen Opernhauses gemalt hatte: Szenen aus dem »Barbier von Sevilla« und der »Italienerin in Algier«. Rossini freute sich sichtlich, sowohl über das anmutige Kunstwerk selbst wie über die schmeichelhafte Aufmerksamkeit Schwinds. Es war schon sehr viel, wenn Rossini eine ihm dargebrachte Huldigung nicht sofort mit ironischem Spott verscheuchte. Als ich bedauerte, seine neue Messe nicht kennengelernt zu haben, erwiderte er: »Das ist keine Kirchenmusik für euch Deutsche, meine heiligste Musik ist doch nur semi-seria.« Seine Napoleonshymne (für die Preisverteilung am ersten Juli) nannte er »Kneipenmusik«, seine Opern »veraltetes Zeug«. Er spottete immer über seine eigenen Kompositionen. Indem er sich selbst nicht schonte, hatte er eine Art Privilegium erworben, seinen Humor auch auf Kosten anderer spielen zu lassen. Er tat dies aber nie mit Bitterkeit oder Überhebung, sondern stets mit heiterer Bonhommie. Richard Wagner wehrt sich in seinem Rossini-Artikel (Gesammelte Schriften, Band 8) heftig dagegen, daß Rossini Witze über ihn gemacht habe. Ihm ins Gesicht natürlich nicht. Aber es leben noch sehr viele Leute in Paris, welche, so wie ich, die sarkastischen Bonmots über Wagner aus Rossinis eigenem Munde gehört haben; denn nach alter Herren Art liebte es Rossini, seine guten Einfälle häufig zu wiederholen. Rossini, der witzige, liebenswürdige Spötter, sollte gerade über Wagners Opernmusik, die ihm ein Greuel sein mußte, sich niemals ein Scherzwort erlaubt haben? Lächerlich. Einen der hübschesten von diesen Einfällen muß man sich dramatisch vergegenwärtigen. Ein Wagnerianer bringt Rossini die Partitur zu »Tristan und Isolde« und läßt keine Ruhe, bis dieser nicht wenigstens das Vorspiel durchliest. Rossini legt den Band auf seine Knie, liest aufmerksam, erstaunt und immer verwunderter, bis er[257] endlich, wie plötzlich erleuchtet, mit dem Ausruf: »Ah, c'est comme cela!« die Partitur umkehrt.

Rossini erfreute mich beim Abschied (es war ein Abschied für immer!) mit einem Stahlstich, welcher links das Porträt des zwanzigjährigen Rossini, rechts das des sechzigjährigen zeigt. Unter das Jugendbild schrieb er mit Bleistift: »Figaro sù!«, unter das alte: »Figaro giù¡« mit einem umgekehrten Ausrufungszeichen. Darunter eine sehr freundliche Dedikation. Das Bild ist mir sehr lieb und in gewissem Sinne überhaupt unschätzbar, da es als ein Privatscherz Rossinis niemals in den Handel kam.

Quelle:
Hanslick, Eduard: Aus meinem Leben. Kassel, Basel 1987, S. 253-258.
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