[96] Ein ausgezeichneter Mann, mit dem ich im Jahre 48 und später noch häufig verkehren durfte, war Friedrich Hebbel. Im juridischen Leseverein lernte ich ihn auf seltsame Weise kennen. Ich war einen Augenblick von meinem Sessel aufgestanden und hatte auf dem Lesetisch einen Kommentar des Strafgesetzbuches offen liegen lassen. Zurückkehrend fand ich Hebbel auf meinem Sitz installiert und vertieft in einen heiklen Paragraphen des Kriminalkodex. Ich sah ihm eine Weile zu und sprach ihn endlich an. Sein Interesse an allem, was Verbrechen betrifft, verstand ich sehr wohl, und da ich in seinen Dramen genau Bescheid wußte, war bald ein langes Gespräch im Zuge. Eigentlich ein Monolog Hebbels. Der geistvolle Mann war ein Virtuose des mündlichen Vortrags und schwelgte augenscheinlich im Selbstgenuß dieser Virtuosität. Ich habe kaum jemanden, der stets Eigentümliches, Tiefgedachtes zu sagen wußte, es so formvollendet, so druckreif vortragen hören. Nicht ein Wort hatte er zu korrigieren, nicht ein Interpunktionszeichen fehlte. Es war ein seltener Genuß, Hebbel zuzuhören. In diesem Genuß empfand ich nur eine Eigentümlichkeit Hebbels störend: er kam sprechend dem Angeredeten immer näher und näher, bis diesen der Hauch seines Mundes berührte. Ich wich meistens unmerklich immer mehr zurück, bis ich mit dem Rücken an der Wand lehnte und nicht weiter konnte. Dabei pflegte Hebbel den Kopf langsam, taktmäßig nach rechts und links zu wiegen und mit der rechten Hand zu agieren. Mit seinen wunderbar schönen, blauen Augen schien er dem andern tief ins Innerste zu bohren. Hebbels Gespräch hatte stets etwas Dozierendes, fast Predigendes. Mit einer Zwischenfrage oder Gegenbemerkung durfte man ihn nicht unterbrechen, ohne dazu aufgefordert zu sein. Er wollte nur Zuhörer, nicht Mitsprecher. Nur die zustimmende Aufmerksamkeit seiner Hörer war ihm wertvoll, nicht deren eigene Meinungen. Ich hatte bei aller Verehrung[96] für Hebbel doch stets die Empfindung, es seien ihm alle Menschen seiner Umgebung eigentlich gleichgültig in ihrem Wohl und Wehe und nur existierend als mehr oder minder würdige Gefäße für die Aufnahme seiner Gedanken. Die faszinierende Kraft seiner Rede, seiner Unterhaltung, ließ anfangs jedermann sich gern mit der untergeordneten Rolle bescheiden, zu welcher Hebbel seinen Gast herabdrückte. Aber auf die Länge verträgt selbst der aufrichtigste Verehrer nicht die völlige Annullierung der eigenen Persönlichkeit. Die meisten in Hebbels Hause verkehrenden jüngeren Männer schränkten mit der Zeit ihre Besuche ein und benützten irgendeinen nicht zu vermeidenden Zusammenstoß mit Hebbels tyrannischer Laune, um unmerklich auszubleiben. Hebbel strafte dies mit dem Ausspruch: »Wenn die Äpfel reif sind, fallen sie ab.« In jenem ersten Jahrzehnt von Hebbels Wiener Leben waren Robert Zimmermann und ich sehr gern bei Hebbel gesehen. Erst später kamen Emil Kuh, Debrois, Julius Glaser u.a. an die Reihe. Er lud uns beide häufig in seine Stadtwohnung, im Sommer auch nach Penzing ein, wenn er ein neues Werk aus dem Manuskript einem kleinen Kreise vorlas. So hörten wir ihn »Herodes und Mariamne«, den »Rubin«, den »Diamant«, »Agnes Bernauer« vorlesen. Sehr stolz waren wir, als eines Morgens Hebbel uns in unserer Studentenwohnung, vier Treppen hoch, aufsuchte und uns einlud, der ersten Aufführung seines Trauerspiels »Herodes und Mariamne« im Burgtheater mit ihm beizuwohnen. Zimmermann und ich nahmen nicht ohne Selbstgefühl in Hebbels Parterreloge Platz. Aber es sollte uns teuer zu stehen kommen. Nach dem ersten Akt rührte sich keine Hand; im zweiten erregten einige Stellen ironische Heiterkeit. »Das Stück fällt durch,« sagte Hebbel mit erzwungener Fassung. Wir suchten ihm zu widersprechen, aber wie es in solchen Fällen geht, klang unsere Einwendung so kleinlaut, daß man den eigenen Unglauben heraushören mußte. »Das Stück fällt durch!« wiederholte Hebbel mit stärkerer Betonung, und er behielt leider vollständig recht. Die erste Aufführung von »Herodes und Mariamne«, am 19. April 1849, ist auch die letzte geblieben. Es war ein nicht zu beschönigendes Fiasko. Das Sichbedanken und Adieusagen nach einem solchen Mißerfolg gehört zu den gräßlichsten Empfindungen. Sie ist mir tief sitzen geblieben, und ich habe seither nie wieder eine Premiere an der Seite des Autors durchgemacht.[97]
Von Hebbels aufbrausender Empfindlichkeit machte ich gleich im Anfang unserer Bekanntschaft manche Erfahrung. Im juridischen Leseverein war mir das neueste Heft der »Tübinger Jahrbücher« zuerst in die Hände gefallen, worin ein großer kritischer Aufsatz von Fr. Vischer über Hebbels »Judith« und »Maria Magdalena« stand. Der Aufsatz enthielt neben begründeten Einwürfen doch auch volle Anerkennung von Hebbels genialer dramatischer Kraft und mußte, wie mir schien, als das Urteil des bedeutendsten und berühmtesten Ästhetikers, für Hebbel von Wichtigkeit sein. In meiner Unschuld brachte ich Hebbel, der im Nebenzimmer saß, das Heft. Ich kannte noch nicht die ganze Reizbarkeit seines Selbstgefühls, das absolut keinen Tadel vertrug. Nachdem er den Aufsatz gelesen, kam er in zorniger Erregung dicht an mich herangeschritten: »Junger Mann,« herrschte er mich an, »wenn Sie mir noch einmal eine Wespe ins Gesicht setzen wollen, so werde ich Ihnen dafür ein ganzes Wespennest bringen.« Sprach's und ließ mich ganz niedergedonnert stehen. Ich hatte eine Kritik von Vischer doch für mehr angesehen als einen Wespenstich und Hebbels künstlerischen Ernst und Wahrheitsdrang für größer als seine Eitelkeit.
Später schien er sein barsches Auftreten zu bereuen; er kam nach einer Stunde beruhigt wieder und erklärte mir, daß man einem schaffenden Poeten alles Störende, Verletzende fernhalten müsse. »Goethe,« beschloß er, »hatte einen eigenen Beamten angestellt, der die Zeitschriften durchsehen und alles beseitigen mußte, was ihn in üble Laune versetzen konnte. Und Goethe hatte recht.« Zu den Gegenständen seines besonderen Hasses gehörten Julian Schmidt und Gutzkow. Eines Tages betraf mich Hebbel auf der Lektüre einer sensationellen, neuen Flugschrift von Gutzkow, »Deutschland am Vorabend seiner Größe oder seines Falles«. – »Junger Mann!« fuhr er wieder zornig los, »mit was für Zeug verderben Sie Ihre Zeit? Merken Sie: man muß nur zweierlei Schriften lesen; will ich mich über die Fabrikation von Stiefeln belehren, so lese ich das Werk eines Schusters, also eines Fachmannes. Alles Übrige nur von den wahrhaft großen, führenden Geistern der Literatur. Gutzkow ist ein niederträchtiger Bursche!« Man konnte Hebbel manchmal mit der harmlosesten Bemerkung in Harnisch bringen. Nach einer Aufführung von »Judith« äußerte ich: »Wie schön war die Aufführung; wie großartig Ihre Frau im dritten Akt!« – »Im dritten Akt?« entgegnete Hebbel[98] spitzig und gereizt; »im dritten Akt? Ich glaube von einem Ende bis zum andern, von einem Ende bis zum andern!« Und damit ließ er mich stehen. Ein andermal war von Goethe die Rede; meine ungemessene Bewunderung für »Faust« veranlaßte Hebbel zu folgenden Worten: »Goethe ist unser größter Lyriker, bleibt unerreichbar als Lyriker. Als Dramatiker ist er ein Kind gegen mich.«
Für Malerei und Plastik hatte Hebbel, wie seine Tagebücher aus Rom beweisen, eigentlich gar kein Interesse; nur eine Kunst war ihm noch gleichgültiger: die Musik. Als ein bekannter Musiker trotzdem eine Äußerung über Beethoven aus ihm herauslocken wollte, erhielt er folgende lakonische Auskunft: »Ich suche Beethoven nicht auf, aber ich weiche ihm auch nicht aus.« Daß Hebbel eine durchaus unmusikalische Natur war, konnte ein feines Gehör allenfalls schon aus seinen Gedichten vermuten, in welchen so wenig Wert auf Wohlklang gelegt scheint. Trotzdem hatte Rubinstein die wunderliche Idee, sich einen Operntext bei Hebbel zu bestellen. Hebbel und ein Opernlibretto! Er selbst zauderte eine Weile; dann mochte ihn doch das ganz Neue, Abenteuerliche dieser Aufgabe reizen und nicht zuletzt das von Rubinstein angebotene sehr bedeutende Honorar. Also Hebbel schrieb den gewünschten Operntext; Rubinstein, ungeduldig, verschlang gierig das Manuskript, las es dann ruhig noch einmal und noch ruhiger ein drittes Mal und sperrte es schließlich als ganz unmöglich in seinen Schreibtisch ein. Auch die Schönheiten der Natur vermochten Hebbel, dessen Geist nur an psychologischen Problemen Nahrung fand, nicht nachhaltig zu fesseln. Als er ein kleines Landhaus in Gmunden angekauft hatte, war es mit der Freude an dem Besitz bald vorüber. »Ach, wie glücklich müssen Sie sich in dieser herrlichen Landschaft fühlen!« apostrophierte ihn ein Bekannter. »Lassen Sie mich mit dem ewigen Naturgenuß in Frieden,« erwiderte Hebbel gereizt, »ich esse keine Maikäfer, ich esse Menschen.«
Das Großartige, Geniale in Hebbels Dramen, die Kühnheit der Probleme, der psychologische Scharfblick, – das alles erregte meine lebhafteste Bewunderung. Sie konnte aber für die Dauer nicht ungeschmälert bleiben; der Mangel an Schönheitssinn, an naiver Schaffensfreudigkeit bei Hebbel, das Gequälte seiner auf krankhafte psychologische Probleme auslugenden Phantasie ernüchterte mich früher, als ich gedacht hätte. Zu dieser innerlichen[99] Opposition fühlte ich mich noch mehr gereizt durch Hebbels Neigung, in jedem, auch dem mindest bedeutenden seiner Werke, den Gipfel seiner Kunst zu erblicken. Die kleine Erzählung »Die Kuh«, die komische Geschichte »Schnock« und ähnliches nannte Hebbel »Kunstwerke, in denen die höchsten Probleme des Sittlichen gelöst sind, alle Elemente des Tragischen und Komischen in der Form strengster Notwendigkeit vereinigt erscheinen.« Sein Gedicht der »Brahmane« bezeichnete er als seine großartigste Schöpfung, ohne nur von fern zu empfinden, wie nahe an das Komische die Erhabenheit dieses Brahmanen streift, der sich von Ungeziefer auffressen läßt, weil er nicht das Recht habe, irgendein lebendes Wesen zu töten. –
Man konnte auf Hebbels Freunde den bekannten Ausspruch des sterbenden Hegel also variieren: »Von allen Freunden Hebbels hat es nur einer bis zu Ende bei ihm ausgehalten – und auch dieser hat es nicht ausgehalten.« Dieser eine war Emil Kuh, ein geistreicher und liebenswürdiger Mensch, der mit schrankenloser Begeisterung an Hebbel hing und diesem in einer zweibändigen Biographie ein würdiges Denkmal gesetzt hat. Eines Tages erzählte mir Kuh, er habe sich mit Hebbel überworfen. »Nicht möglich!« rief ich ungläubig aus; »wie konnte das nur kommen?« Kuh war durch mehrere Jahre, jeden Abend zur bestimmten Stunde, zu Hebbel gekommen, der sich an ihn gewöhnt hatte und alles mögliche mit ihm besprach oder richtiger ihm vorsprach. Er war Hebbel schließlich unentbehrlich geworden. Da geschah es, daß Emil Kuh sich verlobte und es ganz natürlich fand, hin und wieder auch einen Abend bei seiner Braut zuzubringen. Hebbel fand dies aber keineswegs natürlich. Er verlangte unbedingte und ausschließliche Hingebung. »Entweder Sie kommen täglich zu mir wie bisher oder gar nicht!« So schwer es dem guten Emil fallen mochte, er wählte schließlich das »gar nicht«. Der auch in der Freundschaft autokratische Hebbel war denn doch zu weit gegangen. Erst auf dem Sterbebett ließ er Kuh zu sich kommen, um nicht unversöhnt mit diesem, seinem treuesten Anhänger aus dem Leben zu scheiden.
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