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[258] Mehr Freude als die Ausstellung selbst gewährten mir die heiteren geselligen Abende, zu welchen jene den Anlaß gegeben. Von einigen, die mir in besonders lebhafter Erinnerung geblieben, möge hier Erwähnung geschehen. Adelina Patti, in deren eleganter Wohnung in der Avenue des Champs Élysées es nicht so klösterlich herging wie 1863 in der Klostergasse zu Wien, gab ihren Bekannten eine fröhliche Abschiedssoirée. Nach Pariser und Londoner Sitte ging der Abendgesellschaft ein Diner für einen engeren Freundeskreis voran. Nebst einigen im Hause befreundeten Damen nahmen der Direktor der italienischen Oper, Bagier, der russische Staatsrat de Thal, der Maler Gustave Doré und der berühmte Hornist Vivier am Tische Platz. Wo letzterer zugegen, war bekanntlich die gute Laune garantiert. Vivier erfreute sich als amüsanter Gesellschafter, Schnurrenmacher und Anekdotenerzähler allenthalben der größten Beliebtheit. Ein wahres Original, heute Salonheld, morgen »Bohémien«, war er in der rauchigsten Künstlerkneipe ebenso zu Hause wie in den Appartements Kaiser Napoleons. Die Stimmung war durch Viviers Erzählungen bald so heiter geworden, daß jeder neue Spaß fruchtbaren Boden fand, z.B. der Vorschlag, sofort (also bei dunkler Nacht) nach Dorés Atelier zu fahren, um dessen neues Bild »Der Spieltisch in Homburg« anzusehen. Schnell waren zwei Fiaker in Beschlag genommen, und wir fuhren zu dem nahe gelegenen Atelier in der Rue Bayard. Das vielbesprochene kolossale Genrebild mit nahezu hundert lebensgroßen Figuren, das einige Wochen später den Hauptmagnet der Kunstausstellung bildete, stand, noch unvollendet, in völliger Dunkelheit da. Es war drollig[258] genug, wie Doré, eine Lampe zur Hand, das Gerüst bestieg und das Bild von rechts beleuchtete, während sein Farbenreiber auf einer Leiter die linke Seite erhellte. Doré, dessen geistvolle Illustration des »Don Quixote«, »Dornröschen« und der »Divina Commedia« auch in Deutschland längst bekannt sind, war damals ein schmucker junger Mann von sehr einnehmenden Zügen und Umgangsformen, eine jener echt französischen Künstlernaturen, welche mit dem erstaunlichsten Fleiß den vollsten Genuß der Lebensfreuden verbinden. Er trieb uns aus dem Halbdunkel seines Ateliers zur raschen Rückkehr nach dem hell erleuchteten Salon an. Da wogte es bereits in glänzender Fülle von schönen Damen, gefeierten Künstlern, ordenschimmernden Diplomaten. Eben war die berühmte Sängerin Grisi mit ihren drei Töchtern eingetreten, jungen, rehschlanken Mädchen mit üppigen Locken und geistsprühenden Augen. Sie nahmen Platz neben der dunklen Zentifolie Carlotta Patti und Mary Krebs, dem deutschen Vergißmeinnicht. Marquis de Caux, ein Stern der jungen Herrenwelt von Paris, hat als Anführer von Cotillons bereits wiederholt in die Hände geklatscht, als plötzlich eine kleine Bewegung am Eingang entsteht und alle Augen sich nach der Türe wenden. Durch die respektvoll zurückweichenden Reihen schreitet ein kleiner alter Herr, dem unsere junge Hausfrau mit der ganzen Natürlichkeit ihrer Bezauberungskunst entgegeneilt. Der späte Gast in tadellosen Lackstiefeletten und weißer Krawatte, die Rosette im Knopfloch und den Claquehut unterm Arm, ist Auber. Er begrüßt mit verbindlicher Haltung die Mitglieder des Hauses und sieht stehend eine volle Stunde lang dem Tanze zu. Dann gibt es einige kurze Ansprachen nach rechts und links, bis zwei schöne Frauen den galanten Maestro zu sich aufs Sofa nötigen. Welche Lebenskraft und Lebenslust!

Von den genannten Herren bemühten sich zwei Rivalen besonders eifrig um die Gunst Adelinas: der Marquis de Caux und der Maler Gustave Doré. Sie hat bekanntlich den ersteren gewählt; mir wäre der zweite lieber gewesen. Der Marquis, berühmt als Sportsman, Wagen- und Pferdekenner, war übrigens ein vollendeter Gentleman. Als mein Tischnachbar bei einem Diner der Fürstin Metternich überraschte er mich durch das korrekte Deutsch, womit er mich an sprach. Er war, wie er mir erklärte, in Hannover erzogen, wo sein Vater Gesandter gewesen. De Caux schwärmte für Adelina und blieb zeitlebens ihr rasendster[259] Claqueur. Bei diesem Punkte schien die Liebe des alternden Lebemanns stehengeblieben zu sein. Das Herz seiner jungen Frau ließ er kalt. Nach einigen Jahren hat bekanntlich das südlichere Temperament des Tenoristen Niccolini den Marquis verdrängt. Es bedurfte zweier sehr umständlicher Ehescheidungen zu diesem neuen Bunde, denn auch Niccolini war verheiratet. Adelinen ist ihr neuer Gemahl nicht eben billig zu stehen gekommen; sie mußte, nach dem französischen Gesetz der Gütergemeinschaft, dem Marquis ungefähr eine Million Franks auszahlen.

Ein interessanteres Diner werde ich schwerlich erleben als das bei dem Deputierten M. de Javal. Er hatte eine Pragerin zur Frau, die ältere Schwester der Frau Julie von Ladenburg, also eine frühe Jugendbekanntschaft von mir. Wir waren nur zehn Personen. Wie selten sind diese angenehmsten Mahlzeiten, wo jeder der Gäste in Kontakt mit den übrigen bleibt und ein gemeinsames, belebtes Gespräch den Lärm ersetzt, in welchem die Teilnehmer eines großen Diners ihr eigenes Wort nicht verstehen! Und wer waren die Gäste? Zuerst M. Thiers und Jules Favre; der große Geschichtschreiber und Exminister neben dem berühmtesten Advokaten und Deputierten Frankreichs. Sodann der bekannte radikale Deputierte M. Glais-Bizoin und drei Herren aus Prag: der böhmische Historiograph Palacky, sein Schwiegersohn Ladislaus Rieger, der Führer der Tschechen im österreichischen Reichsrat, samt Gemahlin und der Komponist und Klaviervirtuose Julius Schulhoff. Kaum war Rieger den französischen Gästen vorgestellt, als schon sein nationaler Missionseifer ihn stachelte, einen kleinen Vortrag über die Tschechen zu halten. »Les Tchèques n'est-ce pas, ce sont des Russes?« fragte Jules Favre, nachdem er ein Weilchen zerstreut zugehört. Nun kam Riegers Belehrungs- und Bekehrungsdrang erst recht in Fluß. Er zog eine große ethnographische Karte aus der Tasche, breitete sie auf dem Klavier aus, explizierte die Zahl und Wichtigkeit der Tschechen, dann der übrigen slawischen Stämme in Österreich. Von diesen rot kolorierten Flecken auf seiner Landkarte war er nicht zu trennen; er rief mit steigender Wärme: »Hier sind Slawen, da sind Slawen, überall herum Slawen,« – während der Diener schon zum zweiten Mal sein »Madame est servi!« gemeldet hatte. Die Gäste fühlten offenbar einen weit stärkeren Zug zur Suppe als zu den Slawen und wendeten sich ohne weiteres zum Speisesalon, während Riegers Landkarte offen auf dem Klavier verblieb – wahrscheinlich[260] für den Nachtisch. Mein Nachbar beim Diner war Jules Favre, der ernste Mann mit dichtem Haupthaar und dem starken Backenbart rund um das ganze Gesicht herum, der ihm das Aussehen eines amerikanischen Pflanzers gab. Meine Besorgnis, einen solchen Nachbar nicht standesgemäß unterhalten zu können, schwand einigermaßen, als er sich nach österreichischen Unterrichtsverhältnissen, insbesondere der Organisation unserer Universitäten erkundigte. Mit einiger Verwunderung entnahm ich aus seinen Fragen, daß ihm alle diese Dinge neu und fremd waren. Auf mehr als einem Gebiete habe ich es erlebt, wie kindlich fremd mancher berühmte und geistreiche Franzose sich in Dingen erwies, die über die Grenzen seines Vaterlandes hinauslagen. Thiers kennenzulernen empfand ich als einen ganz unverhofften und unschätzbaren Glücksfall. Der bewegliche kleine alte Herr, dessen Augen noch gar lebhaft durch die große Brille leuchteten, sprach mit den Deputierten Javal und Glais-Bizoin eifrig über parlamentarische Tagesfragen; mir ist mehr das Wie als das Was seines Gesprächs gegenwärtig. Aber die Persönlichkeit der beiden Staatsmänner Thiers und Jules Favre ward mir später noch viel wichtiger, als ich sie, drei Jahre nach diesem heiteren, intimen Diner, als Hauptpersonen auf den Schauplatz der politischen und kriegerischen Ereignisse gedrängt sah. Von ganzem Herzen über die deutschen Siege jubelnd, fühlte ich doch eine tiefe menschliche Teilnahme mit dem Unglück der beiden Männer, die sich in eifrigem Patriotismus aufrieben, um das Schicksal Frankreichs im Jahre 1870 zu mildern.

Wer ahnte in dem Festjubel des Pariser Ausstellungssommers von 1867 die so nahe Katastrophe der Napoleoniden, den furchtbaren Krieg von 1870! Es ist mir eine wertvolle Erinnerung, Louis Napoléon auf dem Gipfel seiner Macht und seines Einflusses noch gesehen zu haben. Täglich fuhr ein anderer von den großen und kleinen Monarchen Europas vor den Tuilerien vor und huldigte dem »Emporkömmling«. Meine offizielle Stellung in der österreichischen Kommission verhalf mir zu mancher beneidenswerten Einladung. Eines der interessantesten Feste war der Abendempfang in den Tuilerien. Napoléon und die Kaiserin Eugénie hielten Cercle, dann spielten Bressand und Madame Plessy vom Théâtre français ein Proverbe auf einer improvisierten kleinen Bühne. Schließlich unterhielt man sich an dem großen Buffet, daß keinen soliden Imbiß, sondern nur Eis, Champagner und[261] Backwerk darbot. In dieser Hinsicht erwiesen sich andere Festgeber kaiserlicher als der Kaiser und vergaßen nicht des menschlichen Rührens, das man am Ende eines langen heißen Festabends verspürt. Einen herrlichen Ball gab der Präsident des Corps législatif M. Schneider; man konnte sich im Garten ergehen, der von elektrischen Lichtern glänzte. Und die Fülle von Blumen und schönen Frauen! Einen noch großartigeren Anblick bot der Ball der Stadt Paris im Hôtel de Ville. Der Kaiser von Rußland, der Kaiser von Frankreich, der König von Preußen und andere Monarchen waren anwesend. Der überdeckte Hof mit seinen Fontainen, die mit Efeu umrankten Galerien, die von Brillanten und Ordenssternen funkelnden Damen und Würdenträger auf den beiden Freitreppen – ein märchenhaftes Bild! Allwöchentlich gab einer der Minister ein Fest zu Ehren der fremden Kommissäre, und jeder suchte sich durch eine neue interessante Variation hervorzutun. So bildete eine theatralische Vorstellung den Hauptreiz eines vom Minister der schönen Künste, Marschall Vaillant, gegebenen Festes. Die Sänger der Opéra comique begannen mit einer kleinen halbverschollenen Oper von Isouard »La rencontre imprévue«; es folgte ein Duo aus den »Hugenotten« usw. Beim Handelsminister Forcade genossen wir ein interessantes Konzert mit Madame Carvalho, Faure und Capoul. Die schönsten, künstlerisch ausgeschmückten Empfangssäle hatte der Staatsminister Rouher in einem Flügel der Tuilerien; da wurde eines Abends »La fille de l'avare« gegeben, mit Bouffé in der Rolle des Geizigen. Mit aufopfernder Liebenswürdigkeit standen der Minister, seine Frau und Töchter die halbe Nacht hin durch am Eingang des Saals, um die Eintretenden zu empfangen, deren Namen von dem Huissier meistens in komischer Verstümmelung ausgerufen wurden. Mit ungewöhnlich heiterer Miene trat ich mit meinem Freunde, dem österreichischen Ausstellungskommissär Dr. Thaa, in den Saal, wenn wir ausgerufen wurden: »Messieurs Hanlue, Tadraa!« In Bezug auf die Gastfreundschaft und Liebenswürdigkeit, womit hier die höchsten Würdenträger sich in Festen für uns Fremde überboten, kann keine Stadt mit Paris sich messen.

Aus dieser an geselligen Vergnügen so reichen Ausstellungszeit könnte ich noch manchen in meiner Erinnerung nachglänzenden Tag schildern. Aber wie wenig dürfte den Leser das angenehme ländliche Mittagsmahl in Sèvres interessieren, zu welchem Desirée Artôt, die liebenswürdigste, heiterste aller Hausfrauen, uns geladen[262] hatte? Oder das festliche Diner, das Konsul Friedland aus Wien den österreichischen Jurors gab? Er hatte dazu den herrlichsten Schauplatz auserwählt: die große Terrasse Henri IV. in Saint-Germain en Laye. Die breitschulterige Gestalt mit dem gewaltigen Negerkopf des alten Alexander Dumas ragte aus unserer Tischgesellschaft hervor; seine Toaste sprühten mit den glänzend aufsteigenden Raketen um die Wette. Dann gab es einen schönen musikalischen Abend bei August Wolff, dem feingebildeten Chef der Firma Pleyel und Wolff. Dort lernte ich den berühmten Tenoristen Duprez kennen. Vergebens bestürmte man ihn, eine Kleinigkeit zu singen. Die Heiserkeit, mit welcher er sein Ablehnen entschuldigte, war keine bloße Ausrede, denn der alte Herr hörte sonst in Freundeskreisen noch immer gern seine Stimme und den Applaus der Gäste, beides wie ein Echo aus früheren guten Tagen. Aber etwas anderes Musikalisch-Dramatisches wollte er uns zum besten geben: ein Marionettentheater, das, ursprünglich nur für seine Kinder erdacht und geübt, allmählich in Paris eine erstaunliche Berühmtheit erlangt hatte. Duprez' Sohn, Léon, und seine Tochter, die treffliche Sängerin Karoline Duprez-Vandenheuvel, stellten in einer Nische des Salons ein kleines Puppentheater mit Dekorationen und drei bis vier beweglichen Figuren auf, welche sie sehr geschickt mittelst Schnürchen von oben dirigierten. Sie wählten an diesem Abend den vierten Akt aus Donizettis »Favorite«; Fernand und Leonore machten die ergötzlichsten, jeder Phrase genau folgenden Bewegungen, während die beiden Geschwister hinter der Szene ihre Partien mit feinem parodistischen Vortrag sangen. Man konnte unmöglich etwas Drolligeres erleben; die blasiertesten Gesichter leuchteten vor Heiterkeit, die feierlichsten Rücken krümmten sich vor Lachen. Diese reizende Komödie, anfangs nur in vertrautesten Freundeskreisen produziert, machte bald so viel von sich reden, daß die Familie Duprez sie vor Napoléon III. und seinem Hof aufführen mußte. Papa Duprez, auch von dieser kleinsten Opernbühne bereits zurückgezogen, hörte aus einem Fauteuil wohlgefällig zu. Ein kleiner vierschrötiger Mann mit schwarzgrauem Krauskopf, niedriger Stirn und breitem Mund, so uninteressant und spießbürgerlich aussehend, daß wir ihn für einen reichgewordenen Schankwirt oder Käsehändler gehalten hätten. Erzählte er doch selbst freimütig, daß eine berühmte Tänzerin der Großen Oper bei der Generalprobe von »Wilhelm Tell« hinter ihm ausrief: »Was? Das[263] soll der neue Tenorist sein, der mit so hoher Gage statt Nourrit engagiert wird? Eine solche Kröte? Unmöglich!« Auch mir wollte es bei dem ersten Anblick Duprez' durchaus nicht eingehen, daß diese unansehnliche Figur mit dem derb prosaischen Gesichte als Raoul, Edgar oder Fernand das Publikum hinreißen konnte, ein Publikum zumal, das an die poetische Erscheinung Nourrits gewöhnt war. Und dennoch wissen wir, daß es so gewesen.

Nach dem Souper will weder Saint-Saëns noch Schulhoff ans Klavier. »So setzt euch beide daran,« ruft Ambroise Thomas, »und improvisiert etwas vierhändig!« Die beiden, ebenso feste Musiker als glänzende Virtuosen, gehen mit bester Laune auf den Vorschlag ein, bestimmen nur Takt und Tonart und improvisieren nun auf das überraschendste. Einer dem andern aufmerksam folgend, ihn vorauslassend oder zurückdrängend, scheinbar irreführend oder irregeführt, immer jedoch, ohne die kleinste Lücke in ihrem Ensemble, wieder in effektvollstem Einklang zusammentreffend. Es war einer der hübschesten musikalischen Scherze mit geradezu erstaunlichem Talent ausgeführt.

Abseits von diesen Soiréen fehlte es mir nicht an traulichen Asylen bei Freunden und näheren Bekannten. Da war vor allen das Haus Friedrich Szarvadys. Ich kannte ihn aus meiner Jugendzeit in Prag, wo er Hauslehrer bei einer befreundeten Familie war. Das Jahr achtundvierzig lockte ihn in seine ungarische Heimat; da schloß er sich enthusiastisch an eine revolutionäre Bewegung. Der Sieg der Reaktion in Österreich trieb ihn nach Paris, das er nicht wieder verlassen hat. Er zählte dort zu den ausgezeichnetsten Journalisten und Korrespondenten. Vor dem »Revolutionär«, der aus seinen intimen Beziehungen zu Kossuth, Klapka, Mazzini und Cavour kein Hehl machte, schreckte das offizielle Österreich zurück; im persönlichen Umgang gab es keinen aufrichtigeren, liebenswürdigeren Menschen, im Familienleben kein zärtlicheres Gemüt. Szarvady hatte sich früh mit der ausgezeichneten Klaviervirtuosin Wilhelmine Clauß verlobt, einer Pragerin, die im Jahre 1854 in Wien mit großem Erfolg konzertierte und an mich empfohlen war. Das geistvolle, poetische Mädchen zog mich damals mächtig an; wir spielten viel vierhändig – lauter Schumann – und waren in ihrer Wohnung, auf Spaziergängen, im Theater fast täglich beisammen. »Wenn man sie spielen hört oder mit ihr plaudert,« pflegte Alfred Meißner zu sagen, »glaubt man Orangenduft zu atmen.« Ich hatte dreizehn Jahre lang nichts von[264] ihr gehört, ihren Mann fast gänzlich aus meinem Gedächtnis verloren, als ich 1867 nach Paris kam. Da sehe ich eines Abends im Café Helder Julius Schulhoff mit einem kleinen Manne sitzen, dessen blauschwarzes, glattes, langes Haar und funkelnde Zigeuneraugen mir bekannt vorkommen: Friedrich Szarvady. Er machte mir Vorwürfe, daß ich sein Haus noch nicht aufgesucht. – »Wissen Sie auch,« entgegnete ich, »daß ich in Ihre Frau verliebt war?« – »O, natürlich!« meinte er, »ich selbst bin schon sechzehn Jahre lang in sie verliebt!« So ging ich denn anderen Tages hin und erfreute mich an dem Anblick des schönsten Familienlebens. Frau Wilhelmine hatte mit ihrem blonden Lockenkopf auch ihre kindliche Natürlichkeit, ihr poetisches originelles Denken sich vollständig erhalten. Wir feierten unser Wiedersehen gleich mit einem musikalischen Fest, indem wir uns ans Klavier setzten und Brahms' herrliches »Deutsches Requiem« vierhändig spielten. Seitdem habe ich in Szarvadys traulichem, künstlerisch geschmückten, von hellen Kinderstimmen belebten Heim manchen schönen Abend verbracht, teils allein, teils mit Stephen Heller, Saint-Saëns, Schulhoff und anderen musikalischen Leuten. Szarvady hat sich mir als einer der treuesten, herzlichsten Freunde bewährt, auch bei meinen späteren Besuchen in Paris 1875 und 1878, wo er jede Stunde, die sich seinem anstrengenden Beruf abringen ließ, opferte, um mir und meiner Frau Vergnügen zu bereiten. In späteren Jahren sah er sich durch Vermögensverluste zu verdoppelter Anstrengung angespornt und hat diese Überarbeitung mit dem Leben bezahlt. Der Gedanke, Szarvady nicht mehr anzutreffen, verleidet mir seither den Gedanken an eine Reise nach Paris.

Quelle:
Hanslick, Eduard: Aus meinem Leben. Kassel, Basel 1987, S. 258-265.
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