VII.

[198] Nach meinem guten Meister Hummel trug ich großes Verlangen – ich frug Heine, der ihn nicht persönlich kannte, mir aber doch eine Richtung angab, auf welcher ich, wie er meinte, zu ihm gelangen würde. Ich folgte derselben und – siehe da – er stand plötzlich vor mir, und mit ihm erkannte ich Moscheles, Schubert, Mayseder, zu welchen sich Andere zu gesellen schienen, deren Gegenwart ich aber nur errathen konnte, aus einzelnen Bewegungen der Genannten. »Ei, lieber Ferdinand,« sagte mein Meister (wie freute ich mich der alten halbväterlichen Anrede!), »ich weiß, daß Sie zuweilen hieher kommen, und war auch sicher, Sie wiederzusehen!« »Mein guter Meister,« rief ich, zu bewegt, um mehr zu sagen. »Du hast mancherlei Glück gehabt,« sprach Moscheles – »doch kein so großes, wie die Vergünstigung, die dir zu Theil wird, und von der auch ich mein Theil nehme.« »Stets warst du gütig gegen mich,« erwiderte ich. Schubert und Mayseder rief ich die Epoche zurück, während welcher ich sie kennen gelernt. »Es war während seiner letzten Erdentage,« sagte Schubert leise – ich gedachte Beethoven's, wendete mich aber an meinen Meister mit fragendem Blick, denn ich hoffte mehr von ihm zu hören. »Welch verschiedenartige Wege haben meine Schüler eingeschlagen,« hob dieser an – »nicht alle haben mir ein treues Andenken bewahrt. Und doch meinte ich's gut mit allen und lehrte sie, was sie lernen konnten.« »Die Lehrer gleichen den Aerzten,« sagte Moscheles, »sie müssen der Natur freie Bahn schaffen. Die Kraft derselben können sie nicht erhöhen, wohl aber können sie sich in der Diagnose irren, und das ist bei Schülern fast eben so gefährlich wie bei Kranken.« »Vor Allem dürfen die Schüler nicht krank sein,« sagte Mayseder lächelnd. »Auch darin gleicht der Lehrer dem Arzte,« fuhr Moscheles fort, »daß sein sorglicher Eifer beinahe eben so wohlthätig[198] wirkt wie seine Mittel.« »Ich habe wenig gelernt,« meint Schubert, »und belehrt habe ich Niemanden.« »Was belehrt mehr als die Werke des Genius?« rief ich aus. »Sicherlich,« sagte mein Meister, »wenn man sie studirt, um sie zu erkennen, nicht um sie zu imitiren – manche wackere Musiker von meinen Zeitgenossen gingen daran zu Grunde, es Beethoven nachthun zu wollen. Bleibe doch Jeder an seinem Platze!« »Leichter kann man ein Baron werden als ein Genie,« meinte Mayseder und schien sich zu entfernen. »Sie haben«, wendete Hummel sich lächelnd zu mir, »oft meine Werke empfohlen – gespielt haben Sie dieselben wenig!« »Wahrlich, lieber Meister,« erwiderte ich, »nur diejenigen nicht, welchen ich nicht glaubte genug thun zu können – ich habe so wenig Geduld zum Ueben, daß ich die eigenen Sachen, für die ich doch als Vater sorgen müßte, kaum zu Gehör bringe. Und das ist Ihnen doch nicht entgangen, wie wenig es Sie jetzt interessiren mag, welche Ausdehnung die Technik des Clavierspiels erreicht hat. Junge Mädchen, halbwüchsige Knaben leisten das Erstaunlichste. Soll man sich da gerechtem Tadel aussetzen, wo man schon so viel ungerechten über sich ergehen lassen muß? Was mag Ihnen auch daran liegen, liebster Meister?« »Das können Sie nicht wissen, Ferdinand,« erwiderte er, »und brauchen es nicht zu wissen. Ich spreche mit Ihnen von den Dingen, die uns einst gemeinschaftlich beschäftigten, – wir dürfen zurückgreifen ins Vergangene, Ihnen bleibt unser Jetzt verschlossen.« »Du sprichst von ungerechtem Tadel,« nahm Moscheles das Wort; »wer beurtheilt die Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit des Tadels? Gibt es doch kaum eine Möglichkeit, die Handlungen der Menschen gerecht zu beurtheilen! Ob sie gesetzmäßig oder nicht, gewissen Gesetzen gegenüber, das mag festgestellt werden können, mehr nicht – das Loben und Tadeln sind Lebensäußerungen derjenigen, die da loben und tadeln – und auch wenn sie unaufrichtig sind, gehässig, eigennützig, sie entziehen sich der Beurtheilung derer, welchen sie angenehm oder unangenehm sein mögen. Deshalb müßte auch jeder, der Kraft genug hat durch sich selbst zu leben, nicht mehr theilnehmen daran, als an allem andern, was durch's Leben der Menschen zieht.« »Der Sturm[199] saust über die Felder, durch die Wälder,« sagte Schubert mit sinnendem Blick, »die Sonne wirst belebende, versengende Strahlen herab, die Elemente wirken erquickend, zerstörend! Da beben die Bäume und mancher bricht entwurzelt, da springen neue Blüten über Nacht hervor und entzücken die Erwachenden, – die Einen freuen sich, die Andern weinen, die Einen zürnen und erstaunt stehen Andere da. So ziehen die Anschauungen, die Meinungen, die Ueberzeugungen und die Träume, so ziehen Wahrheit und Lüge durch das Leben der Sterblichen – stärkend, vernichtend, belebend, zerstörend, und was war, war nothwendig, wie es uns auch erschienen!« Erstaunt horchte ich auf die Sprache des Sängers, und seine Melodieen zogen durch meine Seele, Hunderte in demselben Augenblick – hatte er sie in Worte übersetzt? – Ich sah Niemanden mehr.

Da plötzlich trat vor mein Auge eine hohe, schlanke Gestalt, die mir aus frühester Jugend her unvergeßlich geblieben – es war Grillparzer! »Mir scheint,« sagte er, »Schubert hat Sie in Verwunderung gesetzt durch seine Sprache und doch wohl weniger als einst durch seine Gesänge?« »Sicherlich,« erwiderte ich, »diese waren eine Offenbarung, sie bildeten die vollständige Ergänzung unserer großen deutschen Lyrik.« »Unsere große deutsche Lyrik,« wiederholte der Dichter, »ist sie nicht allzu umfassend? Sie enthält unsere Instrumentalmusik von Rechts wegen und obendrein ein gut Theil unseres Dramas, unserer Philosophie, unserer Theologie, ja, unseres politischen Lebens! Unser Drama hat sie fast unmöglich gemacht. Wie sehr habe ich mich bemüht, mich meiner selbst zu entäußern, wie wenig, wie selten ist es mir gelungen. Klar standen die Gestalten, die ich schaffen wollte, vor meinem Auge, lebendigen Odem hauchte ich ihnen ein, aber er war allzu sehr versetzt mit meinem Blute.« »Hat es denn je einen Dichter gegeben,« sagte ich, »bei dem dies nicht der Fall gewesen wäre?« »Vielleicht nicht ganz,« entgegnete Grillparzer; »dramatische Gestalten sind die Kinder einer Ehe zwischen Verstand und Phantasie und das Herz muß sie nähren – wie viel Glück gehört dazu, daß die Kräfte überall gleichmäßig vertheilt seien! Und Alles ist verloren, wenn eine vorwaltet.« »Es sind die Grundgesetze für jede künstlerische Schöpfung, die Sie[200] aussprechen, verehrter Mann,« sagte ich; »thut nicht jene Gleichmäßigkeit überall Noth?« »Nicht in demselben Grade wie bei dramatischen Schöpfungen,« versetzte der Dichter, »und bei den Deutschen, bei welchen die Mütter einen so hervorragenden Einfluß ausüben, spielt Mutter Phantasie eine zu mächtige Rolle. Ohne Gleichnisse! wie selten ist den allergrößten unserer Dichter ein Drama vollständig gelungen? Und unser Publicum, das deutsche Volk, lehrt uns wenig. Es mag wohl das Beste erkennen, aber es läßt sich das Schlechteste gefallen, ja, es gefällt ihm, wenn es seinen phantastischen Gelüsten schmeichelt. Den einzigen populären Erfolg errang ich durch – die Ahnfrau.« »Der größte Erfolg, der Ihnen zu Theil ward,« sagt ich, »ist ein anderer, ein echt deutscher, aber ein edler und hoher – der Glorienschein, der Ihren Namen jetzt umstrahlt.« »Wohl weiß ich, daß meine guten Landsleute mich auf eine Höhe zu stellen bemüht sind, vor der mir schwindelt – der Glorienschein, von dem Sie sprechen, würde freilich auch ihnen zu Gute kommen – es hilft aber zu nichts, man wird durch solchen Schein nicht zum Heiligen. Der Theilnahme mancher Guten und Großen ermangelte ich nicht, so lange ich dort unten athmete; daß sie mir noch fernerhin erhalten bleibt, daran zweifle ich nicht.« – »Ist Ihnen die Musik noch so theuer wie vordem?« frug ich nach einer Pause. »Nie fühlte ich mich stolzer, ein Musiker zu sein, als da ich Sie von meiner Kunst sprechen hörte.« »Meine Musik,« sagte der Dichter, »ich meine die, die ich mir während eines langen Lebens zugeeignet, sie ist ein Theil meines Seins geworden. – Dürfte es doch kaum ein Geisteserzeugniß der Menschen geben, das bei dem, der es in Wahrheit genossen, vollständiger sich verwandelte, recht eigentlich zum Lebenselixir würde, als die Dichtung in Tönen. Aber so geistig das Brod, so geistig der Wein, die wir aus tönenden Schalen genießen, über ein gewisses Maß hinaus können wir es nicht zu uns nehmen. Ich will es meiner beschränkten Kraft, nicht den Eigenschaften der Speise zuschreiben, wenn ich Manches abweisen mußte, was Andern gedieh. Sagt man doch, die Menschen vervollkommnen nicht allein, was sie hervorbringen, es vervollkommnen sich auch ihre Fähigkeiten, es zu[201] genießen – und ich muß wohl glauben, daß die Geschlechter, die dem meinen folgten, im Besitze besserer Ohren, stärkerer Nerven seien, als ich es gewesen.« »Die Gewohnheit nennt er seine Amme,« rief ich aus. »Diese Erfahrung«, sagte Grillparzer, »ist die traurigste, die Ihr aus Vergangenheit und Gegenwart herauslesen mögt. Sie hat zwar ihre Grenze, aber diese Grenze ist nicht erfreulicher – sie heißt Ueberdruß.« »Darf ich nach diesen Worten aus Ihrem Munde«, entgegnete ich, »aussprechen, daß ich denke, so Manchem werde trotzdem das Schlechte nicht zur Gewohnheit, das Gute nicht zum Ueberdruß? Daß ich zum Beispiel die Ueberzeugung hege, Grillparzer's Dichtungen werden uns nie leid werden?« »Wir wollen das in Ruhe abwarten,« entgegnete der Poet, »es würde mich für meine einstmaligen Landsleute freuen, wenn ihnen nichts Schlimmeres widerführe. Möchten sie wenigstens die Sprache, die mir zu Gebote stand, in der ich Spuren meines Daseins hinterließ, so hoch halten, wie es sich gebührt – die Sprache, diese klanggewordene Seele eines Volkes. Wehe dem Volke, dem sie nicht das Theuerste bleibt!« Sprach's und entschwand meinen Blicken.

Quelle:
Hiller, Ferdinand: Erinnerungsblätter. Köln 1884, S. 198-202.
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