Die Verpflegung.

[50] Es war am Abend des ersten Tages, den ich im Untersuchungsgefängnis zubrachte. Ich saß frierend auf der harten Holzbank zusammengekauert, die hier die einzige Sitzgelegenheit bildete, und grübelte über mein Schicksal.

Da wurde es plötzlich im Gange lebendig. Es konnte gegen 1/2 8 Uhr sein. Kommandostimmen erschallten, und alsbald vernahm ich ein stoßendes Geräusch,[50] wie wenn schwere Gefäße auf den Boden gesetzt werden. Es waren, wie mir bald klar werden sollte, die großen vollen Speiseeimer, die die Ältesten, mit der Abendsuppe gefüllt den Gefangenen zutrugen. Türen wurden auf- und zugeschlossen. Bald öffnete sich auch die meine, und es erschien wieder die große starke Aufseherin, mit ihr aber die ältere Frauensperson, die bei meiner Einkleidung hilfreiche Hand geleistet hatte. Sie trug einen großen schweren Blecheimer. den sie vor meiner Tür niedersetzte und sich anschickte, mit einer bereitgehaltenen Schöpfkelle Suppe für mich auszutun.

»Geben Sie Ihre Schüssel her!« sagte die Aufseherin kurz, aber nicht unfreundlich.

»Ich danke sehr, ich will nichts haben,« antwortete ich höflich aber fest.

»Keene Suppe?« meinte die Älteste kopfschüttelnd, als gehe das über ihre Fassungskraft.

Aber die Aufseherin ließ ihr nicht viel Zeit für ihre Verwunderung.

»Na, dann weiter!« befahl sie kurz und schloß die Tür, während die Älteste mit ihrer verschmähten Suppe abzog und sich der nächsten Zelle zuwandte.

In meiner lebensfeindlichen Stimmung gab ich wenig Obacht, was uns eigentlich als Abendkost geboten wurde. Aber sehr verlockend sah der graugelbe Inhalt des vorgehaltenen Eimers gerade nicht aus.[51]

Dagegen erinnere ich mich noch sehr deutlich, daß mir die saubere weiße Schürze der Aufseherin, die reinlich aussehende Älteste, überhaupt die ganze Art, in der hier das Essen verabreicht wurde, trotz meines apathischen Zustandes gegen das Vorhergehende einen entschieden appetitlichern Eindruck hervorrief,

Später, nachdem ich durch die unermüdlich rastlosen, wirklich anerkennenswerten Bemühungen der Vorgesetzten von meinen Selbstvernichtungsgedanken abgebracht worden war, habe ich die Gefangenkost gegessen und für meinen allerdings unverwöhnten Gaumen gar nicht so schlecht befunden. Ich hatte mir früher eine wenngleich unklare, so doch bei weitem schlimmere Vorstellung davon gemacht. War auch das Essen minder gut als hernach in X., so mußte es doch gegen die Art der Beköstigung im Polizeigefängnis beinahe luxuriös genannt werden. Zwar die Mehlsuppe, die uns zumeist früh und abends gereicht wurde, ist mir bis zuletzt höchst unschmackhaft erschienen, was jedenfalls an der Zubereitung lag. Sie war selten gar gekocht und hatte daher einen rohen, pappigen Geschmack.

Das mag wohl hauptsächlich von der großen Hast herrühren, mit der man hier alles betreibt. Allerdings wird die Küche nicht von Untersuchungsgefangenen bedient. Vielmehr rekrutieren sich alle dienenden Gefangenen, unter ihnen auch die »Ältesten«[52] aus den bereits oben erwähnten »kurzhaftigen« Strafgefangenen, sodaß die dieser Abteilung vorstehenden Aufseherinnen mit Vorführungen nichts zu tun haben. Dennoch herrscht auch hier keine Stetigkeit, eben weil die Strafzeit dieser Gefangenen nur kurz, somit das zu Gebote stehende Küchen- und Wirtschaftspersonal öfterem Wechsel unterworfen ist, was natürlich immer ein neues Anlernen und Einrichten erforderlich macht In der Strafanstalt sind im Gegensatz hierzu gerade für die wirtschaftlichen Arbeiten meist Strafgefangene von sehr langer Dauer vorgesehen. Die dadurch erzielte Stetigkeit aller solcher Verrichtungen wirkt besonders angenehm bei den Ältesten, die – um das hier gleich zu bemerken – im Untersuchungsgefängnis wie in der Strafanstalt dienende Sträflinge sind, welche mit der Austeilung der Kost an die in Zellen untergebrachten Gefangenen, dem sogenannten »Ausspeisen«, sowie mit Scheuern der Gänge und Treppen, oder auch mit dem Dienst beim Baden – die »Badeälteste« – betraut sind.

Die Brotsuppe, die zuweilen mit der Mehlsuppe abwechselte, konnte man gleichfalls nicht sonderlich loben. Es wurden ihr, jedenfalls in wohlgemeinter Absicht Kümmelkörner in solcher Unmenge beigemischt, daß auf dem Boden der Schüssel meist ein dicker schwarzer Bodensatz blieb, der manchen Gefangenen[53] sogar Uebelkeit verursachte. Zudem wurde statt der Butter lediglich Margarine verwendet, die bei dieser Suppe in unverkochtem Zustande meist recht widerlich schmeckte. Mittags dagegen gab es Gemüse, von denen besonders die Hülsenfrüchte ziemlich gut zubereitet waren. Auch Möhren mit Kartoffeln erfreuten sich als Mittagsgericht großer Beliebtheit bei den Gefangenen, während die trockenen Gemüse immer etwas nach Talg schmeckten. Das Fleisch, das diesen Gemüsen bisweilen – gewöhnlich dreimal wöchentlich beigegeben wird, besteht aus dem sogenannten Geschlinge der Rinder, was in Massen gekauft und in kleine Würfel zerschnitten den Kochkesseln mit Gemüse zugesetzt wird. Da man alles mit Dampf kocht und reichlich Soda verwendet, so ist das Fleisch weich und zart, aber auch natürlich ausgekocht, fast- und kraftlos, weshalb ich geneigt war, es anfangs bei meiner gänzlichen Unerfahrenheit in derartigen Verhältnissen für Hühnerfleisch zu halten.

Kaffee gab es nur Freitags früh. Er wurde zu meinem Erstaunen in der Speiseschüssel verabreicht, schwarz und von so zweifelhafter Qualität, daß selbst fanatische Kaffeeschwestern kaum ein öfteres Erscheinen desselben vermissen konnten. Ich glaube mit der Annahme nicht fehlzugehen, daß man den reichlichen Kaffeesatz, der hier täglich abfällt, lediglich mit etwas Cichorienzusatz vermischt den Untersuchungsgefangenen[54] vorsetzte. Mir speziell war er trotzdem als Frühkost noch bedeutend angenehmer als die gewöhnliche unvergorene Mehlsuppe.

Das Brot, das den Gefangenen tagtäglich, natürlich trocken verabfolgt wird, ist kräftig und gut. Wer es nicht verträgt, oder wem es der Arzt verbietet, bekommt Zeilensemmel, selbstverständlich ebenfalls in trockenem Zustande. Es wird dann je nach Bedarf bis zu 12 Pfennige pro Tag und Person gegeben, mehr aber nicht. Bei Leuten, die an starkes Essen gewohnt sind, erfreut sich daher diese Art der Ernährung keiner besonderen Beliebtheit.

Dies alles aber erfuhr ich erst später. Fürs erste ließ ich in völliger Apathie die Dinge und Geschehnisse an mir vorübergehen.

Nachdem die abendliche »Ausspeisung« vorüber und wieder Ruhe eingetreten war, öffnete sich nach geraumer Zeit noch einmal die Zellentür. Die Aufseherin erschien und befahl der Aeltesten, den leeren Krug aus meiner Zelle zu entfernen. Dafür wurde mir ein anderer irdener Krug mit frischem Wasser gefüllt vor die Tür gesetzt, den ich hereinnehmen mußte. Darauf zeigte mir die Aelteste auf Anordnung der Aufseherin, wie ich das eiserne Feldbett herunterklappen, und früh wieder hochziehen und mit den starken eisernen Schließhaken an der Wand befestigen müsse.[55]

»So machen Sie es nun alle Tage,« belehrte mich die Aufseherin.

Ich aber entledigte mich vorschriftsmäßig meiner Kleidung was ich im Polizeigewahrsam aus einem unbezähmbaren Gefühl des Ekels stets unterlassen hatte, und legte mich auf meinem harten Lager zur Ruhe mit dem einzigen heißen Wunsche, daß es meine letzte Nacht sein, daß ich den Morgen nicht mehr erleben möge.

Begreiflicherweise schlief ich sehr wenig; auch das wenige wohl mehr aus einer gewissen Mattigkeit, die von dem tagelangen absoluten Nahrungsmangel entstanden war.

Die Strohmatratzen sind im Untersuchungsgefängnis weit weniger gut als im Strafhaus. Ihre Härte und Unebenheit dürfte wohl hauptsächlich in dem öfteren Wechsel der zeitweiligen Besitzer, sowie in der fürchterlichen inneren Unruhe ihre Ursache haben, von welcher diese zumeist beherrscht sind. Geschah es doch garnicht selten, daß ein Stück der Naht aufgetrennt, die Matratze selbst aufgeschnitten und mit Zetteln, mit vertrockneten Eßwaren und anderen ungehörigen Dingen angefüllt war, die Untersuchungsgefangene, oft halb sinnlos vor Angst, Sorge und Unruhe darin verborgen hatten.

Es kommen, wie wir später sehen werden, mitunter ganz ungeheuerliche Dinge bei den Inhaftierten[56] vor, von denen sich Uneingeweihte nicht im mindesten eine Vorstellung machen können, die sich indessen zum größten Teil aus dem Seelenzustande der Eingekerkerten erklären lassen. Dadurch wird von der eigentlichen Wesenheit des Gefangenen oft ein so unzutreffendes Bild hervorgerufen, daß man in den meisten Fällen, von schweren und gefährlichen Verbrechern abgesehen, den Wert und Nutzen der Untersuchungshaft und der durch sie dem Staat erwachsenden großen Kosten füglich bezweifeln muß. –

Nun gehört es allerdings zu den Obliegenheiten der Aufseherinnen, alle Defekte an den von den Gefangenen benutzten Anstaltsutensilien zum Zwecke der Herstellung sofort zu melden. Jedoch die vielbeschäftigten Beamtinnen nehmen diese ihre Pflicht meist nicht allzuschwer, die ihnen ohnedies durch den steten und raschen Wechsel ihrer Pflegebefohlenen zuweilen fast unmöglich gemacht wird. So wird hier tatsächlich viel unvorteilhafter gewirtschaftet als in den Strafanstalten, wo in allen solchen Dingen schon durch die strenge Disziplin weit mehr Ordnung herrscht.

Trotz meines gegenteiligen Wunsches erlebte ich den nächsten Morgen und noch so manchen im Landgerichtsgefängnis zu D.

Laut erschallte die Signalglocke, und obwohl sie mich nicht aus süßem Schlummer weckte, erschreckte[57] mich doch ihr ungewohnter Klang gar sehr. Rasch sprang ich von meinem Lager auf, hatte aber noch kaum die notwendigste Toilette beendigt, als draußen im Gange das Schlüsselrasseln und Türenschließen begann.

Der Tageslauf beginnt im Untersuchungsgefängnis erst um 6 Uhr morgens. Eine Viertelstunde zuvor wird dazu Signal gegeben. Dieser spätere Beginn und die geringere Strenge, mit der man das Fertighalten der Gefangenen beobachtet, gehören zu den sehr wenigen Milderungen, die die Untersuchungshaft vor der Strafhaft voraus hat. Sie fallen jedoch gegenüber den vielen tatsächlichen Härten, die vielleicht ungewollt und zum Teil unvermeidlich mit ihr verbunden sind, nicht schwer ins Gewicht.

Bald öffnete sich auch meine Zellentür, und es erschien wieder eine andere Aufseherin – der Nachtdienst, wie ich später erfuhr.

»Sie sind wohl erst eingeliefert?« fragte sie nicht unfreundlich, augenscheinlich meine hilf- und ratlose Verlegenheit bemerkend.

»Kehricht haben Sie da noch nicht. Sie kehren jeden Abend Ihre Zelle und setzen den Kehricht früh heraus. Jetzt geben Sie Ihren Wasserkrug her.«

So instruierte sie mich über meine Obliegenheiten. Ich mußte den Wasserkrug, der noch halbvoll war, wieder vor die Tür setzen, damit ihn[58] die Aelteste mit frischem Wasser fülle. Bei Verabreichung der Morgenkost wird er dann wieder hereingenommen.

Nachdem die Zellen wieder verschlossen sind, und die Aeltesten sämtliche Krüge der Gefangenen gefüllt haben, tragen sie in großen Blecheimern die Morgensuppe aus der Küche herbei. Es beginnt nun das »Ausspeisen«. Wieder wird jede Zelle einzeln aufgeschlossen und der Insassin die Frühkost gereicht. Auch vor meiner Tür macht man Halt. Derselbe Verlauf wie am Abend vorher. Angebot der Mehlsuppe; Weigerung meinerseits, Kopfschütteln von seiten der Aeltesten, der diesmal auch die Aufseherin sekundiert. Die Zelle schließt sich, und ich bin wieder mit meinen trostlosen Gedanken allein.

Lange dauerte jedoch meine mehr oder minder beschauliche Ruhe nicht. Das Schlüsselrasseln und Türenschließen, das man unaufhörlich im Gange vernahm, näherte sich jetzt auch meiner Zelle.

»Sie werden vorgeführt!«

Mit dieser Ankündigung erschien im Türrahmen abermals die kleine zierliche Gestalt der Aufseherin, die mich nach dem Bad hatte einkleiden lassen. Sie fixierte mich durch ihre goldene Brille ziemlich streng, sagte aber sonst kein Wort, sondern geleitete mich schweigend ins Erdgeschoß, wo aus einem großen Schranke an der Wand wieder eine solche dicke[59] schwarze Tuchjacke hervorgeholt wurde, in der ich fast verschwand, nachdem ich sie mit Hilfe der Aeltesten über den Leinenkittel gezogen. Eine zwar saubere, jedoch mit vielen großen Flickflecken versehene weite blaue Schürze wurde darüber gebunden. In diesem Aufzuge überantwortete man mich wiederum dem harrenden Vorführer, der mich auf dem bereits beschriebenen Wege ins Landgericht geleitete.

Über die verschiedenen Vorführungen, was sie bedeuteten und wie es mir dabei erging, werde ich in einem späteren Teile dieser Aufzeichnungen berichten.

Kaum hatte man mich zurückgebracht und in der Zelle eingeschlossen, als kurz nach 10 Uhr vormittags die Brotausteilung begann:

»Wieviel Brot? Ein Pfund oder mehr?«

Mit dieser kurzen Frage näherte sich mir wieder eine andere Aufseherin, nachdem sie die Zelle aufgeschlossen, indem sie der hölzernen Speisentrage, die die Älteste herbeitrug, ein mächtiges Brotstück entnahm.

»Ich danke! gar keins,« erwiderte ich höflich ablehnend.

Offenbar verwundert blickte mich die rundliche Frau – sie war in der Tat, wie ich später erfuhr, die einzige verheiratet gewesene, als junge Witwe auf diesen Posten gekommene Aufseherin – einen Augenblick an.

»Sie bekommen wohl Semmel?« fragte sie dann[60] und wollte schon nach einer solchen greifen, als ich auch dies dankend verneinte.

Darauf sagte sie nichts mehr, sondern schloß ohne weiteres die Tür.

Man mochte aber doch wohl in den Kreisen der Vorgesetzten meine konsequente Nahrungsverweigerung besprochen haben. Denn als bei der Mittagsausspeisung gegen 12 Uhr die gewöhnliche Aufseherin, ein Fräulein K., eine abermalige Ablehnung jeglicher Kost erfuhr, fragte sie halb ernst, halb ironisch:

»Sie wollen wohl verhungern?«

»Gewiß, Frau Aufseherin!« entgegnete ich in demselben Ton.

Sie zuckte die Achseln.

»Werden's schon satt kriegen,« bemerkte sie trocken und schloß die Tür.

Wie ich später erfuhr, sind dergleichen Weigerungen bei erstmalig Inhaftierten durchaus nichts Seltenes, doch in den meisten Fällen nicht von langer Dauer. Deshalb wurde auch wohl bei mir die Sache nicht so ernst genommen. Man hatte aber meine Zähigkeit unterschätzt.

Bei der Austeilung der Abendkost, die heute an einem Mittwochabende aus Käse bestand, bot mir die kleine zarte Aufseherin mit der Brille, ein Fräulein Fl., ein Stück Brot an, auf welchem ein länglicher[61] Kuhkäse lag, wie sie die Älteste auf dem Speisebrett herzutrug.

»Nehmen Sie doch! Es ist mal etwas anderes. Das macht Appetit!« sagte sie freundlich auffordernd, als ich wiederum ablehnend den Kopf schüttelte.

Und in der Tat machte es einen höchst appetitlichen Eindruck, wie die seine Frauengestalt mit ihren zierlichen weißen Fingern mir das Käsebrot entgegenhielt. Dennoch blieb ich fest bei meiner Weigerung, die ich artig dankend wiederholte.

Anderen Tages verhielt ich mich genau ebenso bei der Austeilung der Früh-, Mittag- und Abendkost, sowie der täglichen Brotration. Als aber der dritte Tag, ein Freitag, in gleicher Weise verging, da kam nach beendeter Mittagsausspeisung unsere gewöhnliche Aufseherin K. allein an meine Zelle.

»Sie müssen doch etwas essen,« sagte sie. »Das kann doch nicht so fortgehen. Wenn Ihnen unsere Kost nicht paßt, dann können Sie sich bei uns etwas anderes bestellen. Sie sind Untersuchungsgefangene und haben etwas Geld mitgebracht. Sie dürfen's nur sagen. Das tun Viele, die Geld haben. Das Essen wird dann aus einem Restaurant hier in der Nähe geholt. Was wollen Sie? Gänsebraten? Hasenbraten?« fragte sie in verlockendem Tone, um meinen Entschluß in's Wanken zu bringen.[62]

Dennoch gelang es ihr nicht, mich nachgiebig zu machen.

»Ich danke sehr, Frau Aufseherin!« sagte ich. »Ich bin Ihnen aufrichtig dankbar für die Mühe, die Sie sich geben. Wenn ich aber essen wollte und könnte, dann würde ich gern mit der Hauskost vorlieb nehmen. Ich habe mich nie verwöhnt und brauche nichts anderes. Das wenige Geld, das ich mitgebracht habe, würde ich niemals zu diesem Zwecke verwenden. Ich werde nicht eher etwas genießen, bis man mich aus der Untersuchungshaft entläßt.«

»Das kann aber lange dauern. Und wer weiß, ob Sie es noch erreichen.«

»Dann kann ich es nicht ändern.«

»Das halten Sie ja gar nicht aus.«

Stummes Achselzucken von meiner Seite. Darauf verließ die Aufseherin kopfschüttelnd die Zelle.

Die Selbstbeköstigung, die in der Tat den Untersuchungsgefangenen gestattet ist, falls sie bei ihrer Einlieferung einwandsfreies Eigentumsgeld besitzen, oder auch, wenn Anverwandte zu diesem Zwecke Geld für sie bei der Verwaltung einzahlen, wird in folgender Weise gehandhabt:

Der Gefangene bittet an besonders festgesetzten »Bestelltagen« zweimal in der Woche, ihm Mittagessen, Butter, Wurst, Milch oder auch Bier, das in Flaschen gegeben wird, zu bestellen. Die Kosten dafür[63] werden ihm von seinem bei der Kasse deponierten Gelde zur Last gerechnet. Die Aufseherin, bei der die Bitte angebracht wird, hat sich auf Wunsch der Gefangenen an der zuständigen Stelle zu erkundigen, ob noch genügend Geld für derartige Anschaffungen vorhanden, damit erforderlichen Falles für Ersatz gesorgt werden kann. Die bestellten Speisen und Getränke werden den Gefangenen außer den gewöhnlichen Ausspeisezeiten durch die ältesten zugetragen.

Außer dem Erwähnten dürfen die Untersuchungsgefangenen sich auch täglich zweimal ein Kännchen Kaffee bestellen, der aber in der Anstalt selbst zubereitet wird und zwar in wirklich tadelloser Beschaffenheit. Zu jedem solchen Kännchen extraguten Kaffees wird eine halbe Franzsemmel gegeben. Von dieser Erlaubnis machen die meisten Inhaftierten Gebrauch, falls ihnen nur einige Mittel zu Gebote stehen. Auch ich habe mir später wenigstens zeitweise solche Erquickung gegönnt.

Augenblicklich war es jedoch noch nicht so weit. Ich blieb vorläufig bei meiner absoluten Nahrungsverweigerung, die mir merkwürdigerweise keinerlei Beschwerden verursachte. Schon waren, die Tage im Polizeigewahrsam eingerechnet, volle neun Tage ohne jegliche Nahrungsaufnahme vergangen. Dennoch spürte ich durchaus keine Schmerzen, kann also das[64] bekannte Sprichwort: »Hunger tut weh!« nicht aus eigener Erfahrung bestätigen. Es kam dies vielleicht auch daher, daß ich fleißig Wasser trank, was jedesmal ein Aufstoßen der freiwerdenden Gase und damit das Gefühl der Sättigung hervorrief. So wurde ich nur immer matter und matter, und wäre wahrscheinlich einmal ganz still und schmerzlos eingeschlafen, wenn man mich hätte gewähren lassen. Das aber tat man nicht; durfte es auch wohl nicht. Im Gegenteil gaben sich die Vorgesetzten die denkbar größte Mühe, mich von meinen Selbstvernichtungsgedanken abzubringen.

Zunächst war es Fräulein K., unsere ständige Aufseherin, die ungeachtet ihrer etwas derben Art, die durchaus ihrer robusten Natur entsprach, keineswegs ohne Teilnahme war.

Sie hatte wohl erst geglaubt, die Nahrungsenthaltung werde bei mir ebenso wie in den meisten anderen Fällen nur eine kurze Episode sein. Als sie aber sah, daß ich konsequent dabei verharrte, wurde sie ernstlich besorgt. Eines Tages trat sie gleich nach vollendeter Mittagsausspeisung dicht vor mich hin.

»Warum essen Sie denn garnicht?« fragte sie in ernst mildem Tone. »Wenn Sie etwa was damit bezwecken, das dürfen wir nicht zulassen. Das muß ich melden.«

»Gewiß beabsichtige ich etwas damit, Frau Aufseherin,«[65] entgegnete ich fest und bestimmt. »Ich kann das Leben nicht mehr ertragen, ich will sterben!«

»Ja, das glaube ich wohl. Aber wir dürfen das nicht dulden. Ich muß Sie da zum Arzt melden,« war die einfache Antwort.

Keine Vorwürfe, kein weiteres Zureden. Nur verständnisvolle Anteilnahme und strikte Pflichterfüllung.

Später hat sie mir einmal zugestanden, daß auch sie den Verlust ihrer Ehre nicht zu überleben vermocht haben würde, daß auch ihr der Gedanke unerträglich gewesen wäre, die Mißachtung der Menschen auf sich ruhen zu fühlen.

Es begann nun ein stiller, aber hartnäckig geführter Kampf auf beiden Seiten. Die Aufseherin meldete die Sache zunächst der Obersten, worauf diese zu mir in die Zelle kam. Sie war diesmal weit milder und schien mich als Kranke zu betrachten.

»Warum essen Sie denn nicht?« fragte sie und fügte beinahe mütterlich mahnend hinzu: »Da müssen Sie doch sterben. Das werden Sie doch nicht wollen?«

»Vielleicht doch, Frau Oberaufseherin,« entgegnete ich höflich, aber bestimmt und etwas anzüglich.

Das verdroß die Beamtin sichtlich. Sie hatte auch wohl wenig Geduld und Verständnis für seelische Verstimmungen.[66]

»Es stirbt sich nicht so leicht,« sagte sie nicht ohne Schärfe, schloß die Zelle und ging davon.

Nun kam der Hilfsgeistliche zu mir, der Seelsorger der Frauenabteilung, ein noch ziemlich junger Mann mit der vollen idealen Auffassung seines Berufes, dennoch nicht ohne praktische Lebensklugheit. Diesem Manne habe ich sehr viel zu danken. Er hat mir durch seine verständnisvolle Behandlungsweise nicht nur mein Leben erhalten, mich von meinen Selbstvernichtungsgedanken geheilt, sondern mir überhaupt die so ungemein schwere und traurige Zeit meiner langen Untersuchungshaft ganz wesentlich erleichtert. Ueber das Wirken dieses vortrefflichen Menschen wird später in einem besonderen Kapitel eingehend die Rede sein.

Lange bemühte sich indessen auch der Pfarrer vergeblich, obgleich er sich keine Mühe verdrießen ließ und mich tagtäglich in meiner Zelle besuchte. Beurteilte doch auch er zuerst meine Nahrungsverweigerung rein pathologisch, als geistige Erkrankung, statt als Gemütsverstimmung.

So fragte er zuerst, ob ich glaube, daß die Speisen vergiftet seien. Ich mag wohl ein sehr erstauntes Gesicht gemacht haben, denn er beeilte sich, mir zu erklären, daß vor kurzem hier eine Frau diese krankhafte Einbildung gehegt habe. Man hatte sie in eine Irrenanstalt überführen müssen.[67]

Später gewann der junge Geistliche einen immer klareren Einblick in meinen Seelenzustand, und nach und nach gelang es seinen vernünftigen Vorstellungen, mich wieder zur Nahrungsaufnahme zu bewegen. Besonders betonte er stets, daß mein Lebensüberdruß mindestens verfrüht sei, da ich ja noch nicht wissen könne, ob man mich überhaupt verurteile. Er erzählte dann, um mich zu trösten, einige Fälle, wo statt der voraussichtlichen schweren Verurteilung eine vollständige Freisprechung erfolgte und mahnte mich, mir doch ja nicht durch willkürliche Lähmung meiner Widerstandskraft die Selbstverteidigung zu erschweren oder gar unmöglich zu machen. Dadurch erreichte der scharfe Psychologe seinen Zweck insofern, als ich selbst zu der Einsicht gelangte, es sei besser, vorläufig erst einmal abzuwarten, wie die Dinge sich weiter entwickelten. Konnte ich doch später noch immer tun, was ich wollte. Trost und Hoffnung waren wieder in mein gequältes Herz eingezogen, und so wurde es dem Arzt, zu dem man mich nun auch noch meldete, gar nicht schwer, was seinem ziemlich schroffen Wesen andernfalls wohl überhaupt nicht gelungen wäre, meinen Widerstand bezüglich der Nahrungsaufnahme vollends zu überwinden. Dies umsomehr, als er jedenfalls in Berücksichtigung des Umstandes, daß eine plötzliche Aufnahme der immerhin etwas schweren Gefängniskost nach so langer Fastenzeit schädlich[68] wirken könnte, mir leichtere Nahrung, Milch und Weißbrot verordnete. Die tägliche Milchration von 1/2 Liter ist mir bis zuletzt verblieben, obgleich ich später die Gefängniskost genoß und ganz gut vertrug.

So war die leibliche Verpflegung den Umständen entsprechend nicht gar so übel. Besonders wirkte die Milchverordnung bald merkbar wohltuend auf mein körperliches Befinden; wie denn überhaupt der Gerichtsarzt von allgemein anerkannter Tüchtigkeit in allen Fällen leiblicher Erkrankung war. In seelischer Beziehung dagegen wären die Gefangenen ohne den Pastor völlig verlassen gewesen. Sie waren es, nachdem der Hilfsgeistliche aus seinem Amte geschieden war, der andere Pfarrer aber sich mehr als geistlicher, denn als geistiger Führer und Berater der seiner Fürsorge Anbefohlenen erwies. Und doch erheischen bei den Untersuchungsgefangenen, besonders bei den erstmaligen gerade die seelischen Anforderungen oft weit dringender Befriedigung als die leiblichen, und Unbefriedigung in dieser Hinsicht wirkt nicht selten lähmend auf alle Körperfunktionen.

Quelle:
Hoff, Marie: Neun Monate in Untersuchungshaft. Erlebnisse und Erfahrungen, Dresden, Leipzig 1909, S. 50-69.
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